Profilbild von Helena89

Helena89

Lesejury Star
offline

Helena89 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Helena89 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.03.2020

„Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr.“

Goodbye, Bukarest
0

„Vielleicht geht es um Wiedererkennen, sagte ich, so wie man sich von gewissen Menschen angezogen fühlt, auch von gewissen Büchern, gewissen Bildern und gewisser Musik. Man erkennt etwas aus der eigenen ...

„Vielleicht geht es um Wiedererkennen, sagte ich, so wie man sich von gewissen Menschen angezogen fühlt, auch von gewissen Büchern, gewissen Bildern und gewisser Musik. Man erkennt etwas aus der eigenen tiefsten Tiefe wieder, etwas, was den Boden für all das bildet, was man ist.“

Auf diese magische Weise fühlt sich die Autorin, Astrid Seeberger, bereits seit ihrer Kindheit zu ihrem Onkel Bruno, den sie nur von Fotos kennt, hingezogen. „Als ich klein war und in meinem Bett lag, dachte ich oft an Bruno.“ Von Beruf Förster, war er im Zweiten Weltkrieg Pilot, von dem es hieß, er wäre in Stalingrad gefallen. Es stimmt auch, dass er über Stalingrad abgeschossen wurde, aber gestorben ist er damals nicht. Er starb erst im Jahr 1994 im Alter von 77 oder 78 Jahren auf deutschem Boden.

Selbst im Alter um 65 macht sich die Autorin auf die Suche nach Bruno. Sie beginnt ihre Suche da, wo ihre Mutter aufgehört hat - bei Dmitri Fjodorow alias Hannes Grünhoff, dem Sohn einer Deutschen und eines Russen, der in Berlin lebt. Dieser erzählt ihr sein ganzes Leben - im Vergleich zu ihrer Mutter möchte sie nicht nur von der Zeit hören, in der er Bruno kennengelernt hatte. Bekanntschaft mit Bruno machte er, als er im Alter von sechzehn Jahren zu sechs Jahren Zwangsarbeit in Kasachstan verurteilt wurde. Die einzigen beiden Häftlinge, die außer ihm auch Deutsch sprechen, sind Dinu, der Pianist aus Bukarest, und Bruno. Eine enge Freundschaft entwickelt sich zwischen den dreien und lässt sie die harte Zeit im Straflager überstehen. Als Bruno und Dinu ohne Dmitri schließlich zusammen nach Bukarest gehen, reißt er jeglichen Kontakt mit ihnen ab. Hier endet auch die erste Spur, die zu Bruno führt.

Astrid Seeberger reist nach Bukarest, wo sie jedoch nicht viel in Erfahrung bringen kann. Lediglich ein Musiker, mit dem sie spricht, erwähnt den Namen Wolfgang Müllers. Diesen verband eine kurze Liebschaft mit Dinu, einen wichtigen neuen Hinweis kann Wolfgang ihr liefern: Bruno hatte einen Sohn mit Naja, der Schwester Dinus. So sucht und findet die Autorin Jakob Seeberger in München, der nichts über die Familie Brunos wusste. Jakob erzählt ihr alles von seinem Leben mit seinen Eltern in Bukarest und dann von der Zeit mit Bruno und Dinu in Bayern. Abgerundet wird alles von Dinus Erinnerungen, die dieser vor seinem Tod auf eine CD aufgenommen hatte.

Wie überaus edel, großmütig und auch altruistisch ist es von der Autorin, Astrid Seeberger, dass sie ihre Geschichte und die Geschichten dieser Menschen - Dmitris und seiner Eltern, Dinus und seiner Schwester Naja, Brunos und Jakobs - mit uns, Lesern, teilt! Denn niemand von uns kann sagen, er wüsste bereits genug über den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach - bis zur Befreiung des Ostblocks vor der sowjetischen Übermacht. Und es sind doch immer die Einzelschicksale, die uns berühren, bestürzen, unser Herz zum Bluten bringen. Wir können immer nur vom Kleinen aufs Ganze schließen. Ein abstraktes Geschichtswissen - und ist es auch noch so umfangreich - bringt uns nicht als Menschen weiter. Und eins wird deutlicher als alles andere, was Lech, der Ehemann der Autorin, so wunderschön in Worte fasst: „Aber, sagte Lech, ist es nicht so, dass es etwas gibt, was uns möglich macht, unsere Bedrohtheit zu ertragen? Etwas, das uns die Hoffnung nicht aufgeben lässt, obwohl die Ruinenberge wachsen: diese erstaunliche Fähigkeit, die wir Menschen besitzen, füreinander Schutzräume zu errichten, mitten in aller Bosheit, mitten im Krieg und Unterdrückung. [...] Doch es gibt sie. Schutzräume, in denen wir das Glück verspüren können, das kleine störrische Glück. Obwohl es das Unglück gibt.“

Astrid Seeberger gibt uns mit „Goodbye, Bukarest“ ein Buch in die Hand, in dem mehrere Biografien, eingebettet in ihr eigenes Leben, zu finden sind. Sie, die mit siebzehn nach Schweden ausgewandert ist - „Ich wollte keine Deutsche sein. Ich wollte zu keinem Land gehören, das so Schreckliches verbrochen hatte.“ - zeigt uns wie wichtig es ist, für eine Sache zu brennen. Sie hat keiner Mühen gescheut, um alles über Brunos Leben herauszufinden, was im Rahmen menschlicher Möglichkeiten steht.

Danke, Frau Seeberger, dass Sie die Geschichte Brunos, die auch Ihre Geschichte ist, und die Geschichte vieler anderer - nicht zuletzt auch unsere Geschichte - in Ihrer sanften und doch so starken Sprache mit uns geteilt haben!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.03.2020

Interessant, aber nicht gleichermaßen überzeugend

Die Geheimnisse meiner Mutter
0

Rose Simmons wuchs ohne ihre Mutter auf, die Aufgabe beider Eltern trug stets ihr Vater, Matt. Ein Leben lang war Rose auf der Suche nach ihrer Mutter, Elise Morceau. Doch Matt ist ihren Fragen stets ausgewichen. ...

Rose Simmons wuchs ohne ihre Mutter auf, die Aufgabe beider Eltern trug stets ihr Vater, Matt. Ein Leben lang war Rose auf der Suche nach ihrer Mutter, Elise Morceau. Doch Matt ist ihren Fragen stets ausgewichen. Erst als Rose im Alter von fünfunddreißig Jahren selbst die Möglichkeit Mutter zu werden in Erwägung zieht, erzählt Matt ihr von der großen Bedeutung, die die Schriftstellerin Constance Holden in Elises Leben gespielt hat und gibt ihr zwei ihrer Bücher. Dabei ahnt er nicht, welche Entwicklungen er damit anstößt. Rose verschafft sich nämlich als Haushaltshilfe unter falschem Namen Eintritt in Constances Haus. Was Rose am wenigsten vermutet hat, tritt ein: Eine immer engere Freundschaft entwickelt sich zwischen den beiden. Als schließlich der Schwindel auffliegt, sind sie sich gegenseitig bereits so ans Herz gewachsen, dass die schreckliche Wahrheit eine neue Tür in ihrer Beziehung öffnet.

Jessie Burton hatte eine interessante, berührende, ja, geradezu bewegende Idee für ihren neuesten Roman „Die Geheimnisse meiner Mutter“, auf Englisch „The Confession“ – von beiden natürlich der bessere Titel. Auch das Coverbild von der Originalausgabe ist eindeutig schöner und faszinierender: Es zeigt ein türkisfarbenes Kaninchen, in dessen Innern sich eine rosenumrankte Frau versteckt. Das, was jeden Menschen im Laufe seines Lebens beschäftigt – die Frage nach der eigenen Identität, die Suche nach wahrer Liebe, der Versuch eine „Wahrheit“ für sich selbst zu ergründen – findet in Burtons 580seitigem Roman Platz. Auch Fragen, die sich nur eine Frau stellen kann, nämlich diejenige, ob sie Mutter werden möchte und was es eigentlich bedeutet Mutter zu sein, werden in dem Roman behandelt. Die für Jessie Burton typischen Themen, die uns bereits aus „Das Geheimnis der Muse“ bekannt sind, wie die Bedeutung der Kunst und wie sich Leben und Kunst gegenseitig beeinflussen, werden auch hier aufgegriffen und thematisiert.

Wie wir bereits aus ihrem Vorgängerroman wissen, ist Jessie Burton eine Meisterin darin über Geheimnisse und rätselhafte Geschehen zu schreiben. Sie beschäftigt sich mit Schicksalsschlägen, die das Leben ihrer Figuren prägen und verändern. Trotz interessanter Geschichte, der man mühelos und gespannt folgt, sowie vieler guter Gedanken, die man als Leser weiterspinnen kann, ist der Autorin meiner Meinung nach leider nicht gelungen, eine runde und überzeugende Geschichte zu konstruieren.

Was mich persönlich am meisten gestört hat, war die Figur der Constance Holden. Sie wurde als kreative, reflektierte und tiefempfindende Schriftstellerin in den auktorialen Passagen sowie in den Gedanken Elises dargestellt. In dem Erzählstrang von 1982/83 ist mir jedoch nicht eine einzige Stelle aufgefallen, in der Constances Gedanken und Taten von Reflexion, Kreativität oder Sensibilität gezeugt hätten. Im Gegenteil, ihre Aussagen sind oberflächlich und ihr Handeln prätentiös. Sie kreischt beim Anblick eines Filmstars, urteilt wie jeder Durchschnittsbürger über Kunst, die Welt und ihre Mitmenschen. [Außerdem wird sie auch als unablässig schaffende Autorin charakterisiert, dabei blickte sie mit achtunddreißig Jahren gerade mal auf zwei Romane zurück, was wahrlich nicht als unermüdliche Schaffenskraft angesehen werden kann.] Es sind vielmehr Elises Gedanken, die Ausdruck von Originalität, Gefühl und Nachdenklichkeit sind. Sie fühlt sich im Gegensatz zu Constance in der Welt des Scheins von Los Angeles nicht wohl und lässt sich nicht vom schönen Glanz blenden. Was mir auch gefehlt hat und was für die Geschichte essentiell ist, ist die Glaubwürdigkeit der Liebe zwischen Constance und Elise. So ist von Constances Seite nie das Gefühl der Liebe für Elise zu spüren, vielmehr wirkt sie entweder genervt oder von ihrer Präsenz beschwert, andernfalls behandelt sie sie ganz einfach mit einer Herablassung, die dem Altersunterschied von 16 Jahren geschuldet zu sein scheint. Es tritt bei ihrem letzten Gespräch mit Elise zudem eine derartige Kaltherzigkeit und Brutalität zu Tage, dass ich wirklich nicht nachvollziehen kann, wie Constance textintern von Rose sowie textextern vom Leser respektiert und bewundert werden kann.

Der Erzählstrang um Rose, der in London 2017 spielt, der mir deutlich besser gefallen hat, ist auch nicht immer überzeugend. Neben kleinen Fehlern und Ungereimtheiten, hat mich ganz besonders die Entscheidung Roses in Bezug auf ihre Schwangerschaft und das Austragen ihres Kindes überrascht und verwirrt – so habe ich aufgrund ihrer Gedanken und Gefühle ein anderes Ergebnis erwartet, als dasjenige, das tatsächlich eintraf. Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht oder auch andere Leserinnen diesen Eindruck hatten. Mir erschien dies jedoch als textimmanente Inkonsequenz von Seiten der Autorin, die natürlich ein gewisses Gefühl der Verwirrung und die Frage, ob ich denn den gesamten Roman missverstanden hätte, hinterlassen hat.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.03.2020

Liest sich wie eine Nacherzählung

Das Haus der Frauen
0

Laetitia Colombani hatte eine sehr interessante Idee für ihren neuesten Roman. Sie hat sich das Lebenswerk der von 1867 bis 1933 lebenden Heilsarmistin Blanche Peyron angeguckt, der Paris das dort stehende ...

Laetitia Colombani hatte eine sehr interessante Idee für ihren neuesten Roman. Sie hat sich das Lebenswerk der von 1867 bis 1933 lebenden Heilsarmistin Blanche Peyron angeguckt, der Paris das dort stehende „Palais de la femme“ zu verdanken hat – eine Institution, die obdachlosen und notleidenden Frauen Schutz bietet. Das Leben dieser großen Frau arbeitet die Autorin in ihrem Roman „Das Haus der Frauen“ auf. In einem parallel verlaufenden Erzählstrang, der im heutigen Paris angesiedelt ist, entwirft Colombani die fiktive Figur der Anwältin Solène, die nach einem erlittenen Nervenzusammenbruch die ehrenamtliche Tätigkeit eines „Öffentlichen Schreibers“ in dem Palast der Frauen aufnimmt. Auf diese Weise hofft sie ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben sowie sich selbst wiederzufinden. Sie ahnt noch nicht, wie sehr sie sich dabei auf die Schicksale der in dem Palast lebenden Frauen einlassen wird...

So ehrenhaft und lobenswert Laetitia Colombanis Vorhaben ist, so sehr scheitert es letztlich in der Umsetzung. Allem Anschein nach hat sie sich zu viel vorgenommen und allein deswegen konnte das Buchprojekt nicht gelingen. So versucht die Autorin auf gerademal 250 Seiten nicht nur die Geschichte von Blanche und Solène, sondern auch von einigen Frauen mehr zu schildern. Da ist die Serbin Cvetana, die vor dem Krieg in ihrem Land geflohen ist, da ist Binta, die mit ihrer kleinen Tochter Sumeya aus Guinea flieht, da ist die junge Cynthia, der man ihren Sohn weggenommen hat, da ist die Strickerin Viviane, die von ihrem Mann misshandelt wurde, da ist Iris, die sich eine neue Identität erarbeitet, da ist die Renée, die 15 Jahre lang auf der Straße gelebt hat und da ist die neunzehnjährige Bettlerin Lily – sage und schreibe acht Frauenschicksale, die auf minimalstem Raum Platz finden. Würde die Autorin zu den wortgewaltigen Schriftstellerinnen gehören, die mit Hilfe von nur wenigen Worten Wunder erschaffen, hätte ich nichts dagegen einzuwenden. Doch zu diesem Kreis ist sie bei weitem nicht zu zählen.

So sind die Romanpassagen um Solène oftmals sentimental und kitschig. Ihre Stimmung ändert sich häufig schlagartig und ohne ersichtlichen Grund. War sie im ersten Moment voller Zweifel, ist sie einige Sätze später fest entschlossen; war sie eben noch verzagt, ist sie im nächsten Moment voller Hoffnung. Auch derartig abgedroschene Phrasen wie „Abrupt bleibt sie stehen, wie ein Reh bei Nacht im Scheinwerferlicht auf einsamer Landstraße“ häufen sich in den Erzählsträngen, die Solène betreffen.

Im Versuch wiederum der Person der Blanche Peyron die höchste Ehre angedeihen zu lassen, flüchtet sich die Autorin derartig tief ins Pathos, dass kaum Raum mehr für wahre Ergriffenheit von Seiten des Lesers bleibt. Blanche ist in der Erzählung dermaßen über jeden Zweifel erhaben, dass die Bewunderung vom Leser mehr einem Zwang als einem inneren Bedürfnis gleicht.

Ein weiterer in meinen Augen schwerwiegender stilistischer Fehltritt ist die von der Autorin gewählte Erzählweise. Und zwar werden alle Frauenschicksale – auch dasjenige von Blanche und Solène – in dritter Person erzählt, gelegentlich wird auch das noch unpersönlichere „man“ verwendet. Direkte Rede fehlt fast gänzlich, wird sie hin und wieder verwendet, so ist sie durch Kursivschrift im laufenden Text markiert. Dabei wären die Einzelschicksale der Frauen doch bereits viel ansprechender, wenn sie in der Ich-Form erzählt worden wären. Die Erzählweise in der dritten Person erzeugt eine Distanz, die unmöglich von der Autorin intendiert worden ist.

Beim Lesen von „Das Haus der Frauen“ hat sich bei mir in der Summe das Gefühl eingestellt, als hätte jemand einen Roman gelesen, den er nun möglichst getreu nachzuerzählen versucht. Die Geschichte mag dieselbe sein, aber das Leben, der zündende Funke, der auf den Leser überspringt, das gewisse Etwas fehlt in der zweiten Version – dieser Version – gänzlich.

Mein Fazit: Eine schöne Geschichte, die aber leider mit den falschen Stilmitteln ausgestaltet, etwas unbeholfen erzählt und unnötigerweise mit Kitsch und Pathos garniert wurde.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.02.2020

Einstein, Göteborg und die Weltausstellung

Der Sommer, in dem Einstein verschwand
0

„Die Zukunft streckte einen Moment lang ihren Kopf durch den Vorhang und zog ihn wieder zurück, bevor jemand verstand, was man gesehen hatte.“

Wir schreiben das Jahr 1923, Europa befindet sich an einem ...

„Die Zukunft streckte einen Moment lang ihren Kopf durch den Vorhang und zog ihn wieder zurück, bevor jemand verstand, was man gesehen hatte.“

Wir schreiben das Jahr 1923, Europa befindet sich an einem Wendepunkt, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Umwälzungen finden statt. Für Schweden, insbesondere Göteborg ist es ein Jahr, das ganz besonders in Erinnerung bleibt – es ist das Jahr der großen Weltausstellung zum 300jährigen Bestehen der Stadt, zu der niemand Geringeres als Albert Einstein geladen ist, um anlässlich seiner Nobelpreisverleihung eine Rede zu halten. Unter den Besuchern der Weltausstellung befindet sich auch Paul Weyland, der bekanntermaßen Einsteins größter Widersacher und Feind ist. Dank eines glücklichen Zufalls kommt Ellen, die junge Volontärin bei der Zeitung „Krone und Löwe“, den fragwürdigen Motiven von Weylands Göteborgaufenthalt auf die Spur und kann mithilfe des jungen Kriminalkommissars Nils ein Verbrechen verhindern.

Fiktion, sei es ein Film oder ein Roman, die auf einer wahren Begebenheit beruht, ist beliebter als je zuvor. Auch Marie Hermannsons Roman „Der Sommer, in dem Einstein verschwand“ ist in die Reihe der Geschichten mit wahrem Kern einzugliedern. Ihr gelingt ein interessantes, farbenfrohes und stimmungsvolles Portrait der Zeit, die als Goldene 20er in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. Die Autorin setzt sich dabei nicht nur mit den Quellen zu der Weltausstellung auseinander, sondern auch mit der Person Albert Einsteins und dem damaligen Umgang mit seiner Relativitätstheorie. Dies waren auch die für mich interessantesten Stellen in dem Roman. Ich habe mich gerne zusammen mit der Autorin in Einstein eingefühlt und bin mit Interesse seinen Gedankengängen gefolgt. Mein persönliches Highlight war der Besuch bei seinem Forscherkollegen Niels Bohr, der ebenfalls den Nobelpreis für Physik bekommen hat, mit dem er sich derartig in Diskussionen vertieft, dass sie mehrmals die Haltestelle verpassen, an der sie aussteigen müssen, um zu Bohrs Haus zu gelangen. Marie Hermannson verfügt über einen leisen Humor, der hier und dort hervorschimmert. Alles in allem denke ich jedoch, dass sich die Autorin zu viel vorgenommen und nichts ganz zu Ende geführt hat. So ist der Roman eine Gesellschaftsstudie und Momentaufnahme der Zeit, doch das Bild bleibt zu blass und zu vage, um wirklich lebhaft vor dem Auge des Lesers zu entstehen. Er ist eine Kriminalgeschichte, doch ist der Fall um Paul Weyland viel zu vorhersehbar, um wirklich spannend zu sein. Auch ist er der Versuch ein Stück Lebensgeschichte des berühmten Physikers Albert Einstein einzufangen, doch auch hier flüchtet sich die Autorin zuweilen ins Oberflächliche und Nichtssagende. Auch die von der Autorin erfundenen Figuren, die abwechselnd zu Wort kommen, wie die bereits erwähnte Journalistin Ellen und der Kriminalkommissar Nils sowie der 13-jährige Otto, der mit der Eselin Bella eine der vielen Attraktionen der Weltausstellung darstellte, sind in unterschiedlichem Maße ansprechend. So fand ich persönlich die Passagen, die aus Nils Perspektive erzählt wurden, eher etwas fade. Auch einige kleinere Ungereimtheiten innerhalb der Geschichte selbst, auf die ich jetzt nicht im Detail eingehen möchte, haben meinen Lesegenuss insgesamt etwas getrübt.

Nun komme ich zum letzten Punkt meiner Kritik – der Übersetzung. Insgesamt liest sich die Übersetzung flüssig. Jedoch bin ich auf zwei Stellen gestoßen, die meiner Meinung nach in einem Buch eines derartig renommierten und seriösen Verlags wie dem Insel-Verlag nicht vorkommen sollten. So spricht auf Seite 104 ein Professor über Paul Weyland und sagt in diesem Zusammenhang: „Ich erinnere ihn nur aus dem ersten Jahr.“ So heißt es zwar im Englischen „I remember him...“, im Deutschen ist „sich erinnern“ aber immer noch reflexiv! Es kommt aber noch besser. Auf Seite 231 befragt der Kriminalkommissar Nils einen Kellner in Bezug auf Paul Weyland. Der Kellner stellt die Vermutung auf, Weylands Geschäfte liefen nicht gut, woraufhin Nils ihn fragt: „Was hat Sie das glauben gemacht?“ – dies ist kein Scherz, genau so steht es dort. Ich frage, was hat die Übersetzerin und den Verlag zu der Annahme verleitet, bei dieser Formulierung würde es sich nicht um eine Eins-zu-Eins-Übersetzung aus dem Schwedischen, sondern um korrektes Deutsch handeln?! In meine Bewertung des Romans sind diese Fehler nicht eingeflossen, da die Autorin an der Übersetzung ihres Romans keine Schuld trägt, doch haben mich diese Übersetzungsfehler wirklich schockiert.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.02.2020

Ein Stück Familiengeschichte

Die Bagage
0

Monika Helfer legt uns mit ihrem Roman „Die Bagage“ ein Stück eigener Familiengeschichte dar. Der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist ihre Großmutter Maria Moosbrugger, die vor allem für ihre außerordentliche ...

Monika Helfer legt uns mit ihrem Roman „Die Bagage“ ein Stück eigener Familiengeschichte dar. Der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist ihre Großmutter Maria Moosbrugger, die vor allem für ihre außerordentliche Schönheit bekannt war. Mit ihrem Mann Josef und ihren vier Kindern lebt sie am Rand eines Bergdorfs, als der Erste Weltkrieg ausbricht und Josef für Kaiser und Vaterland ins Feld zieht. In dieser Zeit gebiert Maria ein Kind, Grete, die Mutter der Autorin, doch bis heute weiß niemand, ob das Kind von Josef ist oder von dem aus Hannover stammenden Georg, den Maria auf einem Jahrmarkt kennenlernt...

Das dünne Büchlein ist schnell gelesen. Man folgt voller Neugier und Interesse den Schicksalswendungen der Familie, schließlich liegt es in der Natur des Menschen, sich für das Leben der anderen zu interessieren. Zuweilen bleibt man an einem klugen Gedanken länger hängen. Auch verspürt man ab und an einen Schmerz in der Brust, denn es ist eine ziemlich tragische Geschichte, die Geschichte von der Bagage und ihrer Nachkommen.

„Die Bagage“ – der Kategorie „Roman“ zugeordnet – ist eine bunte Mischung aus Tradiertem, Erdachtem und Persönlichem. Die Geschichte ist ansprechend und zuweilen berührend, aber nicht weltbewegend. Es ist die Art von Literatur, die ich eher in die Kategorie „für die Schublade“ einordnen würde – wichtig für die Autorin selbst, um ihre Vergangenheit und Herkunft zu verarbeiten, aber nicht unbedingt ebenso lesenswert für Unbeteiligte, also uns, die breite Leserschaft.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere