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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 11.10.2024

Klasse

Schuld
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SCHULD
Ferdinand von Schirach

Die Blaskapelle, bestehend aus neun Männern, spielte beim Volksfest der Kleinstadt. Auf der Bühne saßen sie, ihre Gesichter gepudert mit Perücken auf dem Kopf, ein Glas zu ...

SCHULD
Ferdinand von Schirach

Die Blaskapelle, bestehend aus neun Männern, spielte beim Volksfest der Kleinstadt. Auf der Bühne saßen sie, ihre Gesichter gepudert mit Perücken auf dem Kopf, ein Glas zu viel in der Hand, während die Sonne heiß vom Himmel brannte. Die ausgelassene Stimmung spiegelte sich in der Menge wider.
Sie wurden von einem jungen Mädchen bedient. Sie trug ein weisses T-Shirt. Als diese versehentlich Bier über ihr Shirt kippte, sahen die Männer ihre Brüste und fielen über sie her. Der Rhythmus der Tanzfläche wurde zu ihrem Rhythmus.
Ein Mitglied der Blaskapelle alarmierte die Polizei anonym. Die Notärzte retteten das Mädchen, verwischten jedoch dabei versehentlich alle Spuren, die für die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von Bedeutung gewesen wären. Bei einer späteren Gegenüberstellung konnte das Mädchen die Täter nicht identifizieren.

Acht Männer der Blaskapelle waren die Täter, einer ihr Retter. Alle schwiegen. Kann das Gericht alle Männer verurteilen oder muss es alle Männer freisprechen?

Die 15 Geschichten aus dem Leben des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach habe ich mit unterschiedlichsten Emotionen durchlebt. Wut und Fassungslosigkeit dominierten dabei. Im Zentrum stehen Sexualverbrechen, Missbrauch und die schwierige Frage nach Schuld oder Unschuld.
Von Schirachs präziser und nüchterner Schreibstil hat mich erneut überzeugt.

  • Einzelne Kategorien
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  • Handlung
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Veröffentlicht am 09.10.2024

Beunruhigend

Tunnel
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TUNNEL
Grit Krüger
Sie haben nichts zu essen, und die Heizung ist defekt. Eine Reparatur kann Mascha sich schon lange nicht leisten. Also bauen sie sich in der Wohnung eine Höhle aus Decken und Kissen ...

TUNNEL
Grit Krüger
Sie haben nichts zu essen, und die Heizung ist defekt. Eine Reparatur kann Mascha sich schon lange nicht leisten. Also bauen sie sich in der Wohnung eine Höhle aus Decken und Kissen – dort ist es wenigstens warm.

Was Mascha wirklich bräuchte, ist Arbeit. Oder besser gesagt: 3000 Euro. Dann könnte sie die Heizung reparieren lassen und das Ferienlager für ihre Tochter Tinka bezahlen. Doch das Amt blockiert. „Sie müssen sich bewerben“, sagt die unfreundliche Frau mit monotoner Stimme.

Auch die 7-jährige Tinka hat ihre Sorgen: Sie hat Angst vor dem „Tröster“, der immer Mutter in ihrem „Schlafwohnzimmer“ besucht. Wenn er da ist, pinkelt sie lieber in ihren Legoeimer anstatt auf die Toilette zu gehen.. Außerdem braucht sie dringend neue Turnschuhe. Die alten drücken, doch sie traut sich nicht, ihrer Mama davon zu erzählen. Genauso wenig, wie sie noch immer das Geld für den Klassenausflug benötigt. Die Blicke der anderen Kinder treffen sie jedes Mal, wenn die Lehrerin vor allen wieder erwähnt, dass ihre Zahlung noch aussteht.

Alles könnte sich ändern, als Mascha ein Jobangebot als ungelernte Pflegekraft in einem Seniorenheim erhält. Ob das die Wende bringt, müsst ihr selbst herausfinden.

Ein ergreifendes Buch. Der ungewöhnliche, fast poetische Schreibstil bringt die prekäre Lage der kleinen Familie eindringlich zur Geltung. Die Geschichte wird aus den Perspektiven unterschiedlicher Personen erzählt – Menschen am Rande der Gesellschaft, mit ihren ganz eigenen Sorgen und Nöten.

Was mir weniger zusagte, war die Geschichte des Tunnels. Ich konnte diesen lediglich als Metapher deuten – ein Symbol dafür, dass Mascha und Tomsonov ihrem jetzigen Leben entfliehen wollen.

Fazit:
Ein gelungenes Debüt, das ich mit Interesse gelesen habe.
4/ 5

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Veröffentlicht am 07.10.2024

Dancing Boy

Der Tanzende
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DER TANZENDE
Victor Jestin

Ein feinfühliger Coming-of-Age-Roman, in dem Arthur, unser Protagonist, im Mittelpunkt steht:

Schon als Kind war er ein Außenseiter. Nie wurde er zu Geburtstagsfeiern eingeladen, ...

DER TANZENDE
Victor Jestin

Ein feinfühliger Coming-of-Age-Roman, in dem Arthur, unser Protagonist, im Mittelpunkt steht:

Schon als Kind war er ein Außenseiter. Nie wurde er zu Geburtstagsfeiern eingeladen, und Freunde hatte er keine. Er dachte, er könne nicht sprechen – zumindest fühlte es sich so für ihn an. Ihm fehlte einfach die Fähigkeit, sinnvolle Sätze zu formen und Fragen zu stellen. Zwar konnte er andere fragen, wie es ihnen geht, aber danach verlor er das Gespür dafür, wie ein richtiges Gespräch zu führen ist.
Diese Unsicherheit begleitete ihn durch sein gesamtes Leben. Mit 25 Jahren hatte er noch immer kein Mädchen geküsst.

Eines Tages besuchte er zum ersten Mal einen Club namens „La Plage“. Anfangs traute er sich nicht, auf die Tanzfläche zu gehen – sein Taktgefühl war genauso wenig ausgeprägt wie seine Small-Talk-Kompetenzen. Doch ein Bekannter, namens Wassim, zeigte ihm, wie er sich bewegen sollte.
Arthur begann zu tanzen und fühlte sich zum ersten Mal im Leben einer Gruppe zugehörig. Menschen nahmen ihn wahr, und sein Selbstbewusstsein wuchs. Von da an besuchte er täglich das „La Plage“. Jahre vergingen und er merkte nicht, wie das Tanzen allmählich sein ganzes Leben bestimmte und das Interesse für andere Dinge schwand.



Ups, da bin ich wieder! Ich war gerade für ein paar Stunden tanzen im Club „La Plage“ – zumindest fühlte es sich so an.

Victor Jestin beschreibt Arthurs Welt so lebendig und eindringlich, dass ich völlig in die Geschichte eintauchen konnte.


Der Autor schickte mich durch ein Wechselbad der Gefühle: Während ich mich zu Beginn noch für Arthur freuen konnte, entwickelte ich im Verlauf des Buches ein gewisses Unverständnis für sein Verhalten und seine Lebenssituation. Vielleicht war es auch mein Mutterinstinkt, der Arthur am liebsten wachrütteln und beschützen wollte.

Ein stimmiges Buch von Anfang bis Ende, das ich euch gerne empfehlen möchte.
4½/ 5

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Veröffentlicht am 02.10.2024

Fesselnd!

Blue Sisters
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BLUE SISTERS
Coco Mellors
Unterschiedlicher könnten sie nicht sein, die vier Blue Sisters: Avery, die Vernünftige, Bonnie, die Stoische, Nicky, die Sensible und Lucky, die Schöne.

Nach Nickys unerwartetem ...

BLUE SISTERS
Coco Mellors
Unterschiedlicher könnten sie nicht sein, die vier Blue Sisters: Avery, die Vernünftige, Bonnie, die Stoische, Nicky, die Sensible und Lucky, die Schöne.

Nach Nickys unerwartetem Tod versucht jede auf ihre eigene Weise, die Trauer zu bewältigen. Avery sucht Ablenkung, indem sie ihren Partner betrügt, Bonnie bringt sich im Boxring fast um, und Lucky greift zu Drogen, um ihre Schmerzen zu betäuben. Ihre Eltern, die nie wirklich für sie da waren – der Vater war ein Alkoholiker, die Mutter emotional abwesend – spielen keine Rolle in ihrem Trauerprozess. Avery, die älteste Schwester, hatte sich stets um die Jüngeren gekümmert, und jetzt muss sie erneut versuchen, die Familie zusammenzuhalten.

Coco Mellors beschreibt in ihrem Roman auf eindrucksvolle Weise die inneren Kämpfe und die Bindungen zwischen den Schwestern. Sie zeigt, wie Trauer und Vergangenheit sie auseinanderreißen, aber gleichzeitig auch die Stärke ihrer Beziehungen zum Vorschein bringen. Die große Frage bleibt: Können sie sich gegenseitig unterstützen und einen Weg zurück ins Leben finden?

Als großer Fan von Mellors' erstem Roman, Cleopatra & Frankenstein, war ich natürlich gespannt auf ihr neues Buch. Auch wenn der Einstieg etwas holprig war und nicht alle Charaktere sofort bei mir ankamen, hat mich Blue Sisters letztlich gefesselt. Mellors hat die Fähigkeit, lebendige Bilder im Kopf des Lesers zu erzeugen, die auch nach dem Lesen noch nachwirken. Die emotionale Tiefe und die scharfsinnige Beobachtung von familiären Beziehungen machen dieses Buch zu einer bewegenden Lektüre, die man nicht so leicht vergisst.
4½/5

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Veröffentlicht am 30.09.2024

Erschreckend und gut

Endling
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ENDLING
Jasmin Schreiber

2041:
Seit dem großen Baumsterben im Jahr 2012 und den folgenden 33 verheerenden Waldbränden ist der Baumbestand auf 10 % reduziert.
Buchen, Rotkehlchen und viele weitere Baum- ...

ENDLING
Jasmin Schreiber

2041:
Seit dem großen Baumsterben im Jahr 2012 und den folgenden 33 verheerenden Waldbränden ist der Baumbestand auf 10 % reduziert.
Buchen, Rotkehlchen und viele weitere Baum- und Tierarten sind seit langem ausgestorben. Eine Pandemie jagt die nächste – Covid im Jahr 2020 war nur der Anfang. Skandinavische Länder sind nicht mehr Teil der EU, und Deutschland hat sich zu einem faschistischen Staat entwickelt, der die Rechte der Frauen massiv eingeschränkt hat.
Unsere Protagonistin, die Biologin Zoe, hat jedoch auch ihre ganz eigenen, privaten Probleme: Nach dem Tod ihres Vaters begann ihre Mutter zu trinken. Anfangs war sie eine funktionale Trinkerin, die ihre Arbeit noch erledigen konnte, doch zuletzt nahmen ihre Alkoholexzesse immer mehr Überhand. Seit Jahren war Zoe nicht mehr zu Hause gewesen und hatte ihre kleine Schwester Hannah, das Nesthäkchen der Familie, sowie ihre Mutter lieber nach München eingeladen, um das "Elend" besser steuern zu können.

Doch nun erreicht sie ein Hilferuf ihrer Mutter, die sie bittet, während ihres freiwilligen Aufenthalts in einer Reha-Einrichtung auf Hannah und die Tante aufzupassen. Zoe kehrt zum ersten Mal nach Berlin zurück und findet dort ihre Tante Auguste vor, die das Haus nicht mehr verlässt und panisch auf jeden Keim reagiert, während ihre Schwester offenbar ein Drogenproblem entwickelt hat.

Als schließlich auch noch die beste Freundin von Tante Auguste vermisst wird, begeben sich die drei Frauen auf einen Roadtrip der besonderen Art – ein Abenteuer, das alle Beteiligten an ihre Grenzen bringen wird.

Das Setting des Buches hat mir, trotz der schweren Themen, besonders gut gefallen. Es geht um Klimawandel, Artensterben, Alkoholmissbrauch, Patriarchat und psychische Probleme, die in der Geschichte unglaublich gut umgesetzt sind. Weniger gefallen hat mir der mythologische Teil der Geschichte. Ich hätte es schöner gefunden, wenn die Autorin in der realen Welt mit all ihren Umweltproblemen geblieben wäre.

Ab der Mitte hat mich das Buch, dank der sympathischen Protagonisten, völlig in seinen Bann gezogen. Der Plot war im Vergleich zum Rest der Geschichte eher simpel und wurde viel zu schnell aufgelöst. Dennoch ist es insgesamt ein gutes Buch, das ich gerne gelesen habe und das ich euch empfehlen möchte.
4/ 5

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