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Veröffentlicht am 26.06.2024

Harry Crews - Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen
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Harry Crews - Das Fest der Schlangen
(Festa Verlag)

- Southern Gothic Novelle voller Alkohol, Missbrauch und Gewalt -

Mystic, Lebeau County, Georgia, in einem November Mitte der 1970er Jahre. Die beiden ...

Harry Crews - Das Fest der Schlangen
(Festa Verlag)

- Southern Gothic Novelle voller Alkohol, Missbrauch und Gewalt -

Mystic, Lebeau County, Georgia, in einem November Mitte der 1970er Jahre. Die beiden muskelbepackten Prolls Joe Lon und Willard Miller, seine Freundin Hard Candy, ihre Schwester Berenice Sweet und der Rest ihrer Sippe sterben geradezu vor Langeweile, in diesem trostlosen Landstrich. Sie sind "absolutely lost" in ihrer eigenen, alkoholgefluteten Welt. Das alljährliche Klapperschlangenfest, das "Rattlesnake Round-Up" steht vor der Tür. Sehr zum Unmut des ehemaligen High-School-Vorzeigeathleten Joe Lon Mackey. Der morgige Tag würde erneut Hunderte, wenn nicht gar Tausende Festivalbesucher über seinen Trailerpark spülen. Bis vor etwas über einer Dekade war das Klapperschlangen-Festival eine rein lokale Veranstaltung gewesen, doch seit einigen Jahren verirrten sich immer mehr kaputte Typen von außerhalb auf Mystics Holy Ground, die das Rattlesnake Round-Up zu einer wahren Schlangengrube aus Tausenden Händlern, Künstlern, Kiffern, bekloppten Esoterikern und jeder Menge Chemie-Toilettenhäusschen verkommen ließen. Von Wut und Depressionen geplagt überspielt der impulsive und selbstzerstörerische Trailerpark- und Barbetreiber Joe Lon seine eigene Unzufriedenheit, indem er sich nahezu permanent in Alkoholexzesse flüchtet, sich selbst zu einem Monster hochstilisiert und ziemlich direkt, wie auch verletzend gegenüber seiner Frau Elfie verhält. Er weiß durchaus, dass es falsch ist seine Frau wie einen Straßenköter zu behandeln oder sie zu schlagen, doch kann oder will er sein Handeln nicht ändern. Statt Elfie würdevoll zu behandeln und ihr unter die Arme zu greifen, hängt Joe Lon einer vergangenen Liebschaft nach, besäuft sich nahezu täglich, um in diesem Zustand nebulöser, euphorisch verdrehter Gedanken, die Mutter seiner Kinder achtlos und gefährlich hart zu missbrauchen.

"Das Fest der Schlangen" wird von einem bösen Sarkasmus angeleitet, der da in roten Bahnen ungehindert aus Harry Crews Schreibgerät lief. Die Grundpfeiler seiner größtenteils authentischen Geschichte sind auf relativ tumbe Konversationen gebettet, die sich durch das whiskeygeschwängerte und gewaltdurchflutete Aerosol namens Luft beißen. Der 1935 in Bacon County, Georgia geborene und im Jahre 2012, im Alter von 76 Jahren verstorbene US-amerikanische Kultautor Harry Eugene Crews, galt zeitlebens selbst als alkoholabhängiger Exzentriker. Stets mit Armut und Gewalt konfrontiert, wuchs Crews im ländlichen Georgia auf und beschäftigte sich in seinen makabren und grotesken Werken, die gerne mal autobiografische Züge annahmen, häufig mit sonderbaren, geistesgestörten und asozial Charakteren. Mit einem bärbeißigen Charme aus Gewalt, Ironie, Sexismus, Widersprüchlichkeit, Missbrauch, Vergewaltigung und Rassismus, schuf der ehemalige Dozent für Literatur und kreatives Schreiben Harry Crews, eine raubeinige, psychologisch eingefärbte Satire, die dem Subgenre der Southern Gothic zugeschrieben wurde.

Während sein Vater "Big Joe" Mackey, in brutaler Manier Pitbulls auf Hundekämpfe vorbereitet, überkommen Joe Lon mit einem Mal erste Zweifel. Von Gewissensbissen geplagt macht er sich Gedanken über sein verkorkstes Leben, seine Streitsucht, seine verletzenden Worte und Taten, sowie die Dauerschleife, in der er unwiederbringlich festhängt. Darüber wird Joe Lon allmählich verrückt. Er ist vollkommen machtlos dagegen. Es brodelt tief in seinem Inneren und drängt nach draußen. Und so macht sich eine nervenverzehrende Tristesse in ihm breit. Joe Lon hat sein widerwärtiges Leben, unter dem alle anderen leiden müssen, so satt. Bis die Schwarze Lottie Mae, die nach einem hinterhältigen sexuellen Übergriff ziemlich neben sich steht, einen Tag vor der Schlangenjagd, zu drastischen Mitteln greift. Mit einem Mal stimmt das hochschaukelnde Chaos eine disharmonische Eigendynamik an, aus der es kein Entrinnen gibt. Alle sind plötzlich außer Rand und Band und allmählich bricht die pure Anarchie aus Joe Lon heraus.

Rassismus spielte in den Südstaaten schon immer eine tragende Rolle und so tauchen häufig entsprechende Szenerien und Begriffe in "Das Fest der Schlangen" auf. Der Festa Verlag hat diese absichtlich unverfälscht stehen lassen und das ist auch nicht mehr wie richtig so, da sie nun mal Teil des damaligen Sprachgebrauchs, der Klassifizierung, der Geschichte und der Kultur des Landes waren. Es ist allerdings kein harter, offensiv geführter Rassismus, sondern lediglich die "normale", gewissenlose Umgangsform, die damals und vielleicht selbst heute noch herrscht oder herrschte. Aber auch Alkohol-, Drogenmissbrauch, Sexismus und Gewalt gegen Tiere spielen eine tragende Rolle in Harry Crews literarischem Trip. Die Charakterzüge seiner Protagonisten sind weiß Gott unsympathisch herausgearbeitet. Jeder säuft, stumpfe Gedankengänge und plumpe Gespräche sind dabei an der Tagesordnung. Die skurrile Erzählung, die 1976 unter dem Titel "A Feast of Snakes" erschien, macht daher auch einen von Alkohol- und Drogen geschwängerten, leicht taumelig-benommenen Eindruck. Der Umgang untereinander mag auf unsere hiesige Gesellschaft einen befremdlichen Eindruck machen, doch diesen abgestumpften, leicht überzeichneten und degenerierten White Trash, dessen IQ nur in Ausnahmefällen oberhalb der Raumtemperatur liegen dürfte, ist sicherlich selbst heute noch in solch gedankenlosen Landstrichen zu finden. Crews, der zur Zeit des Koreakrieges im US Marine Corps diente, beschwört in "Das Fest der Schlangen" ein atmosphärisch-krankes Knistern herauf, das sich zum Schluss hin explosionsartig entlädt.

(Janko)

Brutalität/Gewalt: 57/100
Spannung: 24/100
Action: 31/100
Unterhaltung: 79/100
Anspruch: 10/100
Atmosphäre: 49/100
Emotion: 34/100
Humor: 22/100
Sex/Obszönität: 41/100

https://lackoflies.com" target="_blank">https://lackoflies.com - Wertung: 78/100

https://lackoflies.com" target="_blank">https://lackoflies.com - Altersempfehlung: ab 16 Jahren (aufgrund relativ expliziter Gewalt, Rassismus, Sexismus und Obszönität)

Harry Crews - Das Fest der Schlangen
Festa Verlag
Horror
Buchreihe: Festa Must Read – Band 57
ISBN: 978-3-98676-138-7
256 Seiten
Gebundene Ausgabe in der Festa-Lederoptik; mit Leseband
Originaltitel: A Feast of Snakes (1976)
Aus dem amerikanischen Englisch von Manfred Sanders
Erscheinungstermin: 28.05.2024
EUR 22,99 Euro [DE] inkl. MwSt.

Weitere Fromate:
ISBN eBook (epub): 978-3-98676-139-4
Erscheinungstermin: 14.05.2024
EUR 7,99 Euro [DE] inkl. MwSt.

"Das Fest der Schlangen" beim Festa Verlag: https://www.festa-verlag.de/das-fest-der-schlangen.html

Leseprobe: https://www.festa-verlag.de/mpattachment/file/download/id/720/

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Veröffentlicht am 17.06.2024

David Joy - Wenn diese Berge brennen

Wenn diese Berge brennen
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David Joy - Wenn diese Berge brennen
(Polar Verlag)

- sprunghaftes, aber emotionales Thriller- und Sozial-Drama -

Jackson County, North Carolina im Spätsommer 2016. Etliche Waldbrände wüten in den Appalachen. ...

David Joy - Wenn diese Berge brennen
(Polar Verlag)

- sprunghaftes, aber emotionales Thriller- und Sozial-Drama -

Jackson County, North Carolina im Spätsommer 2016. Etliche Waldbrände wüten in den Appalachen. Als der 1,95 Meter große und 150 Kilogramm schwere, ehemalige Hundezüchter Raymond "Ray" Mathis einen Anruf von seinem Sohn erhält, steckt dieser mal wieder in großen Schwierigkeiten. Ricky, der immerhin schon 41 Lenzen zählt und den Ray nur als "den Jungen" bezeichnet, nimmt sämtliche Drogen, die er kriegen kann. Von Gras über Schmerztabletten, bis hin zu Crystal Meth und Heroin. Augenblicklich befindet sich Ricky in der Gewalt von Drogendealern und braucht dringend Geld, sonst wird ihm Schlimmes widerfahren. Widerwillig fährt Ray zum angegebenen Geldübergabeort, zahlt den Schuldner aus und darf seinen brutal geschundenen, halbtoten Sohn in Empfang nehmen. Es war das letzte Mal, dass Ray für Ricky einsteht, schwört sich der Endsechziger und weiß im selben Moment, dass er sich damit einmal mehr selbst belügt. Seit Rays Frau Doris von ihm gegangen ist, hat sich der gebrochene Witwer immer tiefer in einer väterlichen Ambiguitätstoleranz verfangen.

Der US-Amerikaner David Joy, der heute in Tuckasegee, North Carolina lebt, bewegt sich in seinem Roman "Wenn diese Berge brennen" in einem trostlosen, schäbigen und drogenüberschwemmten Milieu voller Lügen, Betrug, Diebstahl und Gewalt. Tuckasegee ist eine nicht rechtsfähige Gemeinde im Jackson County, also dem County und Handlungsort in David Joys lebensnahen Plot. Die leidgeprüften, verschlossenen Bewohner des bergigen und mit etlichen Seen gespickten Landstrichs hat der, 1983 in Charlotte geborene Schriftsteller, nicht in erster Linie sympathisch, dafür aber mit viel Enthusiasmus und Einfühlungsvermögen gezeichnet. Es ist gerade diese verzweifelte Zwischenmenschlichkeit, mit ihrem von Ratlosigkeit, Melancholie und Traurigkeit durchzogenen Unterton, die einen Großteil der emotionalen Tiefe des Kriminalromans ausfüllt. Hierbei sind die Beschreibungen des Drogenkonsums von Rays Sohn recht deutlich aufgezeigt und explizit. David Joy bleibt straight und versucht nichts zu beschönigen. Er hat die Eindrücke der jeweiligen Kulisse ausdrucksstark herausgearbeitet und beschreibt die Welt aus Heroin, als hätte er selbst eine solche Sucht, mit beinahe all ihren Konsequenzen, durchgemacht.

Auf der Suche nach ein bisschen "H" treffen Breedlove, Turtle und Ricky auf Breedloves ehemaligen Arbeitskollegen Denny Rattler. In der sogenannten Outlet Mall, einer Ansammlung von Mobilheimen und Wohnwagen, werden sie fündig. Und so mieten sich die vier eine kleine Hütte auf dem Fort Wilderness Campground, um sich in Junkies Paradise zu spritzen. Nur dass sich der verrückte Ricky den Stoff direkt in den Hals jagt und augenblicklich in sich zusammensackt. Er ist am Endpunkt der Hoffnung. Selbst der, aus einem Polizeifahrzeug gestohlene Naloxon Autoinjektor, kann ihn nicht wieder zurück auf die Seite der Lebenden hieven. Ricky hat seinen letzten Atemzug ausgehaucht. Der Gedanke an den nächsten Schuss versiegelt das Gewissen und so machen sich Breedlove und Turtle schleunigst aus dem Staub. Lediglich der drogenabhängige Kleinganove Denny gibt der Polizei einen Hinweis. Als Ricky gefunden wird und sich sein, von Gewissensbissen geplagter Vater, von Deputy Leah Green zum Unglücksort bringen lässt, schwört sich selbiger, gründlich hinter sich aufzuräumen, damit Rickys Tod nicht umsonst gewesen ist. Doch Ray merkt recht schnell, dass man ihm bei der Polizei nicht weiterhelfen wird und so nimmt er kurzentschlossen das Gesetz, auf seine höchst eigentümliche Art, selbst in die Hand. Schon bald hat Ray nicht mehr nur die Bewohner der Outlet Mall gegen sich aufgebracht, sondern es mit unberechenbaren Gegnern zu tun, die nicht mehr viel zu verlieren haben. Als sich die DEA aktiv ins Geschehen einbringt, zerplatzt der aufgeblasene Ballon aus Bestechung, Korruption, Geldwäsche, Drogenhandel und Mord, wie eine Seifenblase.

Das 2020 unter dem Originaltitel "When These Mountains Burn" erschienene Werk besteht aus mehreren Handlungssträngen, die eine Zeitlang mehr oder minder lose nebeneinander herlaufen, bis sie der Mann aus Tuckasegee geschickt miteinander zu verflechten beginnt. David Joys Storyboard hätte allerdings gerne etwas ausführlicher und psychologisch durchdachter sein können, dann wäre der Roman zwar deutlich komplexer geraten, aber auch weniger sprunghaft in seinen Perspektivwechseln geworden. "Wenn diese Berge brennen" ist nur mäßig spannend und alles andere als actionreich, dafür wird hier das Zwischenmenschliche, in das es abzutauchen gilt, großgeschrieben. Bei der Lektüre der Mixtur aus Kriminalroman, Vater/Sohn-Geschichte, Drogenszenario, Thriller und Sozial-Drama lernt man so einiges "wissenswertes" über Rauschgift und seine User. In David Joys drogengeschwängerten Roman hat oder hatte nämlich gefühlt jeder mit irgendeiner Art von Stoff zu tun. Das ist für meinen Geschmack schon teilweise etwas too much. Auch das klischeehafte, dennoch authentische Bild der Native Americans, die von Armut ausgenutzt in Trailerparks hocken, saufen und sich harter Drogen hingeben, wird hier bedient, aber nicht missbräuchlich ausgeschlachtet. "Wenn diese Berge brennen" ist eine, nicht in erster Linie brutale, dennoch derbe Geschichte, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht!

(Janko)

https://www.facebook.com/DavidJoyAuthor
https://www.instagram.com/davidjoy_author/

Brutalität/Gewalt: 44/100
Spannung: 53/100
Action: 47/100
Unterhaltung: 85/100
Anspruch: 37/100
Atmosphäre: 61/100
Emotion: 53/100
Humor: 08/100
Sex/Obszönität: 11/100

https://www.lackoflies.com" target="_blank">https://www.lackoflies.com - Wertung: 84/100

https://www.lackoflies.com" target="_blank">https://www.lackoflies.com - Altersempfehlung: ab 16 Jahren (aufgrund der allgemeinen Thematik)

David Joy - Wenn diese Berge brennen
Polar Verlag
Kriminalroman
ISBN: 978-3-910918-00-9
288 Seiten
Taschenbuch, kartoniert
Originaltitel: When These Mountains Burn (2020)
Aus dem Amerikanischen von Sven Koch
Erscheinungstermin: 15.06.2024
EUR 17,00 Euro [DE] inkl. MwSt.

"Wenn diese Berge brennen" beim Polar Verlag: https://polar-verlag.de/my-product/david-joy-wenn-diese-berge-brennen/

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Veröffentlicht am 12.06.2024

David Grann - Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei

Der Untergang der "Wager"
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David Grann - Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei
(C. Bertelsmann Verlag)

- Zeitzeugenbericht eines albtraumhaft strapaziösen Himmelfahrtskommandos und eines ...

David Grann - Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei
(C. Bertelsmann Verlag)

- Zeitzeugenbericht eines albtraumhaft strapaziösen Himmelfahrtskommandos und eines Prozesses vor dem Kriegsgericht -

Wir schreiben das Jahr 1741, als ein vollkommen heruntergekommenes und zusammengezimmertes Boot mit 30 Mann Besatzung, in einer Bucht an der Südostküste Brasiliens anlandet. Bei den völlig entkräfteten, verwahrlosten und dem Tode naher Männer, handelt es sich um den kläglichen Rest einer Besatzung von 250 Mann, die am 23. August 1740 von Portsmouth, Großbritannien in See stachen. Ihr Auftrag lautete, eine mit Gold und anderen Kostbarkeiten beladene Galeere der königlich spanischen Armada zu entern und zu plündern. Am südlichsten Zipfel Südamerikas, am Kap Hoorn geriet die 1734 (eigentlich als Handelsschiff) gebaute Wager in einen heftigen Sturm, in deren weiteren Verlauf sie am 14. Mai 1741 um ein Haar sank und die Überlebenden für Monate auf eine unbewohnte Insel vor der Küste Patagoniens verbannte. Aus Wrackteilen der Wager bauten sich die Männer ein Boot, in dem sich 81 der Übriggebliebenen auf den beschwerlichen Weg machten, bewohntes Land zu erreichen. Die dreieinhalb Monate andauernde Fahrt besiegelte den Tod weiterer 50 Männer. Der Rest trotzte starken Winden, schwerem Seegang, Eisstürmen und Erdbeben, bis 30 von ihnen tatsächlich das brasilianische Festland erreichten. Als sechs Monate später drei weitere Männer in noch schlimmeren Zustand, in einer Art selbst zusammengeschusterten Einbaum mit zusammengeflicktem Segel, an der Küste Chiles angespült wurden, erhoben diese später, zurückgekehrt in ihrer englischen Heimat, schwere Vorwürfe gegenüber ihren übrigen Schiffsgefährten. Sie seien keine Helden, sondern Meuterer und Mörder. In den folgenden Auseinandersetzungen wurde klar, wie sehr die gestrandeten Männer der Wager auf der nach ihr benannten Insel leiden mussten. Kälte und Hunger zwang die ehemalige Besatzung, die sich provisorische Siedlungen errichteten, zu Plünderungen, Kämpfen, Mord und Kannibalismus. Für ein Land, das sich die Verbreitung der Zivilisation auch in den letzten Winkel dieser Welt auf die Fahnen geschrieben hatte, waren diese kriminellen Exzesse natürlich eine Schmach. Die Betroffenen trugen also gut daran, sich genau zu überlegen wie und vor allem was sie berichteten.

Für seinen exzellent recherchierten Zeitzeugenbericht "Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei" hat der 1967 geborene US-Amerikaner David Grann jahrelang die unterschiedlichsten Manuskripte, Zeitungsartikel, Aufzeichnungen der verschiedenen Besatzungsmitglieder, Log- und Tagebücher, persönliche Briefe, Mitschriften, Konstruktionspläne, Gerichtsakten, Aufzeichnungen der Admiralität und der Regierung, sowie diverse historische Berichte zusammengetragen und selbige studiert. Sogar eine dreiwöchige Reise nach Westpatagonien hat der Journalist, Redakteur des New Yorker und Autor Grann unternommen, die ihn selbstredend auch nach Wager Island verschlug. Dabei hat Grann, der gerne mal als regelrecht besessen bezeichnet wird, eine ausgezeichnete und informative historische Geschichte rund um die Vorbereitungen auf und um den Krieg zwischen der britischen und der spanischen Krone zusammengetragen. Diese trägt er mit der Euphorie und Haltung eines Zeitzeugen vor und bindet sie ansatzweise in die damalige Ausdrucksweise ein. Auf geradezu enthusiastische Weise bringt uns David Grann somit seine Einschätzungen über die Wager und das karge Leben an Bord näher, geht dabei aber auch immer wieder auf allgemeine Anekdoten der Schifffahrt ein. Lediglich die zahlreichen Anmerkungen innerhalb seines Textes sind eher störend als hilfreich, dienen allerdings auch eher zum Nachweis und zur Untermauerung seiner Aussagen, als zur Aufklärung oder Unterhaltung seiner Leserschaft.

Während das britische Empire, im Oktober 1739, Spanien den Krieg erklärte, um deren Vorherrschaft im Pazifikküste Südamerikas bis zu den Philippinen zu unterbinden, wartete der stämmige Schotte David Cheap, seines Zeichens Oberleutnant auf der Centurion auf deren Instandsetzung. Sie war Teil eines Geschwaders aus mehreren Kriegsschiffen, plus der beiden Tender Anna und Industry, die von dem als ehrlich und ehrenhaft geltenden Kommodore George Anson befehligt wurden. Doch die Monate in denen Cheap zur Untätigkeit verdammt war zogen ins Land, denn die Beplankung der Centurion war wurmstichig, die Segel zerfressen und der Fockmast durchlöchert. Sie lief bereits bei ihrer Ausfahrt aus der Themse auf Grund. Bei den anderen fünf Schiffen des Geschwaders, der nicht ganz 40 Meter messenden Wager, der Gloucester, der Pearl, der Severn und der Trial sah es hinsichtlich der Schäden nicht viel besser aus. So klagte Dandy Kidd, der 56 Jahre alte Kapitän der Wager, sein Schiff sei instabil, ja sogar eine Fehlkonstruktion. Keine wirklich guten Voraussetzungen für ihren Auftrag, Schiffe der Spanier auszurauben und zu versenken. Die schon vor ihrem Beginn zum Scheitern verurteilte Mission stand also unter keinem guten Stern. Bevor es überhaupt losgehen konnte, kam es zu Zwangsrekrutierungen, da sich keine freiwilligen Besatzungsmitglieder finden ließen. Und da es zu dieser Zeit keine Wehrpflicht im Lande gab, wurden alsbald drastische Maßnahmen herangezogen, um Seeleute zu gewinnen. Kriminelle wurden zwangsverpflichtet, ausgediente Seefahrer wieder in Dienst gestellt, Invaliden an Bord gebracht und jeder, der nur nach Seefahrt aussah, entführt und verschleppt. Es waren die Elenden unter den Elenden. So kam es zu Ausbrüchen von Krankheiten und etliche Seeleute türmten bevor es überhaupt losging.

David Grann beschreibt in seinem Werk ebenfalls die unterschiedlichen Besatzungsmitglieder, ihre Gepflogenheiten, ihre Eigenarten und ihre Herkunft, wobei die Unterteilung in Klassen an Bord längst nicht so viel Raum einnahm, wie an Land.

"Auf der Wager allerdings hatte sich eine außergewöhnlich hohe Zahl an widerspenstigen und streitlustigen Männern versammelt." Zitat S. 52

Während der Lektüre von David Granns intensiver Mischung aus Fakten und Erzählung, wird man sich der Gefahr, der Strapazen, der Schmerzen, der Sehnsucht nach der Familie, des Leids, der Krankheiten und des Todes, die während der großen Fahrt lauerten, gewahr. Wen das Fleckfieber, das von Läusen übertragen wurde oder der Skorbut nicht in die knochigen Arme des Sensenmanns führte, den erwarteten Stürme, Seeschlachten oder er wurde von dem albtraumhaft strapaziösen Himmelfahrtskommando, vom Hunger und dem kümmerlichen, entbehrungsreichen Leben in den Malstrom des Wahnsinns gezogen. In Granns Erzählung, die häufig aus der Sicht des britischen Seefahrers und Entdeckers John Byron verfasst ist, der seinerzeit als Fähnrich auf der Wager angeheuert wurde, schleichen sich schon mal weniger gängige Begriffe aus der Seefahrt ein.

Als das Geschwader Wochen später auf der brasilianischen Insel Santa Catarina ankam, um sich zu erholen und Proviant aufzunehmen, war bereits ein Gutteil der Besatzung Gevatter Tod zum Opfer gefallen, doch der gefährliche Part der Reise lag noch in weiter Ferne. Anhaltende Orkanböen, 30 Meter hohe Wellen und Wellentäler gespickt mit Eisbergen machten die 3.000 km entfernte Schiffspassage um Kap Hoorn zu einer der gefährlichsten Unterfangen der damaligen Seefahrt. Wenigen Seeleuten gelang zu jener Zeit die Umrundung des Kaps. Es war eine beschwerliche und verlustreiche Rundung, die letztlich zwar gelang, aber nur einige Wochen später zur Folge hatte, dass die Wager Schiffbruch erlitt, indem sie auf ein Riff auflief und sich nur wenige Überlebende auf die, später nach ihr benannte Wager Island in Westpatagonien flüchten konnten. Als die Vorräte immer knapper wurden, brachen sich Misstrauen, Aufsässigkeit, tumultartige Zustände, Wut, Verzweiflung, Streitereien, bis hin zu purer Anarchie Bahn, die nicht selten in Ungehorsam, Diebstahl, Verrohung, Meuterei, Mord und sogar Kannibalismus mündeten. Manche begannen gar zu halluzinieren und mit sich selbst zu sprechen. Behält man sich das beschriebene Ausmaß unter diesen Extrembedingungen und die Unfreiwilligkeit der Mission von Beginn an vor Augen, kann man den britischen Marineangehörigen ihr Verhalten eigentlich nicht zum Vorwurf machen. Doch genau das geschah zwischen Leere, Langeweile und Tristesse auf dem kargen Eiland bereits auf drastische, gar tödliche Weise. Doch, um vom Massengrab Wager Island fortzukommen, wollte ein Teil der Crew mit einem zusammengeschusterten Boot ca. 600 km nach Norden fahren (genauer gesagt nach Chiloé, um dort auf Commander Anson zu treffen), während es die restliche Besatzung vorzog 5.000 km zurückzufahren, um in Brasilien anzulanden. Beides waren absolut todesmutige Wagnisse. Tatsächlich schafften es 30 der 91 Überlebenden dreieinhalb Monate später in Brasilien anzulanden.

David Grann gibt einen höchst spannenden und lebensnahen Einblick in die damaligen Abläufe, dem sich wahrlich kein abenteuer- oder schifffahrtsbegeisterter Leser entziehen kann. Sein Augenzeugenbericht liest sich wie ein aufgebrachter Abenteuerroman. Mit Anekdoten aus der Seefahrt ausstaffiert, geht der Autor auf die Hintergründe und die Aufzeichnungen der Tagebücher ein, die so manch einem später vor dem Kriegsgericht zum Verhängnis zu werden drohten. Offensichtlich beschreibt Grann die Not, das Elend und die Verwahrlosung der gestrandeten Besatzung, die unter unmenschlichen Strapazen bis zur Selbstaufgabe kämpften, ziemlich detailgetreu. Der US-amerikanische Schriftsteller geht hierbei intensiv auf das brutale Siechtum ein und macht es so in Ansätzen erfahrbar oder zumindest nachvollziehbar. Das gilt allerdings nicht für das Militärgericht, das schon für Kleinigkeiten hohe Strafen vorsah, wenn sie auch selten Anwendung fanden.

„Die Kriegsartikel sahen auch für kleinere Vergehen wie das Einschlafen während der Wache die Todesstrafe vor, aber in der Praxis wurde oft davon abgewichen und eine weniger drastische Strafe ausgesprochen, wenn das Gericht es für vertretbar hielt.“ Zitat S. 330/331

Zurück in der englischen Heimat folgte, mit Beginn der Verhandlungen am 15. April 1746, ein denkbar kurzer Prozess mit erstaunlichem Ausgang. Auch auf Kommodore Anson, der ebenfalls schwere Verluste hatte hinnehmen müssen, geht Grann ein. George Anson konnte es nicht lassen und ließ sich sogar, trotz geschwächter und arg dezimierter Besatzung auf die unbarmherzigen Grausamkeiten kriegerischer Handlungen mit den Spaniern ein. Als die Centurion in England eintraf, wurden Anson und seine Crew mit Ruhm und Ehre überhäuft. Eine willkommene Ablenkung gegenüber der Schmach, den die Katastrophe um die Wager mit sich brachte.

Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio, die David Granns Vorgänger "Killers of the Flower Moon" erfolgreich verfilmten, haben sich auch die Rechte an David Granns neuestem Bestseller "The Wager" gesichert. Für mich wäre diese Adaption ohne Frage ein absolutes must-see!

(Janko)

https://www.davidgrann.com/
https://www.facebook.com/DavidGrannAuthor
https://www.instagram.com/davidgrann/

Brutalität/Gewalt: 45/100
Spannung: 70/100
Action: 43/100
Unterhaltung: 86/100
Anspruch: 47/100
Atmosphäre: 61/100
Emotion: 55/100
Humor: 05/100
Sex/Obszönität: 01/100

https://www.lackoflies.com" target="_blank">https://www.lackoflies.com - Wertung: 83/100

https://www.lackoflies.com" target="_blank">https://www.lackoflies.com - Altersempfehlung: ab 16 Jahren (aufgrund des historischen Verständnisses)

David Grann - Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei
C. Bertelsmann Verlag
Gesellschaft & Kultur
ISBN: 978-3-570-10546-7
432 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag (mit Karten und Farbbildteil)
Originaltitel: The Wager (2023)
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
Erscheinungstermin: 24.04.2024
EUR 25,00 Euro [DE] inkl. MwSt.

Weitere Formate:
ISBN eBook (epub): 978-3-641-31863-5
Erscheinungstermin: 24.04.2024
EUR 19,99 Euro [DE] inkl. MwSt.

ISBN Hörbuch Download (Ungekürzte Lesung mit Tobias Kluckert): 978-3-8445-5125-9
Erscheinungstermin: 22.04.2024
EUR 21,95 Euro [DE] inkl. MwSt.

"Der Untergang der Wager - Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei" beim C. Bertelsmann Verlag: https://www.penguin.de/Buch/Der-Untergang-der-Wager/David-Grann/C-Bertelsmann/e626705.rhd

Leseprobe: https://www.penguin.de/leseprobe/Der-Untergang-der-Wager/leseprobe
9783570105467.pdf

Hörprobe: https://www.penguin.de/content/edition/audiofiles/1083126.mp3

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Veröffentlicht am 30.05.2024

Alma Katsu - The Deep - Spuk auf der Titanic

The Deep - Spuk auf der Titanic
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Alma Katsu - The Deep - Spuk auf der Titanic
(Festa Verlag)

- atmosphärische Spuk- und Liebesgeschichte mit einer Essenz Gothic-Novel -

September 1916. Die 22-jährige Ausreißerin Annie Hebbley ist Insassin ...

Alma Katsu - The Deep - Spuk auf der Titanic
(Festa Verlag)

- atmosphärische Spuk- und Liebesgeschichte mit einer Essenz Gothic-Novel -

September 1916. Die 22-jährige Ausreißerin Annie Hebbley ist Insassin des Morninggate Asylum, in Byshore Mews, Liverpool, England. Dort ist sie auf ihren eigenen Wunsch untergebracht. Doch der Erste Weltkrieg tobt und die Betten für die Versehrten sind rar. Somit folgt sie auf Anraten des Leitenden Arztes Nigel Davenport, dem schriftlichen Aufruf ihrer Freundin Violet Jessop, auf der kürzlich zum Lazarettschiff umgerüsteten HMHS Britannic als Krankenpflegerin zu arbeiten. Die Britannic ist das Schwesterschiff der Titanic, auf der Annie und Violet, bis zu deren Untergang in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912, den sie beide glücklicherweise überlebten, bereits als Stewardessen gearbeitet hatten. Die Arbeit auf dem Hospitalschiff ist extrem. Mit nichts zu vergleichen. Annie muss sich erst an die jungen, verzweifelten Männer mit zerschossenen Gesichtern, amputierten Gliedmaßen und vom Senfgas verätzten Lungen gewöhnen. An Bord der Britannic lernt sie den Ersten Bordfunker Charlie Epping kennen. Er interessiert sich dafür, wie Annie den Untergang der Titanic überlebt hat und lässt sich von ihr berichten.

Nach dieser kurzen Einleitung springt die US-amerikanische Schriftstellerin Alma Katsu also vier Jahre zurück ins Jahr 1912 und somit zu den Geschehnissen auf der RMS Titanic, vor und während ihres Untergangs. Auf angenehme und wenig brutale Weise, vermischt sie Fakten mit Fiktion und nutzt dabei eine, der damaligen Zeit angemessene, aristokratisch angehauchte, aber leicht verdauliche Sprache. Dadurch erzeugt Alma Katsu eine angeregte und gemütliche Atmosphäre, mit einer Essenz Gothic-Novel. Auch die bildhaft ausgeführten Schilderungen der jeweiligen Schauplätze tragen dazu bei, dass ein emotionales und einfühlsames Gefühl des Behagens entsteht. Hier trifft die Stewardess der Ersten Klasse Annie Hebbley erstmals auf den jungen und attraktiven Mark Fletcher, seine Ehefrau Mrs. Caroline Fletcher, sowie seine wenige Monate alte Tochter Ondine. Annie fühlt Mark gegenüber eine anziehende Vertrautheit. Als würde sie ihn kennen. Daraus entbrennt eine unerbittliche Sehnsucht nach dem attraktiven, aber verheirateten Mann in Annie, die sich allmählich zu einer wahnhaften bis geisteskranken Obsession entwickelt. Eine merkwürdige, beinahe tödliche Anziehungskraft entwickelt auch Teddy, der Dienstjunge der First Class Reisenden John Jacob und Madeleine Astor, als er wie magisch vom Meer gerufen wird, auf die Reling der Titanic klettert und nur noch fallen will. Er wird in letzter Sekunde vom Pugilisten David "Dai" John Bowen von den Stahlstreben gepflückt.

"The Deep - Spuk auf der Titanic" schwenkt zwischen den Geschehnissen des Jahres 1912 auf der Titanic und denen von 1916 auf dem Schwesterschiff Britannic hin und her. Das 560 Seiten starke, fiktionale Psychogramm ist in erster Linie auf die Studien der einzelnen Charaktere ausgelegt und hauptsächlich aus der Sicht von Annie Hebbley, Caroline Fletcher, aber auch weiterer Passagiere verfasst. Während die abergläubische und von einem gefährlichen Gemütsleiden geplagte Annie mit einer beschwingten, tagträumerischen Melancholie agiert, lässt sich Caroline ausgelaugt, verwirrt und von Kopfschmerzen geplagt, häufig vom Moment tragen. Als sich Caroline gemeinsam mit dem Millionär Benjamin Guggenheim, John Jacob Astor, dem angeblich reichsten Mann Amerikas, samt seiner Frau Madeleine Astor, sowie der Modeschöpferin Lady Lucille Duff-Gordon und ihrem Mann Cosmo einer Séance in W.T. Steads First Class Kabine anschließt, wird der Geist angerufen, der zuvor den Dienstjungen Teddy um ein Haar in die See gelockt hätte. Während dieser Geisterbeschwörung, die der bekannte britische Journalist, Redakteur und Spiritist W.T. Stead leitet, erleidet der junge Teddy in der Kabine der Astors einen epileptischen Anfall, dem er erliegt. Die sonderbaren Vorkommnisse häufen sich. Aus den irrationalen bis wahnhaften Gedanken, dem wirren Handeln, Passagieren im Drogenrausch, Okkultismus und übernatürlichen Geschehnissen, formt Alma Katsu eine charismatische Spukgeschichte, die auch leidenschaftliche Liebesgeschichte auf vielerlei Ebenen ist. Ich muss allerdings zugeben, dass der Mittelteil für meinen Geschmack zu aufgebauscht und daher etwas überladen rüberkommt.

"The Deep" birgt ein metaphysisches Flair aus übernatürlichen Geschehnissen, sowie einer mystischen, geheimnisvollen und übersinnlichen, gleichwohl aber auch leidenschaftlichen Romantik. Das erklärt vielleicht, warum der lebendig und nah gezeichnete Roman, mit erstaunlich wenig Action und Spannung auskommt. Die transzendente Erzählung lebt vielmehr von der sonderbaren atmosphärischen Tiefe, der eingehenden Charakterstudien der damaligen High Society und der nervösen Stimmung, die Alma Katsu unter den Passagieren heraufbeschwört. Als Annie Hebbley vier Jahre später auf der Britannic als Krankenschwester ihren Dienst verrichtet, wird ein bewusstloser Patient in den großen Behandlungssaal geschoben. In ihm erkennt Annie Mark Fletcher, der Annies Meinung nach, den Untergang der Titanic nicht überlebt haben kann. Doch wie ist das möglich, dass er ihr hier auf der HMHS (His Majesty's Hospital Ship) Britannic begegnet, wenn er doch eigentlich tot sein müsste? Und wie soll sie ihm weiterhin begegnen, nachdem er sie vehement abweist? Erneut steigert sich Annie in einen krankhaften Wahn, der sie beide in den psychischen, wie physischen Abgrund zu ziehen droht. Alma Katsu, die heute mit ihrem Mann, dem Musiker Bruce Katsu, sowie den beiden Hunden Nick und Ash in den Bergen von West Virginia lebt, hat mit "The Deep" eine seltsam faszinierende und sogartige Wirkung auf mich ausgeübt. Ein bisschen düsterer und draufgängerischer hätte ihr zweiter Roman im Festa Verlag aber dann doch gerne sein dürfen.

Edutainment-Facts:
Die 1887 bei Bahía Blanca, Argentinien geborene Krankenschwester Violet Constance Jessop ist eine real existierende Person, die bereits auf der Olympic (dem ersten von drei Schiffen der Olympic-Klasse) gearbeitet hat. Bereits hier war sie in ein Unglück verwickelt, als die Olympic am 20. September 1911 mit dem britischen Kreuzer Hawke zusammenstieß. Beide Schiffe wurden schwer beschädigt, sanken aber nicht. Sie überlebte ebenfalls den Untergang der Titanic in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912, auf der sie damals arbeitete. Die Überlebenskünstlerin entrann auch das dritte Mal dem Tod, als die Britannic am 21. November 1916 auf eine deutsche Seemine auflief und in der Folge verschiedener Nachlässigkeiten und Fehlverhalten der Besatzung, nur 58 Minuten nach der Explosion sank. Hierzu führten unter anderem die, gegen ausdrückliche Order, zur Lüftung offen stehenden Bullaugen, sowie fatalerweise auch ein Schichtwechsel, bei dem die Crew gegen die Vorschrift verstieß, die Schiffsschotts stets geschlossen zu halten. Violet Jessop saß in einem der beiden Rettungsbote, die verbotenerweise noch während des laufenden Motors der Britannic zu Wasser gelassen wurden. Hierbei gerieten die beiden Rettungsbote in die noch rotierende Schiffsschraube der Britannic und wurden dort zerschlagen. Violet konnte sich im letzten Moment durch einen beherzten Sprung ins Wasser retten und wurde von einem der anderen Rettungsbote aufgenommen. Erst Jahre später erfuhr Violet, dass sie sich bei dem Sprung ins Wasser, bei dem sie mit dem Kopf gegen den Kiel eines der Rettungsboote schlug, eine Schädelfraktur zugezogen hatte. Violet Constance Jessop heiratete in den späten 1920er Jahren, wurde aber kurze Zeit später wieder geschieden. Sie starb am 05. Mai 1971 an einer Herzinsuffizienz. Violet Constance Jessop wurde 83 Jahre alt.

Weitere vorkommende Personen, in Alma Katsus Roman "The Deep - Spuk auf der Titanic", wie der britische Journalist, Redakteur und Spiritist William Thomas Stead, der Immobilienmakler und Geschäftsmann Colonel John Jacob Astor IV, sowie seine 18-jährige schwangere Frau Madeleine, der Industriemagnat Benjamin Guggenheim und selbstverständlich der Kapitän der Titanic Captain Edward John Smith haben ebenfalls einen realen Hintergrund. Die Hauptprotagonistin Annie Hebbley ist allerdings frei erfunden.

(Janko)

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Brutalität/Gewalt: 25/100
Spannung: 38/100
Action: 32/100
Unterhaltung: 82/100
Anspruch: 31/100
Atmosphäre: 65/100
Emotion: 57/100
Humor: 09/100
Sex/Obszönität: 09/100

https://www.lackoflies.com" target="_blank">https://www.lackoflies.com - Wertung: 75/100

https://www.lackoflies.com" target="_blank">https://www.lackoflies.com - Altersempfehlung: ab 14 Jahren (aufgrund der nicht allzu häufigen Brutalität und des einfachen Verständnisses)

Alma Katsu - The Deep - Spuk auf der Titanic
Festa Verlag
Horror/Thriller
Buchreihe: HORROR & THRILLER - Band 185
ISBN: 978-3-98676-114-1
560 Seiten
Paperback in der Festa-Lederoptik mit Umschlagklappen
Originaltitel: The Deep (2020)
Aus dem amerikanischen Englisch von Heiner Eden
Erscheinungstermin: 11.04.2024
EUR 16,99 Euro [DE] inkl. MwSt.

Weitere Formate:
ISBN Ebook (ePup): 978-3-98676-115-8
Erscheinungstermin: 13.03.2024
EUR 5,99 Euro [DE] inkl. MwSt.

"The Deep - Spuk auf der Titanic" beim Festa Verlag: https://www.festa-verlag.de/the-deep-spuk-auf-der-titanic.html

Leseprobe: https://www.festa-verlag.de/mpattachment/file/download/id/705/

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Veröffentlicht am 18.05.2024

Ray Nayler - Die Stimme der Kraken

Die Stimme der Kraken
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Ray Nayler - Die Stimme der Kraken
(Tropen Verlag)

- abstraktes und anspruchsvolles Essay über Kommunikation, Bewusstsein und neuronale Netze -

Bezirk 3, der Autonomen Handelszone Ho Chi Minh, irgendwann ...

Ray Nayler - Die Stimme der Kraken
(Tropen Verlag)

- abstraktes und anspruchsvolles Essay über Kommunikation, Bewusstsein und neuronale Netze -

Bezirk 3, der Autonomen Handelszone Ho Chi Minh, irgendwann in einer dystopischen, wenig schmeichelhaften Zukunft. Bei einem Geschäftsessen erzählt der ehemalige Tauchlehrer Lawrence einer Mitarbeiterin von DIANIMA, wie er und sein damaliger Kollege Son, während eines Tauchgangs zu einem Wrack im Archipel Con Dao, einen Kunden verloren hat. Jemand oder etwas hatte Selbigen im Wrack eingeklemmt und ihn seiner gesamten Ausrüstung beraubt. Des Atemreglers, der Sauerstoffflasche, der Tauchmaske. Jedes Mal, wenn Lawrence an den Vorfall dachte, war er sich sicher, dass nicht er etwas gesehen hatte, sondern dass vielmehr ihn etwas gesehen hatte. Drei Monate später ging die Evakuierung der Inselgruppe, samt ihres Wasserschutzgebietes los, auf der Lawrence zu der Zeit einen Tauchladen betrieb. Unmittelbar nach dem Geschäftsessen fällt Lawrence einem Anschlag zum Opfer.

In Zeiten von KI gesteuerten, autonomen Maschinen, Gesichts- und Stimmenabglanz, Sprengwespen, 3D-Projektionen, Palimpscreens, Rikscha-Drohnen, Flüssigkontrollsystemen und Nanoreinigern, wird Dr. Ha Nguyen zum Forschungsvorposten Con Dao eingeladen, um einen freilebenden, kommunikativen Oktopus zu studieren. Der internationale Technologiekonzern DIANIMA, kaufte die Inselgruppe, um den Forschungsstützpunkt zu errichten, der mit allen erdenklichen Mitteln verteidigt wird. Hier soll Dr. Ha Nguyen, gemeinsam mit dem KI-Androiden Evrim, dessen Künstliche Intelligenz die vollständige, wachsende Komplexität des menschlichen Geistes nachbildet, sowie der Sicherheitsbeauftragten Altantsetseg, Forschung an einem, im Schiffswrack vor Con Dao lebenden Oktopus betreiben, um die komplexe, vielschichtige Sprache der Kraken zu verstehen und zu erlernen. Mit einem Tauchroboter rücken sie dem Kraken immer wieder auf die Pelle, bis der Krake von sich aus an Land kommt und tatsächlich über Symbole mit ihnen zu kommunizieren beginnt. Doch wie werden sich diese Ergebnisse, wenn sie erstmals publik werden (mit all ihren gierigen, halsabschneiderischen und ausbeuterischen Folgeerscheinungen), auf die Population der Kraken an sich auswirken?

"Das Großartige und das Schreckliche an der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind." Zitat S. 50

Der 1976 in Québec, Kanada geborene Schriftsteller Ray Nayler, hat in seinem abstrakten und anspruchsvollen Essay "Die Stimme der Kraken", interessante technologische und neurologische Überlegungsansätze verarbeitet. Er stellt Fragen über Kommunikation, Bewusstsein und neuronale Netze. Was ist die genaue Definition von Bewusstsein, wie kann man es messen und wie kann man es nachweisen? Wo fängt ein Bewusstsein an? Was ist Sozialität? Wer hier allerdings einen waschechten Wissenschaftsthriller erwartet hat, wird bitter enttäuscht sein, denn "Die Stimme der Kraken" ist vielmehr eine philosophische Betrachtung mit esoterischem Sachbuchcharakter, eingebunden in ein vages Hard SF-Gewand. Nayler liefert durchaus interessante Gedankenspiele zur Gesamtheit von Körper, Geist und Seele, geht in seiner ausufernden Fantasie auf die Komplexität und Wertigkeit von Mensch und Tier ein, auf Ethik, Moral, Rechtschaffenheit, das Leben an sich und das Gewimmel aus programmierten Impulsen, die sich endlos wiederholen. Neuronen, Konnektome, KI. Was daraus letzten Endes erwächst, wie damit umzugehen, wie es zu regulieren, und wie damit zu leben ist. Der kanadische Autor vergleicht die Persönlichkeit und Kreativität des Individuums von Mensch, Tier und KI, vergisst darüber jedoch eine konsequente Handlung in seinem Roman aufzubauen und seinen Plot mit Leben zu füllen. Die gesamte Thematik wirft einen tiefen esoterischen Schatten und ist mir persönlich zu theoretisch umgesetzt, um ernsthaft Spannung oder einen dynamischen Flow zu generieren. Jedes Kapitel wird durch wissenschaftliche Aussagen, Blickpunkte oder Gedankenspiele aus den fiktiven Büchern von Dr. Ha Nguyen oder Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan eingeleitet, bietet letzten Endes aber wenig Neuerungen. In Naylers vielschichtigem Epos "Die Stimme der Kraken" geht es aber auch um die Rekonstruktion des Geistes, mit all seinen Erinnerungen, bis ins allerkleinste Detail, die erschreckend schnell voranschreitende Ausbeutung der Meere, um Ökonomie und Algorithmen, sowie die moderne Sklaverei der Arbeitswelt.

Eiko, der nach seiner Entführung aus der Autonomen Handelszone Ho Chi Minh, als Sklave auf dem KI gesteuerten Fischtrawler "Sea Wolf" arbeiten muss, wollte sich in Ho Chi Minh eigentlich einen gut bezahlten Job als Programmierer bei der Firma DIANIMA sichern. Nun muss er Fische ausnehmen und schockgefrieren. Tagein, tagaus. Ohne Aussicht auf ein Ende. Er und seine knapp 20 Kameraden werden von bewaffneten Söldnern beaufsichtigt. Eine Flucht scheint unmöglich. Sein Freund Son, ebenfalls Sklave auf dem autonomen Fischtrawler, erzählt Eiko von einem Seeungeheuer, das vor Con Dao immer wieder Menschen angegriffen und getötet hat. Das sei Sons Meinung nach auch der eigentliche Grund für den Kauf des Archipels durch die DIANIMA und der Grund für die Vertreibung der Bevölkerung, sowie die anschließende Evakuierung der Inselgruppe. Als die Sklaven eine Meuterei anzetteln und gegen die KI antreten, trifft sie alsbald eine bittere Erkenntnis und die Crew muss sich eingestehen, dass sie sich mit ihrem Aufstand gegen die "Sea Wolf" tief in den eigenen Finger geschnitten hat.

Ray Nayler wirft immer wieder interessante Fakten, Thesen und philosophische Betrachtungen über den Sinn von Sprache, Buchstaben und Symbolen ein und wie wir uns dadurch von den unterschiedlichen Kommunikationsebenen der Flora und Fauna unterscheiden. Er beleuchtet dabei die Kommunikationsarten, sowie die Evolution verschiedener Kopffüßer, nutzt hierbei hin und wieder Fremdwörter aus Medizin und Wissenschaft, die nicht unbedingt jedermanns Vokabular entsprechen dürften und ist daher auch nicht durchgehend leicht zu lesen. "Die Stimme der Kraken" ist schon ein sehr kopflastiges Buch geworden, das nicht jedermanns Sache sein dürfte. Mir persönlich ist das Verständnis und Hineindenken in Lerneffekte, Handlungen und Kommunikation, letztlich in die Stimme der Kraken, ein wenig zu konstruiert, zu theoretisch und zu abstrakt arrangiert. Nayler, der heute mit Frau und Tochter in Washington D.C. lebt, interpretiert ein bisschen zu viel vages Gedankengut in den "Geist" und die Kommunikation der Kraken hinein. Ich weiß um die Recherche, die vielen Stunden und die damit verbundene Arbeit, die Ray Nayler in seinen Roman gesteckt hat. Für einen belletristischen Roman herrscht mir hier definitiv zu viel Spekulation und eindeutig zu wenig Handlung. Sein 2020 im Original erschienener Debütroman wirkt dadurch regelrecht zerstückelt. Schade eigentlich!

(Janko)

https://www.raynayler.net/
https://www.facebook.com/raynayler/
https://www.instagram.com/raynayler/

Brutalität/Gewalt: 37/100
Spannung: 30/100
Action: 28/100
Unterhaltung: 51/100
Anspruch: 50/100
Atmosphäre: 38/100
Emotion: 29/100
Humor: 03/100
Sex/Obszönität: 07/100

https://www.lackoflies.com" target="_blank">https://www.lackoflies.com - Wertung: 42/100

https://www.lackoflies.com" target="_blank">https://www.lackoflies.com - Altersempfehlung: ab 25 Jahren (aufgrund der anspruchsvollen und abstrakten wissenschaftlichen Thematik)

Ray Nayler - Die Stimme der Kraken
Tropen Verlag
SciFi/Fantasy/Öko-Thriller
ISBN: 978-3-608-50013-4
464 Seiten
Gebundene Ausgabe mit Farbschnitt
Originaltitel: The Mountain in the Sea (2020)
Aus dem amerikanischen Englisch von Benjamin Mildner
Erscheinungstermin: 20.04.2024
EUR 26,00 Euro [DE] inkl. MwSt.

Weitere Formate:
ISBN eBook (epub): 978-3-608-12249-7
Erscheinungstermin: 20.04.2024
EUR 20,99 Euro [DE] inkl. MwSt.

ISBN Hörbuch Download (Ungekürzte Lesung mit David Nathan): 978-3-7424-3176-9
Erscheinungstermin: 20.04.2024
EUR 25,95 Euro [DE] inkl. MwSt.

"Die Stimme der Kraken" beim Tropen Verlag: https://www.klett-cotta.de/produkt/ray-nayler-die-stimme-der-kraken-9783608500134-t-8556" target="_blank">https://www.klett-cotta.de/produkt/ray-nayler-die-stimme-der-kraken-9783608500134-t-8556

Leseprobe: https://www.klett-cotta.de/filesmedia/reading_samples/4215.pdf

Hörprobe: https://www.der-audio-verlag.de/app/uploads/2024/03/9783742431769.mp3

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