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Veröffentlicht am 27.02.2025

lesenswerter Roman zur deutschen Psychiatriegeschichte

Gespensterfische
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"Gespensterfische" ist ein Buch, das Kreise dreht, auch um sich selbst. Im Zentrum eine kaum zu Greifende Idee davon, was eine psychiatrische Anstalt ist. Dann, immer wieder, eindrücklich klare Momentaufnahmen: ...

"Gespensterfische" ist ein Buch, das Kreise dreht, auch um sich selbst. Im Zentrum eine kaum zu Greifende Idee davon, was eine psychiatrische Anstalt ist. Dann, immer wieder, eindrücklich klare Momentaufnahmen: das ist diese Klinik.

Das Thema, stilistisch wie inhaltlich: der Resonanzraum. Das erste Kapitel beschreibt den Ausgangspunkt, eine bestimmte Zeit, ein bestimmter Ort, bestimmte Personen. Davon aus kreist die Erzählung dann, durch die Zeiten dieser Klinik und durch ihre Menschen, deren Familien und kreist durch diese Menschen auch über die Anstaltswege hinaus. Erfahrungen, Gedanken, Gefühle stehen nebeneinander, überlagern sich, eben stilistisch tatsächlich wie ein großer Raum voller Stimmen. Als Gegengewicht die Klarheit der Bilder die Protagonistin Laura zeichnet.
Immer wieder war mir das zu viel - zu viele Zeiten, zu viele Personen mit ihren vielfältigen Verstrickungen - um den Überblick zu behalten und einen Sinn in der Erzählung zu finden. Aber, wie das beim Kreisen, bei Ellipsen, wohl so ist, kam es dennoch immer wieder zusammen, verbanden sich die Einzelteile eben doch immer wieder zu einem Bild, nur um dann kaleidoskopisch wieder auseinander zu fallen.
Emotional erging es mir genauso wie kognitiv, manche Kapitel haben mich tief berührt, komplett abgeholt, andere wirkten, zunächst, deplatziert. Zwischenzeitlich hat mich der große Fokus auf die psy*arbeitenden geärgert, auch die Gewalt blieb irgendwie doch umschifft. Aber genau dieses Umschiffen, die Beobachtung und eben doch subtil schonungslose Bloßstellung dessen, was das heißt, ist für mich im Verlauf zum Herzstück und großen Verdienst dieses Buches geworden. Da ist für meinen Geschmack vielleicht zu wenig Wut in der Erzählung, dafür aber fein sezierte Scham und Schuld.
Ich weiß nicht, wie das auf Menschen wirkt, die wenig historisches Vorwissen haben, denke aber schon, dass die konkreten Hinweise im Buch reichen müssten, um folgen zu können.

Insgesamt halte ich "Gespensterfische" für einen gelungenen Roman über die Psychiatriegeschichte, der voller zitierwürdiger Passagen zumindest der Vergangenheit kritisch begegnet.

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Veröffentlicht am 25.02.2025

Über Familie und Kinder, die pflegen

Die erste halbe Stunde im Paradies
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Ein Buch über pflegende Kinder. Düster, aber distanziert und gleichzeitig, voller Liebe. "die unerträgliche Gleichzeitigkeit unvereinbarer Gefühle." (s.250).

Anne und Kai sind Geschwister. In der Gegenwart ...

Ein Buch über pflegende Kinder. Düster, aber distanziert und gleichzeitig, voller Liebe. "die unerträgliche Gleichzeitigkeit unvereinbarer Gefühle." (s.250).

Anne und Kai sind Geschwister. In der Gegenwart ist Anne auf einem Pharmakongress als Kai anruft, weil er sonst niemanden hat, der ihn aus der Entzugsklinik abholen kann. In der Vergangenheit haben die beiden ihre Mutter gepflegt.
Aus Annes Perspektive erfahren wir, was das für eine Kindheit war. Aber Kais Anruf und seine plötzliche Wieder-Anwesenheit bringt Annes Funktionieren durcheinander.

Die Sprache spiegelt Anne's kühle Klarheit. An der Oberfläche ruht es still, darunter türmen sich die Emotionen.

Ich finde, es geht immer wieder um das Aushandeln von Würde. Der der Mutter, der der Kinder, der der Familie. Niemand gewinnt, niemand ist so wirklich im Unrecht, aber okay ist die Situation trotzdem nicht, auch Jahre später in der Gegenwart der Erzählung.

Wir dürfen als Lesende dabei sein, erstaunlicherweise fühlt sich diese intime Erzählung trotzdem sehr einladend an. Die Worte fließen, auch, wenn sich die Gefühle aufstauen. Das ist ein kleines stilistisches Wunder, wie leicht sich der Roman liest ohne dass inhaltlich etwas beschönigt wird.

Kinder, die pflegen sind, finde ich, selten Thema. Janine Adomeit nimmt sich der Thematik respektvoll und nuanciert an, das gefällt mir sehr.

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Veröffentlicht am 18.02.2025

Sehr gute Erklärung zu Autismus

Autismus, Trauma und Bewältigung
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Ich finde es schwer, dieses Buch insgesamt zu bewerten. Der erste Teil, in dem es nur um Autismus ging, war sehr gut, die kleine Einführung in Trauma ebenfalls gut. Dann kam das Zusammendenken von Autismus ...

Ich finde es schwer, dieses Buch insgesamt zu bewerten. Der erste Teil, in dem es nur um Autismus ging, war sehr gut, die kleine Einführung in Trauma ebenfalls gut. Dann kam das Zusammendenken von Autismus und Trauma und hier war das Buch meiner Meinung nach am Schwächsten.

Brit Wilczek schreibt grundsätzlich wohlwollend über autistische Menschen, etwas, was wir von Fachbüchern nicht gewohnt sind. Auch beziehen Ihre Beschreibungen und Erklärungen neuere wissenschaftliche Überlegungen zum Thema ein und berücksichtigen Schwierigkeiten die aufgrund der Unterschiedlichkeit zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen zustande kommen. Immer wieder ergänzen graphische Veranschaulichungen den Text. Insgesamt liest sich dieser Teil gut und leicht.
Wilczek hat sehr viele Aspekte des autistischen Seins berücksichtigt, die mir wichtig sind, die ich aber normalerweise nicht in Fachbüchern finde. Ich hatte an der ein oder anderen Stelle das Bedürfnis sie zu ergänzen, wenn sie nämlich doch in einem wohlwollenden pathology paradigm stehen bleibt, statt qualitativ eigenes autistisches in Betracht zu ziehen. Auf einer ganz subtilen Ebene steht hinter dem Wohlwollen keine Gleichberechtigung.
Nicht-autistische Menschen werden gefordert, aber in ihrer grundsätzlichen Haltung von Autismus als dem Anderen und ja, auch dem Abweichenden und Pathologischen bestätigt. Es gibt viele Nebensätze, die die Schuld von Angehörigen zu lindern wissen, die die Komponente des autistischen Sein betonen. Für Angehörige scheint das einen fruchtsamen Boden für eigene wohlwollende Beschäftigung mit ihren autistischen Angehörigen zu bieten, sie scheinen so tatsächlich gut verstehen zu können, was Wilczek ihnen über Autismus erklärt.

Der Teil zu Trauma allgemein war gut, aber da gibt es eine Vielzahl weiterer, tieferer Bücher.
Enttäuscht war ich vom letzten Teil, der Autismus und Trauma in Verbindung bringen will. Es geht sehr viel um die Differenzialdiagnostische Abgrenzung von Autismus und früher Traumatisierung. Es geht dann viel um die Begleitung der Diagnostik- und Nach-Diagnose-Phase. Das ist wichtig, keine Frage. Und die lebensgeschichtliche Verarbeitung die in diese Phase fällt als Traumaarbeit zu verstehen und zu framen ist durchaus sinnvoll.
Unter den sprichwörtlichen Tisch fallen leider die Autistinnen die zusätzlich mit Trauma klarkommen müssen, bei denen diese beiden Aspekte komplizierter verwoben sind. Wirklich konkretes, spezifisch auf Autismus durchdachtes, findet sich, leider, nicht. Keiner der Aspekte der mir aus meiner lived experience wichtig wäre wurde thematisiert, keine meiner Fragen beantwortet.
Dazu beschreibt Wilczek Autist
innen als geradezu übermenschlich resilient, ihre Beschreibung klingt schon etwas nach Inspiration-Porn. Zudem positioniert sie den neurodivergenz Begriff als Diagnose und auf Autismus bezogen bzw in Abgrenzung zu insb. Traumafolgestörungen. Das hat mich schlicht sehr geärgert.

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Veröffentlicht am 03.02.2025

Nachdenklicher thriller

Sing mir vom Tod
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Dieses Buch fühlt sich ein wenig an wie ein nicht zu fest gewebtes Tuch. Thematisch ist es eine Exploration von Gewalt und Weiblichkeit, von gewalttätigen Frauen. (wobei es sehr cis und zweigeschlechtlich ...

Dieses Buch fühlt sich ein wenig an wie ein nicht zu fest gewebtes Tuch. Thematisch ist es eine Exploration von Gewalt und Weiblichkeit, von gewalttätigen Frauen. (wobei es sehr cis und zweigeschlechtlich geschrieben ist).
Wir erfahren die Geschichte von Dios und Florida, die sich im Gefängnis kennen lernen und sich am Ende in Los Angeles gegenüber stehen. Es erzählen aber auch eine Zellengenossin die mit den Toten redet und eine Polizistin Aspekte dieser Geschichte, nicht nur Florida. Die verschiedenen Erzählperspektiven ergänzen sich gut, werden zu einem Chor.

Das Ganze spielt zur Zeit der offiziellen Pandemie, der Zeit von Abstandsregeln und shelter-in-place orders. Es ist mein erster Roman der in dieser jüngeren Vergangenheit spielt und ich war erst etwas skeptisch. Die Stimmung dieser Zeit fand ich aber sehr gut eingefangen und für den Roman sehr passend. Es herrscht eine Entfremdung, eine angespannte Ungewissheit vor, ein ZwischenRaum entsteht der die Thematik der Erzählung schärft.

Auch, oder gerade, weil das Ende von Anfang an in groben Zügen klar ist, ist dieser Thriller spannend. Es geht um das Nachvollziehen des Weges. Das Wie und Warum. Die Erzählweise überträgt das Gefühl von Dios getrieben zu werden auf mich als Leser.

Sprachlich pflegt Ivy Pochoda einen umgangssprachlichen Stil in den sie geschickt die größeren klassischen stilistischen Mittel eingewoben hat.
In der Handlung schwingt auch immer wieder die grundsätzliche Ebene mit, ohne, dass ich diese als zu dominant erlebt habe. Das philosophische fügt sich nahtlos in die Erzählung; Handlung und Reflexion gehen in einander über. Die sprachlichen Verflechtungen tragen dazu bei.

Meine Erwartungen hat "Sing mir vom Tod" übertroffen, die Mischung für mich sehr gut gepasst.

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Veröffentlicht am 25.01.2025

In Ägypten auf Spurensuche

What the River Knows. Geheimnisse des Nil, Band 1 (Knisternde historische Romantasy | Limitierte Auflage mit Farbschnitt)
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Dieses Buch ist unglaublich! Zunächst einmal sieht es so edel und schön aus, mit den Goldelementen im Cover und dem Farbschnitt. Und dann der Inhalt, die Geschichte! Ich wollte immer weiter lesen, nicht ...

Dieses Buch ist unglaublich! Zunächst einmal sieht es so edel und schön aus, mit den Goldelementen im Cover und dem Farbschnitt. Und dann der Inhalt, die Geschichte! Ich wollte immer weiter lesen, nicht einmal habe ich das Buch zugeklappt und diese Geschichte einfach vergessen. In einem durchlesen würde ich trotzdem nicht empfehlen, es gibt im Verlauf immer wieder Stellen, an denen eine Pause gut passt und die vielen Aspekte der Geschichte brauchen auch ein wenig Zeit. Zumal es über fünfhundert Seiten sind.

Unsere Hauptprotagonistin ist Inez, eine neugierige, tatkräftige, entschlossene junge Frau aus Argentinien. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Eltern reist sie ihnen nach Ägypten hinterher. Dort ist sie zunächst alles andere als willkommen, will sie doch der Bedienstete ihres Onkel, ein Mr. Witt, sofort wieder zurück schicken...

Das Buch hat eine witzige, kurzweilige Seite, insbesondere in der Beziehung zwischen Inez und Whit. Gleichzeitig ist der Tonfall der Beschreibungen im Buch warm und aufrichtig und, ja, fast schon weise. Die Charaktere haben alle eine Tiefe, die mitschwingt, auch, wenn sie nicht immer ausgeführt oder erst langsam erkundet wird. Aus der Erzählperspektive von Inez spricht eine aufmerksame Beobachtung. Mir gefällt es, wie ihre Art sich einzubringen facettenreich dargestellt wird. Natürlich beeindruckt mich Inez Stärke, Neugier, Waghalsigkeit. Genauso beeindruckend lerne ich aber zb Isadora kennen. Die beiden sind eben kein Widerspruch, sondern zwei Frauen auf ähnlichen Wegen in unterschiedlicher Gestalt.

Die kurzen Einschübe aus Whits Perspektive finde ich gut gewählt, ohne sie wäre die Dynamik zwischen ihm und Inez doch etwas undurchsichtig und einseitig. So sorgen sie dafür, dass ich in der Beziehung der beiden mitfiebere.

Die Spinnenwebenartige Entfaltung der Geheimnisse der Erzählung ist zu Beginn nicht so direkt spannend, wie es andere Geschichten sind, nimmt mich aber schnell sehr für sich ein und dann doch ordentlich Fahrt auf. Der Fantasy-Aspekt ist dabei unaufdringlich in den historischen Kontext eingewoben und insgesamt nicht dominant.
Lange bleibt das Rätsel, was Inez zu lösen versucht, eher bruchstückhaft und unkonkret. Sie lässt sich von ihren Gefühlen leiten ohne dabei ihren Verstand auszuschalten und die Fragen tauchen dadurch fast von selbst auf. Insgesamt fühlt sich die Geschichte beim Lesen für mich eher Charakter- und Setting-geleitet an, als das der Plot im Vordergrund stünde. Denn da sind die Beschreibungen Ägyptens die das Land aus den Buchseiten heraus entstehen lassen. Und da sind die Charaktere mit ihren verworrenen Gefühlen, Erfahrungen, Wünschen. Ich kann mich einfach in die Geschichte fallen lassen, mit Inez miterleben.

Die Geschichte stellt immer wieder mein Vertrauen in die Charaktere in Frage und je weiter es voran geht, umso spannender wird es alles. Das Ende passt sehr gut und zeigt deutlich wie und wohin sich die Geschichte entwickelt. Der Aufbau als Dilogie passt für mich, ich freue mich schon auf Band 2.


Hinweis zur Sensorik: soft-touch Cover
Hinweis zur Gestaltung: Grafiken und Schriftartenwechsel ("Handschrift"-Arten)

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