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Veröffentlicht am 15.03.2023

Kraftvoll und tiefgründig

Elmet
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Elmet, das erklärt auch ein Ted Hughes-Zitat zu Beginn des Buches, war ein unabhängiges keltisches Königreich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert im Norden Englands. Und es ist diese Gegend, in der die ...

Elmet, das erklärt auch ein Ted Hughes-Zitat zu Beginn des Buches, war ein unabhängiges keltisches Königreich zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert im Norden Englands. Und es ist diese Gegend, in der die Autorin ihre Geschichte ansiedelt. Zwar spielt die Geschichte in der Gegenwart, doch der Bezug zu den Kelten und zu vorangegangenen Zeiten, der schon durch den Titel hergestellt wird, ist allgegenwärtig. Die erzählte Welt zeichnet sich durch etwas Archaisches, Rohes und Ursprüngliches aus.
Umso faszinierender ist es, dass es Mozley gelingt, in dieser Welt, die zeitlos scheint, Kritik an unserer Gesellschaft und am Kapitalismus zu üben. Sie schreibt über soziale Ungerechtigkeit, über die ungleiche Aufteilung von Kapital und Besitz, über Armut, die Ausbeutung von Arbeitern und die Gier.

Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Problemen steht ein bärtiger Riese mit seinem kleinen Sohn und der raubvolgelhaften Tochter. So jedenfalls beschreibt der Roman seine eigenen Protagonisten und zeichnet mit dieser Charakterisierung das Bild einer ungleichen Familie. Daniel und Cathy sind 14 und 15 Jahre alt. Ihre Mutter hat die Familie verlassen und auch der Vater ist während ihrer Kindheit immer wieder abwesend, bis er eines Tages entschließt, auf einem Stück Land in der Heimat seiner Frau ein Haus für sich und die Kinder zu bauen.
Zusammen leben die Drei fortan im Einklang mit sich selbst und mit der Natur. Doch ihr friedliches Zusammenleben findet ein jähes Ende, als Mr Price, einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Landbesitzer der Gegend, ihnen verwehrt, weiterhin auf dem Grundstück im Wald zu wohnen.

Fiona Mozleys Debütroman ist kraftvoll, tiefgründig und endet für die meisten Leser sicher nicht mit der letzten Seite. Denn man will der Geschichte noch nachlauschen, will nicht plötzlich, sondern nur ganz allmählich aus ihr heraustreten und ich denke, das ist es, was einen gelungenen Roman auszeichnet.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Leseempfehlung

Die Nickel Boys
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Die Nickel Boys versetzt den Leser ins Florida der 1960er Jahre, also in die Zeit der Jim-Crow-Gesetze, der Rassentrennung und der Bürgerrechtsbewegung. Elwood Curtis wächst bei seiner Großmutter auf, ...

Die Nickel Boys versetzt den Leser ins Florida der 1960er Jahre, also in die Zeit der Jim-Crow-Gesetze, der Rassentrennung und der Bürgerrechtsbewegung. Elwood Curtis wächst bei seiner Großmutter auf, hört sich Reden von Martin Luther King an und liest so ziemlich alles, was ihm unter die Finger kommt. Er hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der über Hautfarbe und Rassenzugehörigkeit hinausgeht und träumt von einer Welt ohne Rassentrennung. Die Chance, an einem College Kurse belegen zu können, lässt ihn voll Tatendrang in die Zukunft blicken. Doch noch bevor er den ersten Kurs überhaupt besuchen kann, wird er für ein Verbrechen bestraft, das er nicht begangen hat und wird zu einem Aufenthalt in der Nickel Academy verurteilt.

Die Nickel Academy, auch Florida Industrial School for Boys genannt, steht im Roman stellvertretend für die Ungerechtigkeit und die Verbrechen an der Menschlichkeit, unter denen die schwarze Bevölkerung Amerikas über Jahrhunderte hinweg zu leiden hatte und immer noch zu leiden hat. Von den Jungen wird Unterwürfigkeit und Fügsamkeit verlangt, sie werden für schwere Arbeiten ausgenutzt, erfahren extreme körperliche Gewalt und werden im schlimmsten Fall ihres Lebens beraubt. Tatsächlich ist die Gefahr durch die Brutalität der Aufseher zu sterben allgegenwärtig. Verstorbene Jungen werden auf einem inoffiziellen Friedhof begraben und ihren Familien wird erklärt, sie seien ausgerissen.

Colson Whitehead erzählt von Chancenlosigkeit, von versperrten Wegen, von extremer Fremdbestimmung und Fremdeinwirkung, von “vergeudeten Genies” und von geraubten Leben. Gleichzeitig entblößt der Roman die Lächerlichkeit der “irrsinnig hohen und breiten Barrikade der Rassentrennung”. Eine Szene bleibt in diesem Zusammenhang besonders im Gedächtnis, denn einer der Nickel Jungs ist Halb-Mexikaner und die Aufseher können sich nicht entscheiden, ob sie ihn den weißen oder den schwarzen Jungs zuordnen sollen. Deshalb muss er alle paar Wochen von einem Wohnheim ins andere wechseln.

Dieser Roman ist eine absolut gelungene und starke Auseinandersetzung mit dem tief in der Gesellschaft verankerten Rassismus und daher eine große Leseempfehlung von mir!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein Gedichtband, der nachhallt

Skizze vom Gras
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Silke Scheuermanns Gedichte stehen im Zeichen der Natur, der Kunst und Künstlichkeit, der (Neu-)Schöpfung und des Verlustes.

Bereits das erste Gedicht Die Ausgestorbenen benennt mit seinem Titel Themen, ...

Silke Scheuermanns Gedichte stehen im Zeichen der Natur, der Kunst und Künstlichkeit, der (Neu-)Schöpfung und des Verlustes.

Bereits das erste Gedicht Die Ausgestorbenen benennt mit seinem Titel Themen, die in dem Band immer wieder zur Sprache kommen, nämlich das Artensterben, die Verdrängung der Natur und der Verlust von Vielfalt. Lebensräume werden zerstört, Neubaugebiete, Umgehungsstraßen und Kraftwerke ersetzen die Natur.

Im Kapitel Zweite Schöpfung wird dieses Thema vertieft, indem ausgestorbene Arten wie das Zwergmammut, der Sibirische Tiger oder die Wandertaube in den Mittelpunkt der Gedichte gestellt werden. Der Mensch versucht diese Arten in Laboren wieder zum Leben zu erwecken, doch die entstehenden Neuschöpfungen sind nur eine Illusion und ein schwacher Ersatz für das Verlorene wie die folgenden Verse bezeugen: “Du also in einem Heute/lebst, das seine eigene Illusion darstellt?”.

Das Gedicht Skizze vom Gras beschreibt abschließend eine Welt, in der sich sogar das Ministerium für Pflanzen auflösen musste, da die Erde nicht mehr genug Arten beherbergt. Selbst Gärten sind auf die Vertikale reduziert worden. Was bleibt, ist Gras und einige Gemälde, die Zeugnis von ehemaligen Naturlandschaften ablegen.

Ein lesenswerter Gedichtband, der lange nachhallt!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Denkmal fur eine Familie

Viktor
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In ihrem Roman “Viktor” macht sich die niederländische Autorin Judith Fanto auf die Suche nach ihrer jüdischen Identität, spürt der Geschichte ihrer Familie nach und legt Gefühle von Schuld, Angst und ...

In ihrem Roman “Viktor” macht sich die niederländische Autorin Judith Fanto auf die Suche nach ihrer jüdischen Identität, spürt der Geschichte ihrer Familie nach und legt Gefühle von Schuld, Angst und Verlust frei.

Judith, zu Beginn noch Geertje genannt, wächst in den Niederlanden auf. Ihre Großeltern mussten während des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat Wien fliehen und in Belgien untertauchen. Die Beziehung der Familie zum eigenen Judentum ist kompliziert und stark durch Angst, Traumata und Verdrängung geprägt. Daher ist Judith sich lange Zeit der eigenen Familiengeschichte und Identität kaum bewusst.

Mit ihrer Akzeptanz dieser Identität stellt sich Judith der Geschichte entgegen. Als Erste in ihrer Familie erkämpft sie sich einen Platz in der Gegenwart, der sich nicht durch Ängste, Schuldgefühle und Traumata definiert. Sie will sich nicht verstecken, sondern sucht nach der Wahrheit und scheut keine Konfrontation.

Doch damit ist nur eine der zwei Zeitebenen beschrieben, auf denen der Roman spielt. Der Roman macht den Leser auch mit dem Leben Viktors bekannt, dem Bruder des Großvaters von Judith. Judith fühlt sich mit Viktor verbunden, denn ihre eigene rebellische Art erinnert die Großeltern oft an Viktor. Die Faszination für ihren Vorfahren rührt sicherlich auch daher, dass sie immer nur Bruchstücke aus seinem Leben erfährt und nie seine ganze zusammenhängende Lebensgeschichte. Also macht sie sich im Familienarchiv selbst auf die Suche, findet Briefe, Tagebucheintragungen und andere Dokumente, die es ihr ermöglichen, Viktors Geschichte nachzuzeichnen.

Viktor ist eine starke Figur, die sich nichts vorschreiben lässt, die sich weigert, die Umstände zu akzeptieren und sich auflehnt. Dass er anstatt “Heil Hitler” konsequent “Drei Liter” ruft, ist lediglich eine seiner zahlreichen Wiederstandshandlungen.

Diese zweite Handlungsebene verdeutlicht, wie sich der institutionelle Antisemitismus während der Nazi-Herrschaft in Wien allmählich ausbreitete, wie Razzien, Ausschreitungen und Gewalt den Alltag zu bestimmen anfingen. Zunächst begann man, getrennte Schulklassen für jüdische Kinder einzurichten. Doch schon bald kam es zu einer Entfesselung von Hass, der in der Enteignung, Demütigung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung endete und in einem drei Tage und Nächte andauernden Pogrom nur einen ihrer Höhepunkte fand.

Judith Fanto hat mit diesem Roman ihrer eigenen Familie, und ganz besonders Viktor, ein Denkmal gesetzt. Sie hat die verlorenen Stimmen, die der Welt auf grausamste Weise entrissen wurden, wieder zum Leben erweckt und sie ihre Geschichte erzählen lassen. “Viktor” ist ein lesenswerter Roman, der gekonnt geschrieben und oft tiefsinnig ist und zuweilen sehr nahe geht.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Tiefsinnig, komisch, melancholisch

Der heilige King Kong
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James McBrides Roman "Der heilige King Kong" nimmt den Leser mit ins Brooklyn des Jahres 1969 und erzählt von strukturellem Rassismus, Kriminalität und sozialer Ungerechtigkeit.

Der Protagonist der Geschichte ...

James McBrides Roman "Der heilige King Kong" nimmt den Leser mit ins Brooklyn des Jahres 1969 und erzählt von strukturellem Rassismus, Kriminalität und sozialer Ungerechtigkeit.

Der Protagonist der Geschichte ist Sportcoat, Bewohner einer New Yorker Sozialsiedlung, ehemaliger Baseballtrainer, Deakon der Five Ends Baptist Church, handwerklich begabt und verwitwet. Sportcoat trinkt gerne und viel, insbesondere den von seinem Freund gebrauten Schnaps, der von allen King Kong genannt wird. Eines Tages dann schießt Sportcoat plötzlich auf Deems, einen neunzehnjährigen Drogendealer, den Sportcoat in der Sonntagsschule unterrichtet und im Baseball trainiert hatte. Niemand weiß, wieso und Sportcoat selbst behauptet standhaft, er könne sich an nichts erinnern.

McBride entlarvt mit diesem Roman den American Dream als Farce, indem er über diejenigen schreibt, deren Leben durch gesellschaftliche Strukturen und soziale Ungerechtigkeit, durch die Familiensituation, die Hautfarbe, Gewalterfahrungen, Drogen und Alkohol schon vorbestimmt sind. Über diejenigen, die jeglicher Möglichkeiten, Träume, Hoffnung und Perspektiven beraubt werden, die sich nicht von dem ihnen zugewiesenen Platz befreien können, die sowieso “früher oder später im Knast” landen.

Doch trotz dieses schweren Themas wirkt die Geschichte nicht erdrückend. Denn McBride versteht es, das Düstere und die Melancholie nie Überhand gewinnen zu lassen. Momente der Hoffnung und der Glaube an das Gute durchziehen den Roman. Der Zusammenhalt unter den Siedlungsbewohnern steht stellvertretend dafür. Der Autor findet ein gekonntes Gleichgewicht zwischen Schwere und Leichtigkeit und sogar einige Slapstick-Einlagen lassen das Erzählte dabei nie ins Lächerliche abrutschen, sondern tragen dazu bei, dass die Trostlosigkeit auszuhalten ist.

Der Roman ist tiefsinnig, komisch, teils melancholisch, doch immer hoffnungsvoll und verspricht mit seiner Vielschichtigkeit, Farbenvielfalt und mit seinen schrägen Charakteren ein unvergessliches Leseerlebnis.

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