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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.09.2022

Wenn das Gewissen über den Verstand siegt …

Untrennbar zerrissen
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Georg ist jetzt Mitte vierzig, verheiratet, Vater zweier Mädchen und Schriftsteller. Tagsüber schreibt er Geschichten und Romane und, wenn es seine Gesundheit gerade erlaubt, versorgt er nebenbei noch ...

Georg ist jetzt Mitte vierzig, verheiratet, Vater zweier Mädchen und Schriftsteller. Tagsüber schreibt er Geschichten und Romane und, wenn es seine Gesundheit gerade erlaubt, versorgt er nebenbei noch seine Kinder. Vor vielen Jahren, als er gerade 18 war, geschah ein Unglück, bei dem sein kleiner Bruder sein Leben verlor. Georg fühlt sich schuldig an seinem Tod, sein Schmerz ist übermächtig, und er meint, er hätte es verhindern können. Er leidet seither an schweren Depressionsanfällen mit Angststörungen und ist ständiger Gast beim Psychologen und in Nervenheilanstalten. Sein Verstand sagt ihm zwar, dass er im Hier und Heute lebt, sein Gewissen jedoch führt ihn jede Nacht ins Damals zurück, ins Jahr 1991. In seinen sehr realen nächtlichen Träumen lebt sein Bruder noch und Georg versucht alles, diesen Zustand aufrecht zu erhalten …

Georg Haderer, geb. 1973 in Kitzbühel (Tirol) ist ein österreichischer Autor von Kriminalromanen. Nach dem Besuch des Gymnasiums in St. Johann (Tirol) und einem abgebrochenen Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Schuhmacher. Nebenbei jobbte er auch als Redakteur, Barkeeper, Landschaftsgärtner und Skilehrer. Heute lebt Haderer in Wien und arbeitet neben dem Krimischreiben auch als Werbetexter. „Untrennbar zerrissen“ ist sein erster autofiktionaler Roman über seine psychische Gesundheit und seine Rolle als Vater.

Wie geht man damit um wenn man glaubt, man hätte den Tod des Bruders verhindern können? Wie lebt es sich im Heute, wenn das Gestern zu sehr belastet und ein Morgen nicht mehr denkbar ist? Der Autor versucht diese Fragen zu lösen, indem er sich jede Nacht in selbsthypnotischen Träumen auf eine Zeitreise begibt. Er lebt wieder im Elternhaus, wird wieder zum Sohn seines Vaters und zum großen Bruder, erlebt Nacht für Nacht die Gedanken und Gefühle seines 18jährigen Ichs und weiß, dass sein kleiner Bruder schon bald ums Leben kommen wird. Wie Sisyphos mit seinem Stein, so kämpft Georg mit seinen Gefühlen.

Dass auch ein Autor von Kriminalromanen ausgezeichnete Literatur schreiben kann, hat Georg Haderer hier bewiesen. Schonungslos setzt er sich mit sich selbst auseinander, kehrt sein Inneres nach außen und zieht so seine Leserschaft in den Bann. Er nimmt uns mit in seine Parallelwelt, in die 1990er nach Kitzbühel zu seinen Eltern und in die Gegenwart nach Wien, wo er mit seiner Familie lebt. Dadurch entstand für mich eine subtile Spannung, ein Sog, der mich immer tiefer in das Geschehen zog und hoffen ließ, dass Georg letztendlich in der Lage wäre, das Unglück noch abzuwenden.

Fazit: Eine Biografie, ein autofiktionaler Roman, bei dem Realität, Fiktion und Illusion verschwimmen – großartig gemacht, sehr empfehlenswert!

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Fremde, eisige Welt

Das Lied der Arktis
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Uqsuralik war nur ein paar Meter vom Iglu ihrer Eltern entfernt, als mit ohrenbetäubendem Krachen das Eis brach und sie von ihrer Familie getrennt wurde. Zusammen mit dem treuen Familienhund Ikasuk, einem ...

Uqsuralik war nur ein paar Meter vom Iglu ihrer Eltern entfernt, als mit ohrenbetäubendem Krachen das Eis brach und sie von ihrer Familie getrennt wurde. Zusammen mit dem treuen Familienhund Ikasuk, einem Bärenfell als Schutz vor der Kälte und dem kleinen Messer, das sie ständig bei sich trägt, driftet sie auf einer Eisscholle in der Dunkelheit dahin. Sie weiß, um zu überleben muss sie in Bewegung bleiben, muss nach Robben jagen und auf Hilfe hoffen. Nach Tagen der Einsamkeit naht die Rettung - sie trifft auf einen anderen Familienclan und wird von ihnen aufgenommen. Doch auch da ist sie nicht in Sicherheit, es droht eine andere Gefahr …

Bérengère Cournut, geboren 1979 in Asnières-sur-Seine nordwestlich von Paris, ist eine französische Schriftstellerin, Übersetzerin und Lektorin. Sie schreibt seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr, zunächst Kinder- und Jugendliteratur, bevor sie ihre Liebe zur Anthropologie, zu fernen Welten und alten Überlieferungen entdeckt. Für „Das Lied der Arktis“ hat sie sieben Jahre lang die Lebensweise der Inuit recherchiert und deren Geschichte studiert. Das Werk wurde 2019 mit dem FNAC-Romanpreis ausgezeichnet.

Kein fantasievoll ausgedachter Roman, sondern eine realistisch anmutende Geschichte aus dem Leben der Inuit. Das Buch bietet ungemein spannende Einblicke in eine fremde, brutale, vergangene Kultur, die mir bis dahin völlig unbekannt war. Man erfährt das Geschehen aus Uqsuraliks Perspektive und ist somit hautnah dabei wenn sie auf die Jagd geht, Robben erlegt, ihre Bäuche aufschlitzt, das rohe Fleisch isst und ihr Blut trinkt. Wir erleben mit ihr Zeugung und Geburt, Krankheit und Tod - für die Inuit ganz natürliche Vorgänge – und erschauern, wenn die unberechenbare Natur wieder gnadenlos zuschlägt.

Zu erwähnen sind auch die Lieder der Inuit, deren Text immer mal wieder zwischen den einzelnen Abschnitten eingefügt ist. Sie behandeln das aktuelle Geschehen, die Träume und die Hoffnungen der verschiedenen Protagonisten, und erweitern somit unseren Blickwinkel. Ein Glossar mit den gebräuchlichsten indigenen Begriffen und zahlreiche Fotos über die Menschen, Tiere und Natur der Arktis, am Ende des Buches, bereichern die Geschichte und tragen zum besseren Verständnis des Gelesenen bei.

Fazit: Ein großartig recherchierter Roman, der durch seine bildhafte Erzählweise besticht und ganz nebenbei auch einiges an Wissen vermittelt. Sehr empfehlenswert!

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Veröffentlicht am 15.08.2022

Vom Traum zum Albtraum …

Das geträumte Land
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In seiner Heimat Kamerun sah Jende Jonga keine Chance, seiner Familie ein gutes Leben zu bieten. Deshalb reiste er mit Besuchervisum in die USA, wo er als Illegaler die ersten Jahre in New York mit verschiedenen ...

In seiner Heimat Kamerun sah Jende Jonga keine Chance, seiner Familie ein gutes Leben zu bieten. Deshalb reiste er mit Besuchervisum in die USA, wo er als Illegaler die ersten Jahre in New York mit verschiedenen Jobs das Geld für die Überfahrt seiner Frau Neni und ihres gemeinsamen kleinen Sohnes Liomi zusammensparte. Jetzt, nachdem er Asylantrag gestellt und eine vorläufige Arbeitserlaubnis erhalten hat, bekommt er durch einen glücklichen Zufall die Stelle als Chauffeur bei Mr Edwards, einem reichen Banker bei Lehman Brothers. Auch Neni bietet sich die Möglichkeit, für Mrs Edwards in deren Sommerhaus als Haushälterin zu arbeiten. Endlich scheint das Glück bei den Jongas eingekehrt zu sein, doch die Katastrophe lässt nicht lange auf sich warten. Lehmann Brothers geht Pleite, Jendes Asylantrag wird zunächst abgelehnt und Neni wird wieder schwanger …

Imbolo Mbue, geb. 1982 in Limbe (Kamerun), ist Schriftstellerin und besitzt seit 2014 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Mit 17 Jahren kam sie in die USA, wo Verwandte ihr Studium in New Jersey und New York finanzierten. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in der Marktforschung eines Medienunternehmens, verlor infolge der Finanzkrise ihre Arbeitsstelle und war danach 1 ½ Jahre arbeitslos. Sie spielte bereits mit dem Gedanken nach Kamerun zurückzukehren, als sie 2011 mit Schreiben ihres Debütromans „Behold the Dreamers“ begann. Als er 2016 erschien wurde er sofort als Überraschungserfolg gefeiert und Mbue erhielt dafür den PEN/Faulkner Award - die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Das geträumte Land“ erschien 2017. Heute lebt die Autorin mit Mann und Kindern im New Yorker Stadtbezirk Manhattan.

Wie aus der Vita von Imbolo Mbue unschwer zu erkennen ist, trägt ihr Debütroman einige autobiografische Züge. Dadurch ist sie in der Lage sowohl die Probleme, als auch die Erwartungen der Immigranten nachvollziehbar zu vermitteln und das perspektivlose Leben der Armen in Kamerun glaubwürdig darzustellen. Dass sie dabei neutral bleibt, weder die Bösen anklagt noch die Guten hervorhebt, ist nur von Vorteil. Sie verwebt einfach die Schicksale der beiden Familien miteinander, zeigt ihre Stärken und Schwächen, ohne den moralischen Zeigefingen zu erheben.

Die Geschichte ist chronologisch aufgebaut. Meist ist man als Leser bei den Jongas, sieht New York mit seinen Problemen aus ihrer Perspektive und erfährt in Rückblenden und Erinnerungen einige interessante Details aus der Stadt Limbe in Kamerun. Dazwischen nimmt man Teil am Leben der Familie Edwards und stellt fest, dass auch bei den Reichen so manches im Argen ist. Der Sprachstil ist etwas schlicht, jedoch gut und flüssig zu lesen. Der einfache Satzbau in den Dialogen ist wohl den Einwanderern geschuldet, die die Sprache des Landes noch nicht beherrschen. Die Charaktere sind anschaulich und exakt gezeichnet und wirken dadurch sehr realistisch in ihrem Handeln. Die Autorin hat ein besonders gutes Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen.

Fazit: Ein einfühlsamer und außergewöhnlicher Roman über die Sehnsüchte und Träume amerikanischer Einwanderer den ich gerne weiter empfehle.

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Veröffentlicht am 18.07.2022

Der außerirdische Ikarus

Der Mann, der vom Himmel fiel
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Er nannte sich selbst Thomas Jerome Newton, der seltsame dünne, große Mann, der eines Tages in Kentucky auftauchte. Was keiner wusste, er war vom Planeten Anthea geschickt, um die letzten, dort auf dem ...

Er nannte sich selbst Thomas Jerome Newton, der seltsame dünne, große Mann, der eines Tages in Kentucky auftauchte. Was keiner wusste, er war vom Planeten Anthea geschickt, um die letzten, dort auf dem verwüsteten Planeten verbliebenen Bewohner, zu retten und gleichzeitig die Erde vor dem gleichen Schicksal, der Zerstörung durch die Menschen, zu bewahren. Mit seinem immensen Wissen verdient er bald Millionen – und wird dabei immer menschlicher. Einsamkeit und Heimweh überkommen ihn, was er mit Alkohol zu betäuben versucht. Nur zu zwei Menschen hat er Vertrauen und regelmäßigen Kontakt, zu dem Wissenschaftler Nathan Bryce und zu seiner Haushälterin Betty Jo. Als er auch die Aufmerksamkeit von FBI und CIA erregt, gerät sein Leben immer mehr in Gefahr. Wird es ihm unter diesen Umständen gelingen, die Bewohner Antheas zu retten und die Menschen über das zukünftige Schicksal der Erde aufzuklären?

Der US-amerikanische Schriftsteller Walter Tevis wurde 1928 in San Francisco geboren und starb 1984, mit nur 56 Jahren, in New York an Lungenkrebs. Im Zweiten Weltkrieg diente er im Pazifik, beendete danach seine Schulausbildung und studierte an der University of Kentucky. Nach seinem Master-Abschluss unterrichtete er in verschiedenen Städten Englische Literatur. Zwischen 1956 und 1984 schrieb Tevis mehrere Romane, von denen einige verfilmt wurden. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in New York – in Richmond, Kentucky, erhielt er seine letzte Ruhestätte.

Mit der Neuauflage des Romans „Der Mann, der vom Himmel fiel“, der bereits 1963 in den USA erschienen ist, wurde der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Autor wieder entdeckt. Kaum zu glauben, wie er schon damals die Probleme der heutigen Zeit vorausahnte. Die Dummheit der Menschen hat sich nicht verändert, die Erderwärmung ist sogar noch fortgeschritten, die Ausbeutung der Ressourcen schreitet weiter voran, alles Andersartige wird verurteilt und wer Erfolg hat wird überwacht – bald wird es bei uns sein wie auf Anthea.

Ein düsteres Szenario, das dem Leser nach Beenden des Buches durch den Kopf geht, das zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Walter Tevis beschreibt exakt den heutigen bedauernswerten Zustand der Zivilisation, die Borniertheit der Gesellschaft und den vergeblichen Versuch, unsere Umwelt auch für die Zukunft erträglich zu gestalten. Ein Alien sucht Hilfe auf dem Planeten Erde und will ihre Bewohner vor ihren Fehlern warnen. Er hält der Menschheit den Spiegel vor, vergeblich? Der Schreibstil ist dabei sehr flüssig und eingängig, ideologische und ökologische Probleme sind treffend erfasst und die Thematik ist aktueller denn je.

Fazit: Eine starke Geschichte die aufrüttelt und zugleich nachdenklich und traurig stimmt.

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Veröffentlicht am 12.06.2022

Zwischen Tradition und Moderne

Wütendes Feuer
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Als Sängerin in einer kleinen Band gelang es der jungen Yingzhi Im ländlichen China der 90er Jahre, eine gewisse Freiheit und finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen. Doch durch eine unbedachte Affäre ...

Als Sängerin in einer kleinen Band gelang es der jungen Yingzhi Im ländlichen China der 90er Jahre, eine gewisse Freiheit und finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen. Doch durch eine unbedachte Affäre machte sie sich den Traum von einem selbstbestimmten Leben zunichte. Sie wurde schwanger und musste den Vater des Kindes, den arbeitsscheuen Faulenzer Guiqing heiraten und, wie es der Brauch war, in dessen Elternhaus ziehen. Er verspielte das von ihr angesparte Geld, mit dem sie ein eigenes Haus bauen wollte, so dass ihre Beziehung immer aggressiver und gewalttätiger wird. Als Yingzhi versucht sich daraus zu befreien eskaliert die Situation und gipfelt in einer Katastrophe, die nicht nur sie ins Verderben reißt …
Die 1955 geborene Autorin Fang Fang ist eine der bekanntesten chinesischen Schriftstellerinnen und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. Sie veröffentlichte in den letzten 35 Jahren eine Vielzahl von Romanen, Novellen, Kurzgeschichten und Essays, in denen meist die Armen und Rechtlosen eine große Rolle spielten. Fang Fang war verheiratet und ist Mutter einer Tochter. Der 1946 geborene Übersetzer Michael Kahn-Ackermann studierte Sinologie an der LMU München und in Peking, war 1988 Gründungsdirektor des Goethe-Instituts Peking und lebt heute in Nanjing.
Im chinesischen Original ist „Wütendes Feuer“ bereits 2002 erschienen, jedoch erst heute in deutscher Übersetzung erhältlich. Das mag zum einen daran liegen, dass die Sprache mit ihren blumigen, gestelzten Ausdrücken schwer zu übersetzen ist, zum anderen auch, dass man bei Literatur aus China politische oder kulturelle Kritik erwartet. Der vorliegende Roman spielt in der Zeit des Umbruchs vom sozialistischen System zur Marktwirtschaft. Die Städte füllten sich mit jungen Zuwanderern vom Land, zurück in den Dörfern blieben die Alten und die Armen. Die Belastung lag auf den Frauen. Sie mussten in der Landwirtschaft arbeiten, die Schwiegereltern versorgen, die Launen und Prügel des Mannes ertragen – und dabei noch Kinder bekommen.
Die Sprache ist geschmückt mit farbigen und bildreichen Ausdrücken, teilweise ist sie jedoch auch sehr derb, brutal und vulgär. Die Personen blieben mir allesamt fremd und ihr Verhalten war für mich meist unverständlich. Die Schilderung des Lebens innerhalb der Familie machte mich fassungslos und die ständigen Streitereien drückten aufs Gemüt. Ein Kreislauf aus Gewalt und Brutalität, aus Unterdrückung und Hoffnungslosigkeit, aus Trostlosigkeit und Verzweiflung, den man bis zum bitteren Ende aushalten muss. Sehr informativ ist das Nachwort des Übersetzers, das die sozialen und politischen Hintergründe erläutert und die Zusammenhänge verständlicher macht.
Fazit: Hoch interessante und informative Lektüre über China in den 90er Jahren – für sensible und empfindsame Personen nicht geeignet!

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