Profilbild von Lesereien

Lesereien

Lesejury Star
offline

Lesereien ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Lesereien über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.03.2023

Klug

Und die Braut schloss die Tür
0

“Ich heirate nicht, heirate nicht, heirate nicht” lässt Ronit Matalon die Protagonistin ihres Romans "Und die Braut schloss die Tür" ausrufen. Margi schließt am Tag ihres Hochzeit die Tür zu ihrem Schlafzimmer ...

“Ich heirate nicht, heirate nicht, heirate nicht” lässt Ronit Matalon die Protagonistin ihres Romans "Und die Braut schloss die Tür" ausrufen. Margi schließt am Tag ihres Hochzeit die Tür zu ihrem Schlafzimmer und zeigt sich der Familie nicht mehr. Sie verweigert jedes Gesprächs, gibt keine Antworten und geht auf keine Bitten ein.

Matalon kurzer Roman ist eine ausdrucksstarke Charakterstudie. Wie in einem Kammerspiel lässt er den einzelnen Charakteren Raum. Da ist zum Beispiel Nadja, Margis Mutter, die sich nur darüber sorgt, ob sie nun für die Kosten der geplatzten Hochzeit aufkommen muss. Oder Matti, der Bräutigam, den die Situation überfordert, der gekränkt ist und sich in der Überlegung verliert, ob Margi ihn nun wirklich liebt oder nicht. Ilan, der Cousin der Braut, interessiert sich indessen nur für Schmuck und Kleidung und kann dem Anblick seiner eigenen Augen kaum widerstehen.

Über all diesen Charakterstudien steht natürlich die Figur der Braut, die es gewagt hat, sich den Traditionen zu widersetzen, die die Anpassung verweigert und aus dem Rahmen fällt. Das selbstbewusste und starke “Nein” der Braut, von der an diesem Tag ausschließlich ein “Ja” erwartet wird, macht den Roman zu einem Kommentar über Selbstbestimmung, Konventionen- und Erwartungsbrüchen und dem Willen, sich zu widersetzen.

Der Roman ist ein Familientableau, wie man es gekonnter wohl kaum festhalten könnte. Seine Beschreibungen und kurzen Bemerkungen zeichnen sich zum Teil durch einen dunklen Humor aus, um gleich im nächsten Augenblick wieder ernster zu werden. Kein Wort scheint dabei zu viel, kein Satz zu lang, keine Szene am falschen Platz.

"Und die Braut schloss die Tür" ist ein wunderbar kluges und gelungenes Buch, das es verdient hat, den Weg in die Hände möglichst vieler Leser zu finden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.03.2023

Greifbar, nah und ungemütlich

Der Aufstand der Ungenießbaren
0

Edo Popovičs Roman “Der Aufstand der Ungenießbaren” spielt in Kroatien, einem Land, in dem der Staat dem Spätkapitalismus zum Opfer gefallen ist. Das Ende des Sozialismus wurde von den Gierigsten und Rücksichtslosesten ...

Edo Popovičs Roman “Der Aufstand der Ungenießbaren” spielt in Kroatien, einem Land, in dem der Staat dem Spätkapitalismus zum Opfer gefallen ist. Das Ende des Sozialismus wurde von den Gierigsten und Rücksichtslosesten schamlos ausgenutzt. Übrig geblieben ist ein geplündertes und privatisiertes Land. Ummauerte Städte sind entstanden, in denen nun eine Organisation herrscht, die sich „Helden und keine Verbrecher“ nennt. Der Name kann als lächerlicher Versuch der Selbstlegitimierung und der Fremdtäuschung gewertet werden und spiegelt das Gegenteil von dem wider, wofür die herrschende Elite eigentlich steht.

In dieser spätkapitalistischen Welt fängt eine Gruppe von Menschen an, sich vom System loszulösen. Sie wollen nicht mehr zehn, zwölf Stunden am Tag arbeiten, weigern sich in einem fort zu konsumieren, sich der Gier hinzugeben und möchten nicht mehr in einem ständigen Wettbewerb zu ihren Mitmenschen stehen. Doch “Welche Regierung braucht schon glückliche und kluge Menschen? Keine”. Denn Nicht-Angepasste können vom Kapitalismus nicht verdaut werden. Sie sind ungenießbar, bereiten Magenschmerzen, drohen mit Verstopfung. Und deshalb ist es fast unumgänglich, dass aus den friedlichen Systemverweigerern radikale Systemgegner werden.

Popovićs Roman ist ein Kommentar über unseren Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen, über Gier und Machtmissbrauch, über den Profit- und Wachstumswahn und über die Auflehnung, den Widerstand. Der Blick des Autoren ist dabei stets glasklar. Er beschreibt eine Dystopie, die viel zu sehr in unserer Gegenwart und in der Vergangenheit verankert ist, als dass der Leser eine zeitliche und räumliche Distanz zu ihr verspüren könnte.

Der Roman ist ein Lesevergnügen, weil er unheimlich klug und wichtig ist. Seine Kritik ist geschliffen scharf und speist sich außerdem häufig aus bitterböser Satire, z.B. wenn die Kirche wieder Ablassbriefe verkauft und der Sünder gleich einen Rabattcoupon für das Einkaufszentrum dazu bekommt.

“Der Aufstand der Ungenießbaren” ist greifbar, nah und ungemütlich. In dem Roman schlummert ein Bestseller, der nur darauf wartet, von so vielen Lesern wie möglich entdeckt zu werden!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.03.2023

Nicht ganz überzeugend

Schicksal
0

Zeruya Shalevs Roman zeichnet die Lebenswege und Schicksale zweier Frauen nach. Da ist zunächst die betagte Rachel, die auf ihr Leben zurückblickt. Als junge Frau war sie bei den Lechi aktiv, hatte Ideale ...

Zeruya Shalevs Roman zeichnet die Lebenswege und Schicksale zweier Frauen nach. Da ist zunächst die betagte Rachel, die auf ihr Leben zurückblickt. Als junge Frau war sie bei den Lechi aktiv, hatte Ideale für die sie gekämpft hat, die ein Leben lang ihre Weltanschauung geprägt haben und die letztlich auch Auswirkung auf ihr Familienleben hatten.
Atara ist die zweite Protagonistin des Romans. Sie will mehr über ihren Vater erfahren, Rachels ersten Ehemann und nimmt deshalb Kontakt zu ihr auf. Auch ihr Familienleben ist durch Konflikte geprägt, die sich im Laufe des Romans zuspitzen.

Im Folgenden entfaltet sich eine Geschichte, die sehr auf das Innenleben und auf die Gedanken seiner zwei Hauptcharaktere konzentriert ist. Zunächst gelingt es Shalev gut, den Erinnerungen und Empfindungen ihrer Figuren nachzuspüren. Doch bald schon wird deutlich, dass es zu häufig zu abrupten Wechseln zwischen einzelnen Themen und zu Ausschweifungen kommt. Die Gedanken der Charaktere drehen sich dann im Kreis und für den Leser wird es zunehmend schwerer, sich in dieser Geschichte an etwas festzuhalten.

Shalevs Geschichte findet nicht wirklich zu sich selbst. Es fehlt ihr an einem stabilen Gerüst und deshalb kann ich dem Buch trotz der teils sehr schönen und fast schon poetisch anmutenden Sprache nur drei Sterne geben. Schade!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.03.2023

Erinnerungen

The Beautiful Struggle
0

Ta-Nehisi Coates erzählt in seinem autobiographischen Buch “The Beautiful Struggle” von seiner Kindheit und Jugend im Baltimore der 80er Jahre, die von Rassismuserfahrungen, von Gewalt, Drogen und Bandenkriminalität ...

Ta-Nehisi Coates erzählt in seinem autobiographischen Buch “The Beautiful Struggle” von seiner Kindheit und Jugend im Baltimore der 80er Jahre, die von Rassismuserfahrungen, von Gewalt, Drogen und Bandenkriminalität geprägt ist.

Coates erfährt schon früh, wie allgegenwärtig die Gewalt ist, denn er gilt als Schwächster in der Schule. Prügel, Schläge und Kämpfe lauern hinter jeder Ecke und es sind “[d]ie gewöhnlichsten Dinge - der Weg zur Schule, eine Radfahrt um den Block, der Gang zum Supermarkt”, die schief laufen können.

Dass Coates selbst nicht in die Kriminalität abrutscht, hat er vor allem seinem Vater zu verdanken, einem Black Panther Aktivisten, der ihn lehrt, wie man auf den Straßen überlebt: “Du bist groß und du bist ein junger Schwarzer. Du musst vorsichtig sein mit dem, was du tust und was du sagst”.

Doch es ist auch die HipHop Musik, mit der Coates sich identifizieren kann und der er sich nahe fühlt. Er findet durch die Texte, Reime und Rhythmen zu sich selbst und entwickelt allmählich ein Bewusstsein für die Geschichte der Schwarzen.

“The Beautiful Struggle” sind die Erinnerungen eines klugen und talentierten Autoren. Coates stellt die eigene Jugend als Gratwanderung dar und zeigt, wie schwer es ist, sich ungewollt immer an der Grenze zum falschen Weg und zur Gewalt entlang bewegen zu müssen. Seinen Erinnerungen lauschen zu dürfen, ihren Nachhall noch lange verspüren zu dürfen, habe ich als Bereicherung empfunden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.03.2023

Atmosphärisch

Die nicht sterben
0

Nach einem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans in den kleinen Ort B. in Rumänien zurück. Stets hat sie dort in der Villa ihrer Großtante die Sommerfrische verbracht. Doch B. ist in ...

Nach einem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans in den kleinen Ort B. in Rumänien zurück. Stets hat sie dort in der Villa ihrer Großtante die Sommerfrische verbracht. Doch B. ist in ihrer Wahrnehmung nicht mehr so, wie es einst war. Das Gras vor den Villen ist hochgewachsen, der Asphalt aufgesprungen, die Straßenlaternen haben aufgehört zu leuchten und Internetempfang gibt es nur auf einem Hügel. Die Menschen ziehen weg, der Verfall ist allgegenwärtig.

Dann überschlagen sich die Ereignisse. Eine der Gäste der Großtante rutscht bei einer Wanderung aus und stürzt in den Tod. In der Familienkrypta, wo für sie Platz geschafft werden soll, wird ein übel zugerichteter Toter gefunden. Doch dessen nicht genug. Eines der Gräber entpuppt sich als das Grab Vlad des Pfählers, besser bekannt als Graf Dracula. Und die Protagonistin somit als seine Nachfahrin.

Grigorcea versteht es auf sehr gekonnte Weise, Vergangenes und Gegenwärtiges sowie Metaphorik und Kritik miteinander zu verbinden. Sie verwebt ihre politischen Aussagen mit einer schaurigen, archaischen und spannungsgeladenen Atmosphäre, die auf Symbolen, Andeutungen, Ahnungen und rhetorischen Fragen beruht. Ständiges Unheil scheint in der Luft zu liegen, Tod und Verwesung sind nie fern.

Doch das eigentliche Grauen ist letztlich nicht Vlad der Pfähler, ist kein wieder zum Leben erwachter Vampir. Das Grauen ist greifbar, real und lässt sich in der Gegenwart verorten. Denn die blutsaugenden Vampire, das sind im Roman die Politiker und die Machthungrigen. Es sind die, die es zulassen und unterstützen, dass das Land ausgebeutet wird, dass Gesetze missachtet werden, dass Korruption und Wahlbetrug allgegenwärtig sind, dass Gelder veruntreut werden und ausländische Investoren sich breit machen.

Die nicht sterben ist ein Roman voll atmosphärischer Dichte, der seinen ganz eigenen Stil findet. Ein lesenswerter Roman also, den es nicht zu verpassen gilt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere