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Veröffentlicht am 19.12.2019

Eine spannende Liebe auf nur 138 Seiten

Den Sommer kannst du auch nicht aufhalten
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Pierre ist ein äußerst interessanter Mann. Ich glaube, man kann ihn nur lieben oder hassen. Ein Zwischending gibt es da nicht. Mit seinem unglaublich direkten, trockenen – fast schon schwarzen – Humor ...

Pierre ist ein äußerst interessanter Mann. Ich glaube, man kann ihn nur lieben oder hassen. Ein Zwischending gibt es da nicht. Mit seinem unglaublich direkten, trockenen – fast schon schwarzen – Humor dominiert er die Erzählung Verhulsts und verleiht der Geschichte mit seinem distanziert wirkenden Charakter einen besonderen Charme. Ich habe Pierre relativ schnell in mein Herz geschlossen. Mit seinem Spott und der scheinbaren Gleichgültigkeit, die er an den Tag legt, brachte er mich immer wieder zum Schmunzeln und ich war überrascht, dass ausgerechnet Pierre eine so emotionale Liebesgeschichte erzählen kann, bei der 138 Seiten keinesfalls ausreichen.

Sonny ist fünfzehn Jahre alt, geistig behindert, wohnt in einem Pflegeheim und Pierre ist der einzige, der ihn regelmäßig besucht. Warum? Sonny ist der Sohn von Pierres großer Liebe. Eine Liebe, die er über Jahre nicht vergessen konnte und deswegen will er Sonny ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk machen: Einen Tag vor seinem sechzehnten Geburtstag holt Pierre ihn aus dem Pflegeheim ab und fährt mit ihm in die Provence. Er will Sonny eine Geschichte erzählen, genau dort, wo vor vielen Jahren die Liebe begann. Jedoch weiß niemand aus dem Pflegeheim über Pierres Plan Bescheid und obwohl Sonny ein guter Zuhörer ist, kann er keine der Informationen aufnehmen. Dennoch hält Pierre an seiner Idee fest. Er muss es erzählen. Er muss seiner großen Liebe noch ein einziges Mal nahe kommen, wenn auch nur mit Worten…

Als ich das kleine Büchlein anfangs in den Händen hielt, war ich etwas skeptisch. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass auf lediglich 138 Seiten eine Geschichte erzählt wird, die mich fesseln kann. Nun, was soll ich sagen? Ich habe mich gewaltig geirrt. Den Sommer kannst du auch nicht aufhalten von Dimitri Verhulst ist eine durchgehende Erzählung, die nicht durch Kapitel oder lange Einschübe unterbrochen wird. Die Handlung fließt dahin, die Perspektive wechselt manchmal vom Erzähler zu Pierre und wieder zurück und mit jeder Seite hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass ich an Sonnys Stelle sitze und dem zynischen, verbitterten Kerl zuhöre. Verhulsts Geschichte zeichnet sich nicht durch spannende Plottwists oder rasante Szenen aus; sie ist vielmehr realistisch und echt. Pierres Liebe zu Sonnys Mutter könnte aus dem Leben jedes einzelnen von uns gegriffen sein, man erkennt sich in einigen Punkten wieder und vergleicht Pierres Geschichte mit seiner eigenen (verlorenen) Romanze. So schnell wie die Erzählung anfing, war sie auch vorbei und als ich die letzte Seite umschlug, hatte ich das Bedürfnis nachzufragen: Was ist dann passiert? Doch ich glaube, das werde ich mir wohl selbst ausmalen müssen…

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Veröffentlicht am 28.11.2019

Eine Liebeshymne an die Freundschaft

Ein wenig Leben
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Ein wenig Leben verfolgt die vier Freunde Jude, Willem, JB und Malcolm über dreißig Jahre und zeigt dabei immer wieder verschiedene Einblicke in ihre Leben. Das Buch verfügt nicht unbedingt über eine Haupthandlung, ...

Ein wenig Leben verfolgt die vier Freunde Jude, Willem, JB und Malcolm über dreißig Jahre und zeigt dabei immer wieder verschiedene Einblicke in ihre Leben. Das Buch verfügt nicht unbedingt über eine Haupthandlung, sondern besteht aus vielen verschiedenen Abschnitten und Sequenzen, springt dabei immer wieder in der Zeit zurück und auch, dass die Charaktere älter werden, fällt einem nicht direkt auf – man erfährt alles nach und nach, mit jeder weiteren Zeile, mit jeder Seite, die man umblättert.

Hauptcharakter des Romans ist Jude St. Francis, ein begabter Anwalt und klasse Klavierspieler, der eine traumatische Kindheit hinter sich hat. Nicht einmal mit seinen drei besten Freunden kann er über diese Erlebnisse sprechen und auch dem Leser erschließen sich diese erst ganz langsam. Neben Jude fokussiert die Geschichte auch nach und nach immer mehr auf Willem, einem Schauspieler und Judes längstem Freund. Gemeinsam bestreiten sie ihr Leben in New York, beenden das College, beginnen ihre Karrieren, leben sich auseinander, finden wieder zusammen und beweisen immer wieder aufs Neue, dass Freundschaft die einzig wahre Liebe fürs Leben ist.

Ich glaube, es ist sehr lange her, dass mich ein Buch so berührt hat, wie es Ein wenig Leben tat. Obwohl es mir am Anfang schwerfiel, in die Geschichte einzusteigen – ich musste mich daran gewöhnen, dass es keine durchgehende Haupthandlung gab und man somit von Anfang an von einigen Fakten „erschlagen“ wurde – habe ich mich doch mit jeder Seite etwas besser in die Leben von Jude, Willem, JB und Malcolm eingefunden. Vor allem Jude und Willems Geschichte habe ich direkt mit großer Neugier und Hingabe verfolgt, wurde regelrecht ein Fan von ihnen, und Ein wenig Leben zog mich schon bald so sehr in seinen Bann, dass ich den 900-Seiten-Klopper nicht mehr aus der Hand legen konnte. So spannend und herzergreifend der Roman auch ist, muss ich allerdings dazu sagen, dass viele Themen, die in Judes Geschichte verarbeitet werden, keine leichte Kost sind. Auch ich musste das Buch an einigen Stellen mehrmals aus der Hand legen, musste mich sammeln, das Gelesene auf mich wirken lassen und dann neuen Mut schöpfen, um Ein wenig Leben wieder aufzunehmen. Eine Triggerwarnung wäre hier vielleicht angebracht.

Der Roman ist nicht ohne Grund in aller Munde und auch ich werde sicherlich noch sehr lange über ihn reden. Ich möchte nicht zu viel verraten, möchte niemanden abschrecken oder einschüchtern, daher beende ich diesen Beitrag mit ein paar aufmunternden Worten: Jeder braucht einen Willem in seinem Leben. Mehr sage ich dazu nicht.

Veröffentlicht am 08.08.2019

Ein Familiendrama ohne viel Dramatik

Erlensee
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Für Familiengeschichten bin ich immer zu haben. Da ich selbst aus einer großen Familie komme, ist mir Menschennähe besonders wichtig und Romane darüber lese ich umso lieber. Als mich der Autor also fragte, ...

Für Familiengeschichten bin ich immer zu haben. Da ich selbst aus einer großen Familie komme, ist mir Menschennähe besonders wichtig und Romane darüber lese ich umso lieber. Als mich der Autor also fragte, ob ich nicht Lust darauf hätte, sein Buch Erlensee zu lesen, konnte ich gar nicht nein sagen. Albert und Pauls Familienkonstellation hat mein Interesse schnell geweckt – Vater und Sohn, die sich gar nicht kennen und dann doch aufeinander treffen – aber leider blieb ich ein wenig unzufrieden zurück.

Paul ist dabei, seine Hochzeit mit Kathrin zu planen, als er überraschend einen Anruf aus dem Altenheim bekommt: Sein Vater Albert würde ihn gern sehen. Völlig überwältigt von der Situation weiß Paul gar nicht, wie er sich verhalten soll, denn Albert entschied sich vor über 30 Jahren dazu, die Familie zu verlassen und Vater und Sohn haben sich seitdem nicht gesehen. Paul gelingt es nur schwer, auf andere Gedanken zu kommen, denn plötzlich wurde ihm auch die Möglichkeit geboten, Antworten auf seine vielen Fragen zu bekommen: Warum ist Albert damals gegangen? Warum hat er sich nie wieder blicken lassen? Warum will er jetzt wieder Kontakt? Aus diesem Grund entscheidet er sich dazu, das Altenheim aufzusuchen und seinen Vater zur Rede zu stellen.

Das erste Aufeinandertreffen der beiden läuft alles andere als gut. Nach nur wenigen Minuten, bittet Albert Paul wieder zu gehen, aber dieser lässt nicht locker. Schon am nächsten Tag kreuzt er wieder dort auf, geigt seinem Vater ordentlich die Meinung und verlangt Antworten, die ihm immer noch nicht gegeben werden. Doch Franka, die Altenpflegerin im Dienst, lässt einige Informationen durchschimmern. Nach und nach erhält Paul weitere Puzzleteile, die ihn immer weiter aus der Bahn werfen. Anscheinend hatten seine Eltern nach ihrer Trennung noch Kontakt, ohne ihrem Sohn davon zu erzählen, und da Pauls Mutter bereits verstorben ist, gibt es nur einen Weg an die Wahrheit zu gelangen: Gemeinsam mit seinem Vater muss er sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben. Was ist damals wirklich geschehen?

Ich war überrascht darüber, wie schnell sich Erlensee lesen ließ. Von einer Seite blätterte ich mich zur nächsten und bemerkte dabei gar nicht, wie die Zeit verflog. Vor allem den Schreibstil fand ich sehr angenehm. Er hatte fast schon etwas Poetisches, das man leicht in sich aufsaugen konnte. Auch der Handlungsaufbau kam mir sehr flüssig vor. Langsam aber sicher wurde Spannung aufgebaut und die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, was die ganze Dramatik unterstützt.
Doch leider hatte ich das Gefühl, dass der eigentliche Höhepunkt nicht wirklich erreicht wurde. Die Auflösung des Familiengeheimnisses war für mich etwas enttäuschend und auch nicht zu 100% nachvollziehbar. Der Grund, warum Albert seine Familie vor über 30 Jahren verlassen hatte, stößt aber auch bei seinem Sohn Paul auf Unverständnis, was mich zu der Überlegung brachte, ob Albert tatsächlich die Wahrheit erzählt. Erlensee endet recht offen, sodass sich jeder seine eigene Meinung über den Roman bilden kann. Für mich war es eine angenehme Lektüre für zwischendurch, die aber gern noch ein bisschen mehr Drama hätte enthalten können.

Veröffentlicht am 23.07.2019

Gewöhnlicher Krimi mit unerwartetem Ende

Alibi
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Alibi war mein erster Krimi von Agatha Christie und da ich schon so viel Gutes über die Autorin und ihre Werke gehört habe, hatte ich mich richtig auf den Roman gefreut. Lange Zeit blieb ich jedoch recht ...

Alibi war mein erster Krimi von Agatha Christie und da ich schon so viel Gutes über die Autorin und ihre Werke gehört habe, hatte ich mich richtig auf den Roman gefreut. Lange Zeit blieb ich jedoch recht unbeeindruckt, da sich der Kriminalfall und seine Ermittlung nicht großartig von anderen Detektivgeschichten, wie zum Beispiel die von Arthur Conan Doyle, unterschied. Doch eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Agatha Christie wird nicht ohne Grund so sehr verehrt und das Ende von Alibi konnte mich ordentlich aus den Socken hauen.

In King’s Abbott geht das Gerücht um, Mrs Ferrars soll ihren Ehemann ermordet haben, damit sie mit ihrer wahren großen Liebe Roger Ackroyd zusammen sein kann. Als dann auch noch Mrs Ferrars tot aufgefunden wird, ist Roger Ackroyd besorgt: Er ist davon überzeugt, dass seine Geliebte um eine große Summe Geld erpresst worden ist, da jemand herausgefunden hatte, welche Rolle sie beim Tod ihres Mannes tatsächlich spielte. In einem Brief habe sie ihm davon berichtet, doch bevor Roger Ackroyd mit den Beweisen zur Polizei gehen kann, wird auch er ermordet und die Lage spitzt sich zu: Ist der Mörder Ackroyds gleichzeitig auch der Erpresser von Mrs Ferrars? Wer könnte ein Motiv haben? Und wieso ist sein Stiefsohn Ralph Paton plötzlich spurlos verschwunden? Ackroyds Nichte Flora beauftragt den berühmten Detektiv Hercule Poirot, den Kriminalfall aufzudecken und dieser hat sofort eine Vermutung. Am Abend seines Todes gab Roger Ackroyd eine Dinnerparty in seinem Haus. Der Butler bestätigt, dass zum Todeszeitpunkt keine fremde Person das Haus betreten hat. Der Mörder befindet sich also höchstwahrscheinlich unter den Gästen…

Hercule Poirot stellt für mich einen modernen Sherlock Holmes dar. Er ist genauso clever, verfügt über eine ebenso große Auffassungsgabe und hat ein ganz besonderes Gespür für Details. Der Belgier, der ab und zu ganz leger ein französisches Wort in die Unterhaltung einfließen lassen kann, wird jedoch von den Charakteren nicht immer ganz ernst genommen. Oft geht er einer Spur nach, die völlig irrelevant für den Fall zu sein scheint und bei eventuellen Nachfragen blockt er sofort ab. Hercule Poirot wisse, was er macht. Hercule Poirot sähe alles. Hercule Poirot denkt nicht, er weiß. Alles Aussagen, die er im Verlauf des Buches immer wieder selbst über sich zum Besten gibt und den Leser schnell genervt stimmen können. Anders als Sherlock Holmes ist Hercule Poirot kein Charakter, den man besonders ernst nehmen kann und deswegen stellt ihm Agatha Christie Dr. Sheppard zur Seite. James Sheppard ist der Ich-Erzähler des Romans Alibi und weist große Ähnlichkeit zu Dr. Watson auf. Nicht nur beginnen beide ihre Vornamen mit einem „J“ und sie üben Berufe in der Medizin aus, sie dienen dem Leser vor allem dazu, die vielen Hinweise und Gedankenschnipsel des Detektivs in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Immer wieder muss Dr. Sheppard bei Hercule Poirot nachhaken, er muss jede noch so kleine Idee hinterfragen, um zu verstehen, in welche Richtung der Ermittlung sie sich bewegen.

Da ich von vielen Freunden und Lesern meines Blogs im Vorfeld gesagt bekommen habe, wie unglaublich toll Agatha Christies Roman Alibi doch sei, ging ich natürlich mit einer unglaublich hohen Erwartung an die Geschichte heran. Das war nicht unbedingt gut, da die eigentliche Handlung nichts Spektakuläres ist. Wie ich oben schon erwähnte, unterscheidet sie sich nicht groß von anderen Detektivromanen. Es geschieht ein Mord und dieser wird im klassischen whodunnit Stil aufgelöst. Immer wieder gerät mal eine andere Person in das Visier des Lesers, ihre Absichten werden besonders hinterfragt und angezweifelt, doch der wirkliche Super-Gau der Geschichte ereignet sich erst in den letzten drei Kapiteln. Jetzt, da ich die komplette Handlung kenne, würde ich natürlich auch jedem raten, sich dieses Buch zu besorgen, doch gleichzeitig warne ich euch auch: Erwartet vom eigentlichen Mordfall nicht zu viel.

Veröffentlicht am 05.07.2019

Der Mord, der Doyle, Poe & Co. inspirierte

Der Verdacht des Mr Whicher
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Polizist Mr Jonathan „Jack“ Whicher und sieben seiner Kollegen werden 1842 zu den ersten Detektiven Londons ernannt. Im 19. Jahrhundert ist es für Polizisten Vorschrift, die Uniform auch außerhalb des ...

Polizist Mr Jonathan „Jack“ Whicher und sieben seiner Kollegen werden 1842 zu den ersten Detektiven Londons ernannt. Im 19. Jahrhundert ist es für Polizisten Vorschrift, die Uniform auch außerhalb des Dienstes zu tragen – nur ein Bändchen am Handgelenk signalisiert, ob sie momentan arbeiten oder nicht. Die Ermittler von Scotland Yard, zu denen Jack Whicher gehört, können somit erstmals „verdeckt“ ermitteln, in dem sie ihre normale Alltagskleidung tragen. Personen von besonderem, polizeilichem Interesse schöpfen dadurch keinen Verdacht und können leichter überführt werden. Zwanzig Jahre lang arbeitet Jack Whicher als Detektiv, überzeugt seine Chefs durch eine schnelle Auffassungsgabe und sein Gespür für kleine, scheinbar unwichtige Details. In Folge dessen wird er 1860 zu einem Mordfall nach Wiltshire geschickt, bei dem er nicht nur sein Können als verdeckter Ermittler sondern auch seine Karriere aufs Spiel setzt.

Der kleine Saville Kent wird am Morgen des 30. Juni 1860 vermisst. Als das Kindermädchen, das mit ihm in einem Zimmer schläft, gegen fünf Uhr morgens aufwacht, findet sie ein leeres Kinderbett vor, macht sich aber zunächst keine ernsthaften Gedanken – vielleicht hat der Junge über Nacht geweint und wurde von seiner Mutter aus dem Zimmer geholt. Zwei Stunden lang kümmert sich Elizabeth Gough um Savilles Geschwister, wäscht und kleidet sie, bis gegen sieben Uhr auch Mrs Kent erwacht. Als Elizabeth die Hausherrin fragt, ob denn die Kinder auch schon wach seien, ist Mrs. Kent verwirrt. „Warum die Kinder?“, fragt sie überrascht, denn es schlafe – wie immer – nur ihre Tochter bei ihr im Schlafzimmer. Als das Kindermädchen ihr erzählt, dass Saville nicht wie gewohnt in seinem Bett liegt, schlägt die Mutter Alarm: Wo ist ihr Sohn? Und wer hat ihn aus dem Bett getragen?

Schnell werden Nachbarn, Bekannte und die Polizei involviert. Das komplette Grundstück rund um Road Hill House wird nach dem kleinen dreijährigen Jungen abgegrast, bis er auf der Außentoilette der Angestellten gefunden wird. Tot. Eingewickelt in seine Decke, unter der er vor einigen Stunden noch ruhig schlief. Die Kehle durchgeschnitten. Alle Beteiligten sind zutiefst schockiert, doch ihre Trauer muss erst einmal hinten anstehen: Am Abend vor Savilles Tod wurden alle Türen und Fenster vom Hausmädchen verriegelt und anschließend von Mr Samuel Kent, dem Hausherren, überprüft. Am Morgen des 30. Juni, nachdem der Körper des kleinen Jungen gefunden wurde, macht die Polizisten eine interessante Entdeckung. Keine der Türen oder Fenster wurde geöffnet oder weist Einbruchspuren auf. Der Mörder oder die Mörderin wohnt also ebenfalls in Road Hill House.

Jack Whicher nimmt sich dem Fall an, interviewt alle Mitglieder der Familie Kent und ihre Hausangestellten. Schnell kommt er zu einem ersten Verdacht, wer den Mord begangen haben könnte, doch ihm fehlen aussagekräftige Beweise. Zum gleichen Zeitpunkt bildet sich die Gesellschaft ihr eigenes Urteil über die Tat und eine ganz andere Person landet im Visier der Polizei. Whicher wird aus dem Fall entlassen, zieht sich aus der Detektivarbeit zurück und gerät größtenteils in Vergessenheit. Erst mehrere Jahre später kommen neue Hinweise ans Licht, die bestätigen, dass Jack Whicher recht gehabt haben muss…

Der Verdacht des Mr Whicher ist in erster Linie ein Sachbuch, liest sich teilweise aber wie Fiktion. Die einzelnen Zitate, die Kate Summerscale aus Zeitungsartikeln, Interviews und medizinischen Berichten gesammelt hat, werden so geschickt in den Text eingebaut, dass man vergisst, reale Fakten vor sich zu haben und vor allem letzteres macht das Buch für mich so spannend: Alles, was man liest, ist tatsächlich passiert. Die Autorin hat nichts hinzugedichtet, nichts ausgelassen, nichts übertrieben dargestellt. Als Leser fühlt man sich beinahe ins Jahr 1860 versetzt, in dem man den Mord und die Ermittlungen noch einmal hautnah miterlebt.

Bei ihrer Recherche hat Kate Summerscale eine unglaubliche Masse an Informationen gesammelt und sie versucht, so viel wie möglich, in ihr Buch mit einzubauen. Dadurch fokussiert sie sich auch manchmal zu sehr auf Nebenhandlungen, geht intensiv auf Themen ein, die mit dem Kriminalfall nicht so viel zu tun haben und bringt die eigentliche Handlung dadurch ein wenig ins Stocken. Hier meine ich vor allem die Hintergrundinfos zu einigen Personen – Was machten sie zwanzig Jahre nach dem Mord? Wo lebten sie? Als was arbeiteten sie? Wie oft waren sie verheiratet? Alles Dinge, die meiner Meinung nach hätten gekürzt werden können.
Was mich als Literaturstudentin jedoch sehr interessiert und wo es nicht genug Einschübe und Hinweise hätte geben können, ist die Verbindung zwischen Mr Whicher und Autoren wie Charles Dickens, Edgar Allen Poe, Arthur Conan Doyle und Wilkie Collins. Immer wieder werden zwischendurch Beispiele genannt, wie sich die Autoren an dem real-life Detektiv orientiert haben: Welche Charakterzüge hat sich Arthur Conan Doyle für Sherlock Holmes bei Jack Whicher abgeguckt? Wie sehr gleicht die Handlung aus Wilkie Collins‘ Roman Der Monddiamant dem Fall von Road Hill House? Zu wissen, dass sich die Meister der Kriminalliteratur an Saville Kents Mord und dem damit verbundenen Ermittler orientierten, machte Der Verdacht des Mr Whicher noch fünfmal spannender für mich. Fans von Sherlock Holmes, Auguste Dupin und Kriminalfällen allgemein sollten sich dieses Buch nicht entgehen lassen.