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Veröffentlicht am 08.09.2023

Nachkriegsgeschichte

Glückskinder
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GLÜCKSKINDER
Teresa Simon

April 1945:

Die Holländerin Griet van Mook kämpfte im Widerstand gegen die Nazis und wurde gefasst. Man deportierte sie in ein Konzentrationslager, einige Male wurde sie verlegt. ...

GLÜCKSKINDER
Teresa Simon

April 1945:

Die Holländerin Griet van Mook kämpfte im Widerstand gegen die Nazis und wurde gefasst. Man deportierte sie in ein Konzentrationslager, einige Male wurde sie verlegt. Jetzt befindet sie sich auf dem letzten Gewaltmarsch vom KZ-Außenlager Giesing nach Wolfratshausen. Keiner weiß, ob sie diesen Marsch überleben werden, Gerüchte über Todesmärsche hatten bereits die Runde gemacht.
Nach mehreren Tagen ohne Essen und Wasser erreichen sie hungrig, abgemagert und vollkommen entkräftet Wolfratshausen. Nur ein paar Tage später werden sie von den amerikanischen Soldaten befreit.
Der amerikanische Captain Dan hat es Griet besonders angetan. Er rettet ihre schwer erkrankte Freundin und versorgt diese mit Medizin.
Als Dan nach München versetzt wird, beschließt Griet nicht in ihre Heimat zurückzukehren, sondern auch nach München umzusiedeln. Doch Wohnungen und Jobs sind fast keine mehr vorhanden. Nur Captain Dan ist es zu verdanken, dass sie eine Arbeits- und Wohnbescheinigung bekommt.

Tonis Familie würde auf der Straße stehen, wenn Großtante Vev sie nicht aufgenommen hätte. Ihr Vater kämpfte in Russland und gilt als vermisst, ihr Bruder ist noch in französischer Kriegsgefangenschaft.
Die Enge der Wohnung setzt der Familie zu, zumal auch noch ihre Tante mit deren erwachsenen Sohn bei der Großtante Vev lebt.
Die Familie hat nichts zu Essen und kämpft ums Überleben, als zu allem Unglück auch noch Amerikaner vor der Tür stehen und ein Zimmer für eine fremde Frau zum Wohnen beschlagnahmen.

Glückskinder sind die Überlebenden im Krieg.
Auch als der Krieg vorbei war, fehlte es an allem. Der tägliche Hunger zermürbte ganz Deutschland. Die Schwarzmärkte boomten. So auch der in der Münchener Möhlstrasse. Ein Kilo Bohnenkaffee kostete 1946 zwischen 450 und 600 Mark.
Teresa Simon hat es außerordentlich gut verstanden, die großen Entbehrungen nach dem Krieg zu schildern. Der Hunger war allgegenwärtig im Buch.

Ein Buch, das man in die Hand nimmt und gar nicht zur Seite legen kann, bis es dann ausgelesen ist. Das Ende war mir ein wenig zu „Happy End“.
Eine Geschichte über zwei starke Frauen in der Nachkriegszeit. Sehr zu empfehlen.
4½/ 5

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Veröffentlicht am 31.08.2023

Was nicht gesagt wurde ...

Packerl
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DAS PACKERL
Anna Neata

Das Packerl ist das Gewicht, das man im Leben auf den Schultern trägt.

Wir tauchen ein in die Geschichte dreier Frauen, die ihr Packerl tragen:
Elli, die mitten im zweiten Weltkrieg ...

DAS PACKERL
Anna Neata

Das Packerl ist das Gewicht, das man im Leben auf den Schultern trägt.

Wir tauchen ein in die Geschichte dreier Frauen, die ihr Packerl tragen:
Elli, die mitten im zweiten Weltkrieg eine begeisterte BDM-Anhängerin ist und nach dem Tode Hitlers gemeinsam mit ihrer Schwester den Vater am Dachstuhl noch lebend, aber zappelnd finden.
Sie ist ein bisschen daran schuld, dass der Freund ihrer Schwester nicht aus dem Krieg zurückkehrt und später verliebt sie sich in den falschen Mann. Dass dieser ein Aufschneider ist, bemerkt sie erst, als sie bereits schwanger ist.
Ellis Tochter Alexandra, die im Strudel der 70er-Jahre aufwächst und das Schweigen ihrer Mutter kaum erträgt, kehrt ihr aus diesem Grunde den Rücken. Nur ihr bester Freund Hannes steht ihr weiterhin zur Seite.
Alexandras Tochter Eva wird 1986 geboren. Sie ist zwar ein ruhiges und stilles Kind, aber nach einem Schwangerschaftsabbruch wird sie stark depressiv und ist suizidgefährdet.
Sie wird diejenige sein, die versucht, das ganze Ungesagte in den vorherigen Generationen zu entschlüsseln.

Abwechselnd, aber chronologisch kommen die drei Frauen zu Wort. Und je nachdem welche Frau gerade erzählt, änderte sich auch der Sprachstil der Autorin von fein bis derb.
Ich musste mich ein wenig einlesen; weniger in die Geschichte als in den österreichischen Dialekt. Außerdem fehlen die Zeichen der wörtlichen Rede komplett. Aber als ich das hinter mir hatte, konnte ich mich so richtig in die Geschichte fallen lassen. Sah förmlich das Haus vor mir, wo der zerbrochene Spiegel hängt und wo die letzten zwei Treppenstufen immer so knarzen. Der Geruch von Apfelstrudel zog buchstäblich durch mein Wohnzimmer.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Ich liebe diese Familiengeschichten mit Rückblicken, wo jeder sein Packerl zu tragen hat, denn wo gibt es das nicht?
4 1/2 / 5 und ich muss dringend einen Apfelstrudel backen.

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Veröffentlicht am 23.08.2023

Tolles Debüt!

Paradise Garden
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PARADISE GARDEN
Elena Fischer

Billies Mutter ist tot.
„Mein Leben war in zwei Teile zerfallen. In ein Davor und in ein Danach. Davor war meine Mutter die Antwort, danach war sie die Frage.“ (S138)

Die ...

PARADISE GARDEN
Elena Fischer

Billies Mutter ist tot.
„Mein Leben war in zwei Teile zerfallen. In ein Davor und in ein Danach. Davor war meine Mutter die Antwort, danach war sie die Frage.“ (S138)

Die 14-jährige Billie und ihre Mutter sind eins - ein Team, eine Liebe, sie sind lebensfroh und haben einen unerschütterlichen Lebensmut. Sie leben alleine in einer Hochhaussiedlung, ihren Vater kennt Billie nicht.
Billies Mutter putzt am Tage, nachts arbeitet sie in einer Bar und trotzdem reicht es hinten und vorne nicht - am Ende des Monats bleibt nur Geld für Spaghetti und Ketchup. Schon lange haben sie gelernt zu überleben: Shampoo wird mit Wasser verlängert und hinter dem Supermarkt gibt es einen Container, in dem abgelaufene Lebensmittel gesammelt werden.
Aber sie sind glücklich.
Nachdem ihre Mutter in einem Radio-Quiz gewonnen hat, wollen sie in den Urlaub nach Frankreich fahren. Billie war noch nie am Meer, Muscheln kennst sie nur aus einem 1-Euro-Shop. Doch gerade als sie losfahren wollen, ruft die Großmutter aus Ungarn an. Die Frau, die Billie noch nie kennengelernt hat, und die Oma, die ihre Mutter als Kind geschlagen hat.
Und nachdem ihre Mutter den Urlaub um ein Jahr verschiebt, kommt ihre Großmutter nach Deutschland, um ihr Herzleiden hier behandeln zu lassen.
Doch mit Großmutter zieht auch das Pech ein ...

Was für ein trauriger Mutter-Tochter-Vater-Suche-Roman. In der Mitte musste ich zum Taschentuch greifen. Diese innige Beziehung zwischen Billie und ihrer Mutter gefiel mir außerordentlich gut und das es von jetzt auf gleich kein inniges Verhältnis mehr gab und Billie ganz alleine dastand, tat einfach nur weh. Es geht um Erwachsenwerden, um einen Verlust eines geliebten Menschen und um soziale Missstände.
Elena Fischer hat hier wirklich ein eindrucksvolles Debüt geschrieben und ja, nach dem Tode der Mutter drohte das Buch auf einmal an Kurs zu verlieren. Dankbar war ich über das Ende, denn das hat es dann wieder gerettet.
Ein Buch mit einem schönen Schreibstil, einer sympathischen jungen Protagonistin, das ich sehr gerne gelesen habe und euch ans Herz legen möchte.
4½/ 5

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Veröffentlicht am 10.07.2023

Was für ein passender Titel!

Gleich unter der Haut
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Hochgelobt und gehypt. An diesem Buch kommt man einfach nicht vorbei, dementsprechend gehe ich mit hohen Erwartungen an das Lesen:

GLEICH UNTER DER HAUT
Berthe Obermanns

Niklas hat seine Eltern verloren. ...

Hochgelobt und gehypt. An diesem Buch kommt man einfach nicht vorbei, dementsprechend gehe ich mit hohen Erwartungen an das Lesen:

GLEICH UNTER DER HAUT
Berthe Obermanns

Niklas hat seine Eltern verloren. Auch er sass im Auto, als dieser Falschfahrer kam, jetzt sind sie tot und er lebt - wenn auch nur in seiner Hülle.
Jetzt gibt es nur noch Nora, seine jüngere Schwester und Oma, die stark an Demenz erkrankt ist. Sie erkennt ihn nicht mehr. Er wickelt, wäscht und füttert sie. Zur Uni kann er auch nicht mehr - es geht einfach nicht - Sperre im Kopf!
Da trifft er Lou, oder wie auch immer sie heißt. Ihren Namen will sie ihm nicht verraten. Lou ist anders, mal freundlich und in der nächsten Minute jähzornig. Auch sie hat viele Narben - innerlich und äußerlich.
Zum ersten Mal fühlt er das Leben in seinen Körper zurückkehren, ganz langsam. Vielleicht will er doch nicht sterben, für sie würde er weiter leben - mit ihr.
Doch sie hat Schnee im Kopf, da kann man nicht einfach eine Beziehung eingehen.
Keine Liebesgeschichte. Punkt.

Wow, was war das? Eine Geschichte, die unter die Haut geht.
Der wunderschöne Schreibstil der Autorin will so gar nicht zur Geschichte passen. Woher nimmt Berthe Obermanns diese Worte?

„Meine Beine hängen wie Magnete am Boden, ich muss Kraft aufwenden, um sie anzuheben, stelle mir vor, wie Lous Hände mir dabei helfen, wie sie sich um meine Fußgelenke legen und meine Beine nach oben ziehen, bilde mir sogar ein, ihre Finger an meinen Knöcheln zu spüren.“ (S. 100)

Dem Buch mit einer Rezension gerecht zu werden ist mir fast unmöglich.
Eine Geschichte, die mich bestimmt noch lange beschäftigen wird und über das ich noch einige Momente länger nachdenken muss.
Keine schöne Geschichte, aber ein Lesegenuss. Chapeau Berthe Obermanns für ein unglaubliches Debüt.

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Veröffentlicht am 18.06.2023

Keine Chance

Jahrhundertsommer
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JAHRHUNDERTSOMMER
Alice Grünfelder

Murrheim, Schwabenländle in den 60-Jahren:
Als Magda und ihre zwei Kinder vom „Alten“ verlassen werden, wird Magda vom Dorf als Aussätzige erklärt. Nicht nur hinter ...

JAHRHUNDERTSOMMER
Alice Grünfelder

Murrheim, Schwabenländle in den 60-Jahren:
Als Magda und ihre zwei Kinder vom „Alten“ verlassen werden, wird Magda vom Dorf als Aussätzige erklärt. Nicht nur hinter dem Rücken redet man über sie, nein, man ignoriert Magda, dreht den Kopf weg, anstatt zu grüßen, bedient sie im Laden als Letzte und Tochter Ursula wird in der Schule gehänselt.
Ohne Geld schlägt sich Magda durch: Putzt, züchtet Gemüse, das sie auf dem Markt im Nachbarort verkauft und versucht sich nicht unterkriegen zu lassen.
Als sie Jahre später mit dem amerikanischen stationierten Soldaten John eine Affäre beginnt, versucht sie, um das Gerede der Nachbarn nicht noch anzuheizen, dieses Verhältnis geheimzuhalten. Gemeinsam erleben sie einen traumhaften Sommer. Doch als John nach Vietnam versetzt wird und Murrheim, ohne sich zu verabschieden über Nacht verlässt, stellt sie kurze Zeit später fest, dass sie erneut schwanger ist.

Es ist die Geschichte einer Familie, die nie wirklich eine Chance in der Gesellschaft bekommen hat.

Ich musste mich zu Beginn an den etwas sperrigen Schreibstil, der hier perfekt passt, gewöhnen. Als ich dann ins Buch fand, wollte ich gar nicht mehr aufhören zu lesen.
Eine tolle Geschichte, die in der Zeit spielt, als man(n und auf keinen Fall Frau) sich nicht scheiden ließ, egal was in der Ehe passierte und die Frau in die Küche gehörte.

Über den Titel „Jahrhundertsommer" musste ich etwas nachdenken, um zu erkennen, dass Magda in ihrem Leben eben nur eine kurze, glückliche Zeit hatte - und das war der Sommer mit John, ihr Jahrhundertsommer. Ein wirklich gutes Buch und eine große Leseempfehlung von mir.
4½/ 5

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