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Veröffentlicht am 15.03.2023

Atmosphärisch

Die nicht sterben
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Nach einem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans in den kleinen Ort B. in Rumänien zurück. Stets hat sie dort in der Villa ihrer Großtante die Sommerfrische verbracht. Doch B. ist in ...

Nach einem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans in den kleinen Ort B. in Rumänien zurück. Stets hat sie dort in der Villa ihrer Großtante die Sommerfrische verbracht. Doch B. ist in ihrer Wahrnehmung nicht mehr so, wie es einst war. Das Gras vor den Villen ist hochgewachsen, der Asphalt aufgesprungen, die Straßenlaternen haben aufgehört zu leuchten und Internetempfang gibt es nur auf einem Hügel. Die Menschen ziehen weg, der Verfall ist allgegenwärtig.

Dann überschlagen sich die Ereignisse. Eine der Gäste der Großtante rutscht bei einer Wanderung aus und stürzt in den Tod. In der Familienkrypta, wo für sie Platz geschafft werden soll, wird ein übel zugerichteter Toter gefunden. Doch dessen nicht genug. Eines der Gräber entpuppt sich als das Grab Vlad des Pfählers, besser bekannt als Graf Dracula. Und die Protagonistin somit als seine Nachfahrin.

Grigorcea versteht es auf sehr gekonnte Weise, Vergangenes und Gegenwärtiges sowie Metaphorik und Kritik miteinander zu verbinden. Sie verwebt ihre politischen Aussagen mit einer schaurigen, archaischen und spannungsgeladenen Atmosphäre, die auf Symbolen, Andeutungen, Ahnungen und rhetorischen Fragen beruht. Ständiges Unheil scheint in der Luft zu liegen, Tod und Verwesung sind nie fern.

Doch das eigentliche Grauen ist letztlich nicht Vlad der Pfähler, ist kein wieder zum Leben erwachter Vampir. Das Grauen ist greifbar, real und lässt sich in der Gegenwart verorten. Denn die blutsaugenden Vampire, das sind im Roman die Politiker und die Machthungrigen. Es sind die, die es zulassen und unterstützen, dass das Land ausgebeutet wird, dass Gesetze missachtet werden, dass Korruption und Wahlbetrug allgegenwärtig sind, dass Gelder veruntreut werden und ausländische Investoren sich breit machen.

Die nicht sterben ist ein Roman voll atmosphärischer Dichte, der seinen ganz eigenen Stil findet. Ein lesenswerter Roman also, den es nicht zu verpassen gilt!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Georg Baselitz und mehr

Raumfahrer
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Lukas Rietzschel gelingt es mit seinem neuen Roman Raumfahrer wie schon mit seinem Debütroman, die ostdeutsche Geschichte und die Schicksale der Menschen des Ostens festzuhalten und nachzuzeichnen.

Der ...

Lukas Rietzschel gelingt es mit seinem neuen Roman Raumfahrer wie schon mit seinem Debütroman, die ostdeutsche Geschichte und die Schicksale der Menschen des Ostens festzuhalten und nachzuzeichnen.

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Da ist zunächst Jan, der in einem Krankenhaus arbeitet, das bald schließen wird. Das Schwimmbecken ist schon leer, das Linoleum ausgeblichen und die Natur erobert sich das Gebäude langsam zurück. Jan lebt mit seinem Vater zusammen, der arbeitslos ist und sich allabendlich vier Bierflaschen auf der Heizung aufwärmt. Trostlosigkeit, Verfall, Arbeitslosigkeit, Armut und Leerstand bestimmen Jans Umfeld. Als ihm einer der Stammpatienten ein Passfoto zeigt, beginnt für Jan eine Reise in die Vergangenheit.

Rietzschel verbindet Jans Geschichte mit der Kindheit und Jugend Georg Baselitzs, aber vor allem auch mit dem Leben von dessen Bruder Günter. Nachkriegszeit und Nachwendezeit, DDR-Vergangenheit und Gegenwart gehen ineinander über. Die Charaktere sind dabei durch die Grenzen, die ihnen die Zeit setzt, gefangen. Sie sind Raumfahrer, schweben durch Zeit und Raum und können sich nicht losreißen, weder von ihrem Schicksal, noch von ihren Erinnerungen und Entscheidungen.

Lukas Rietzschel hat einen starken und lesenswerten Roman geschrieben, der die Rolle des Autoren als wichtige, junge, literarische Stimme des Ostens festigt.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein Muss für Shakespeare-Fans

Der Tyrann
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Wie ist es möglich, dass ganze Nationen Tyrannen, Demagogen und Egomanen verfallen?
Diese Frage hat sich Stephen Greenblatt unweigerlich vor der Trump-Wahl stellen müssen. Das Buch “Der Tyrann” ist das ...

Wie ist es möglich, dass ganze Nationen Tyrannen, Demagogen und Egomanen verfallen?
Diese Frage hat sich Stephen Greenblatt unweigerlich vor der Trump-Wahl stellen müssen. Das Buch “Der Tyrann” ist das Ergebnis seiner Überlegungen. Auf eindrückliche Weise zeigt der Literaturwissenschaftler darin, wie zeitlos und allgemeingültig Shakespeares Charakterstudien tyrannischer Herrscherfiguren und die Mechanismen ihres Aufstiegs zur Macht sind. Die Parallelen zu heutigen Machthabern sind allzu offensichtlich, als dass man sie übersehen könnte. Ob eine Figur da Richard III. oder Trump heißt, scheint kaum noch von Bedeutung, denn das, was ihre Persönlichkeiten und ihre Strategien der Machtergreifung auszeichnet, ähnelt sich allzu sehr.

Shakespeares Tyrannen sind inkompetent, schamlos und wahnsinnig. Richard III., Macbeth, King Lear, Leantes oder Coriolan sind geistig ungeeignet, Entscheidungen zu treffen. Wahnsinn und Egomanie zeichnen sie aus. Richard sagt über sich selbst: “Oh, ich kann lächeln und beim Lächeln morden”. Die shakespearischen Herrscherfiguren haben das Bedürfnis, sich überlegen zu fühlen. Niemand darf ihnen widersprechen, ihren Befehlen ist Glaube zu leisten, das, was sie behaupten, auch wenn es nicht auf Tatsachen beruht, ist die Wahrheit. Denn: “Wenn der Tyrann träumt, es gebe Betrug oder Verrat, dann gibt es Betrug oder Verrat.” Demagogen wie Jack Cade aus “Heinrich VI.” machen dem Volk darüber hinaus falsche Versprechungen, (“alle solln fressen und saufen auf meine Kosten”) und gründen ihre Anliegen auf der Sehnsucht nach einer besseren und glorreichen Vergangenheit. Es hätte daher kaum überrascht, wenn ‘Make England Great Again’ Cades Wahlspruch gewesen wäre.

Doch warum scheint niemand zu sehen, welche gewaltbereite und grausame Männer die Macht an sich zu reißen versuchen? Warum bleiben alle tatenlos und sehen zu? Greenblatt erklärt es mit Richard III. folgendermaßen: “Richard ist für die höchste Machtposition so offensichtlich und grotesk unqualifiziert, dass sie ihn aus ihren Gedanken verbannen. Sie konzentrieren sich stets auf etwas anderes, bis es zu spät ist. Sie erkennen nicht schnell genug, dass das scheinbar Unmögliche wirklich geschieht. Die Struktur, auf die sie sich verlassen haben, erweist sich als unerwartet zerbrechlich.” Die Zerbrechlichkeit von Regierungsformen und Frieden sind für Shakespeare eine Voraussetzung für die Machtergreifung von Tyrannen. Eine weitere sind die Mitläufer, die Kollaborateure, die Befehlsausführer und die, die schweigen und wegsehen.

Für alle Shakespeare-Fans, für die, die Shakespeares Zeiten überdauernde Relevanz noch entdecken wollen und für all diejenigen, die an Zeitgeschehen und heutiger Politik interessiert sind, ist das Buch ein Muss!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ideenroman

Flauschig
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In Hanna Bervoets Roman “Flauschig” tauchen kleine flauschige Bällchen im Leben der Menschen auf. Sie fangen plötzlich an zu reden, beteuern den Menschen, dass sie für sie da sind, stellen philosophische ...

In Hanna Bervoets Roman “Flauschig” tauchen kleine flauschige Bällchen im Leben der Menschen auf. Sie fangen plötzlich an zu reden, beteuern den Menschen, dass sie für sie da sind, stellen philosophische Fragen, erzählen Geschichten und gehen auf die Psyche der Menschen ein.

Da ist zum Beispiel Maisie, eine Masterstudentin, die an Selbstzweifeln leidet, nicht genug an sich glaubt und deren Beziehung zu Florence vor Kurzem in die Brüche gegangen ist. Als Florence ihr ein Knäuel zukommen lässt, fühlt sie sich weniger einsam und “sie merkt, dass sie immer unruhiger wird, wenn das Knäuel ein paar Stunden hintereinander nichts sagt”.
Diek ist ein Mann um die sechzig, der mit seinem Hund Maxie lebt. Seine Beziehungen zu Frauen bricht er stets nach kurzer Zeit wieder ab. Er will und kann sich nicht binden. Aber “was er selbst sucht, weiß er eigentlich nicht”. Auch bei ihm landet einer der Bälle.
Im Laufe der Geschichte werden zahlreiche weitere Personen zum Besitzer der Bälle.

Der Roman erzählt von der Distanz, die zwischen den Menschen herrscht. Er erzählt von Verlust, von Trennungen, vom Vermissen und der Einsamkeit. Das Verhalten der Charaktere zeichnet sich oft dadurch aus, dass sie anderen aus dem Weg gehen, obwohl sie sich nach Nähe sehnen. Die Bälle treten in das Leben dieser Menschen ein und bringen das, was sie voneinander und von sich selbst trennt, zum Vorschein. Sie füllen die Leere und Stille, die durch fehlende oder fehlerhafte Beziehungen zu Mitmenschen entstanden sind. Sie geben ihren Besitzern das Gefühl, dass sie ihnen zuhören, dass sie sich um sie sorgen, für sie da sind und sprechen sie stets mit “Geliebtes Wesen” an.

Der Begriff des Ideenromans ist eine treffende Beschreibung für Bervoets Buch. Allerdings erweitert der Roman nicht, wie das Zitat auf dem Cover verspricht, die Grenzen der Literatur. Er bietet abwechslungsreiche Innenansichten, dringt in das Bewusstsein seiner Figuren ein, aber bleibt stets im Rahmen einer zugänglichen Literatur, die keine übermäßig hohen Anforderungen an den Leser stellt. Der Roman liest sich leicht, ist gekonnt geschrieben und macht Lust darauf, weitere Bücher der Autorin zu entdecken.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Surreal und fesselnd

Weiße Nacht
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Es ist der letzte Arbeitstag Ayamis in dem einzigen Hörtheater von Seoul. Am morgigen Tag soll es geschlossen werden. Aus einem Radio hört Ayami Stimmen und vor der Tür des Theaters droht ihr ein Mann, ...

Es ist der letzte Arbeitstag Ayamis in dem einzigen Hörtheater von Seoul. Am morgigen Tag soll es geschlossen werden. Aus einem Radio hört Ayami Stimmen und vor der Tür des Theaters droht ihr ein Mann, er wolle sie umbringen. Ihre Deutschlehrerin bittet sie außerdem, für einen bald in Korea ankommenden deutschen Dichter zu dolmetschen. Als Ayami jedoch mit dem Direktor des Theaters die Lehrerin besuchen will, ist diese verschwunden.

Schon der Versuch einer Inhaltsangabe wirkt fragmentarisch und unzusammenhängend. Bae Suahs Roman entzieht sich jeglicher einfachen Wiedergabe. Er ähnelt einem Traum, in dem die Protagonistin Geräusche hört, die sie eigentlich gar nicht hören kann, in dem Radios sich selbst anschalten und Busse ewig im Kreis fahren.

Es ist eine von Hitze und Dunkelheit geprägte Nacht, in der die Geschichte spielt. Weiß beleuchtete Gegenstände tauchen plötzlich in ihr auf. Ein Geschäft, eine Figur, eine Krähe, ein Fisch. Wie auf einer Bühne beleuchtet die Erzählung nur Bestimmtes, lenkt den Blick des Lesers und taucht alles andere in Schwärze.

​“Weiße Nacht” bewegt sich in einer verstörenden fieberhaften Welt, die keinen Boden zu haben scheint und in der alles möglich ist. Strukturen sind in ihr stets im Auflösen begriffen, denn die Grenzen von Realität und Fiktion verschieben sich ständig und gehen ineinander über. Es gibt keine Anfänge und keine Enden und somit ist auch Zeit nicht mehr linear zu verstehen. Stattdessen entsteht eine Erzählstruktur, die von Echos und Parallelen getragen wird. Es drängt sich der Eindruck eines Loops auf, einer komplexen Schleife, in der es zu Überlagerungen und Wiederholungen kommt. Der Roman selbst führt schon zu Beginn den Begriff des Klangschattens ein, der als selbstreflexiv verstanden werden kann, denn seine Szenen, Motive und Figuren ertönen und hallen an späterer Stelle im Roman nach.

​“Weiße Nacht” erzählt, so scheint es, unterschiedliche Versionen einer Geschichte, die sich allesamt miteinander verhaken und voneinander zehren. Identitäten und die Individualität der Figuren haben dabei keine Bedeutung mehr. Denn: “Alles verschwindet so schnell, wie es entsteht. Das gilt auch für Erinnerung. Es kann passieren, dass man aus seinem Haus tritt, zehn Schritte geht, sich umdreht und das Haus, das immer dort stand, nicht mehr existiert. Man findet es nie mehr. Das Gleiche kann auch mit Menschen geschehen.”

​Bae Suah hat einen außergewöhnlichen Roman geschrieben, der sich an die Grenzen der Literatur heranwagt. Unter seiner fieber- und traumhaften Atmosphäre lösen sich die Vorstellungen von Realität und Wirklichkeit auf. Was bleibt, ist eine wunderbar surreale Welt, die den Leser gefangen hält und ihn auch nach der letzten Seite des Buches nur schwer wieder loslässt.

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