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Veröffentlicht am 15.03.2023

Georg Baselitz und mehr

Raumfahrer
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Lukas Rietzschel gelingt es mit seinem neuen Roman Raumfahrer wie schon mit seinem Debütroman, die ostdeutsche Geschichte und die Schicksale der Menschen des Ostens festzuhalten und nachzuzeichnen.

Der ...

Lukas Rietzschel gelingt es mit seinem neuen Roman Raumfahrer wie schon mit seinem Debütroman, die ostdeutsche Geschichte und die Schicksale der Menschen des Ostens festzuhalten und nachzuzeichnen.

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Da ist zunächst Jan, der in einem Krankenhaus arbeitet, das bald schließen wird. Das Schwimmbecken ist schon leer, das Linoleum ausgeblichen und die Natur erobert sich das Gebäude langsam zurück. Jan lebt mit seinem Vater zusammen, der arbeitslos ist und sich allabendlich vier Bierflaschen auf der Heizung aufwärmt. Trostlosigkeit, Verfall, Arbeitslosigkeit, Armut und Leerstand bestimmen Jans Umfeld. Als ihm einer der Stammpatienten ein Passfoto zeigt, beginnt für Jan eine Reise in die Vergangenheit.

Rietzschel verbindet Jans Geschichte mit der Kindheit und Jugend Georg Baselitzs, aber vor allem auch mit dem Leben von dessen Bruder Günter. Nachkriegszeit und Nachwendezeit, DDR-Vergangenheit und Gegenwart gehen ineinander über. Die Charaktere sind dabei durch die Grenzen, die ihnen die Zeit setzt, gefangen. Sie sind Raumfahrer, schweben durch Zeit und Raum und können sich nicht losreißen, weder von ihrem Schicksal, noch von ihren Erinnerungen und Entscheidungen.

Lukas Rietzschel hat einen starken und lesenswerten Roman geschrieben, der die Rolle des Autoren als wichtige, junge, literarische Stimme des Ostens festigt.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ein Muss für Shakespeare-Fans

Der Tyrann
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Wie ist es möglich, dass ganze Nationen Tyrannen, Demagogen und Egomanen verfallen?
Diese Frage hat sich Stephen Greenblatt unweigerlich vor der Trump-Wahl stellen müssen. Das Buch “Der Tyrann” ist das ...

Wie ist es möglich, dass ganze Nationen Tyrannen, Demagogen und Egomanen verfallen?
Diese Frage hat sich Stephen Greenblatt unweigerlich vor der Trump-Wahl stellen müssen. Das Buch “Der Tyrann” ist das Ergebnis seiner Überlegungen. Auf eindrückliche Weise zeigt der Literaturwissenschaftler darin, wie zeitlos und allgemeingültig Shakespeares Charakterstudien tyrannischer Herrscherfiguren und die Mechanismen ihres Aufstiegs zur Macht sind. Die Parallelen zu heutigen Machthabern sind allzu offensichtlich, als dass man sie übersehen könnte. Ob eine Figur da Richard III. oder Trump heißt, scheint kaum noch von Bedeutung, denn das, was ihre Persönlichkeiten und ihre Strategien der Machtergreifung auszeichnet, ähnelt sich allzu sehr.

Shakespeares Tyrannen sind inkompetent, schamlos und wahnsinnig. Richard III., Macbeth, King Lear, Leantes oder Coriolan sind geistig ungeeignet, Entscheidungen zu treffen. Wahnsinn und Egomanie zeichnen sie aus. Richard sagt über sich selbst: “Oh, ich kann lächeln und beim Lächeln morden”. Die shakespearischen Herrscherfiguren haben das Bedürfnis, sich überlegen zu fühlen. Niemand darf ihnen widersprechen, ihren Befehlen ist Glaube zu leisten, das, was sie behaupten, auch wenn es nicht auf Tatsachen beruht, ist die Wahrheit. Denn: “Wenn der Tyrann träumt, es gebe Betrug oder Verrat, dann gibt es Betrug oder Verrat.” Demagogen wie Jack Cade aus “Heinrich VI.” machen dem Volk darüber hinaus falsche Versprechungen, (“alle solln fressen und saufen auf meine Kosten”) und gründen ihre Anliegen auf der Sehnsucht nach einer besseren und glorreichen Vergangenheit. Es hätte daher kaum überrascht, wenn ‘Make England Great Again’ Cades Wahlspruch gewesen wäre.

Doch warum scheint niemand zu sehen, welche gewaltbereite und grausame Männer die Macht an sich zu reißen versuchen? Warum bleiben alle tatenlos und sehen zu? Greenblatt erklärt es mit Richard III. folgendermaßen: “Richard ist für die höchste Machtposition so offensichtlich und grotesk unqualifiziert, dass sie ihn aus ihren Gedanken verbannen. Sie konzentrieren sich stets auf etwas anderes, bis es zu spät ist. Sie erkennen nicht schnell genug, dass das scheinbar Unmögliche wirklich geschieht. Die Struktur, auf die sie sich verlassen haben, erweist sich als unerwartet zerbrechlich.” Die Zerbrechlichkeit von Regierungsformen und Frieden sind für Shakespeare eine Voraussetzung für die Machtergreifung von Tyrannen. Eine weitere sind die Mitläufer, die Kollaborateure, die Befehlsausführer und die, die schweigen und wegsehen.

Für alle Shakespeare-Fans, für die, die Shakespeares Zeiten überdauernde Relevanz noch entdecken wollen und für all diejenigen, die an Zeitgeschehen und heutiger Politik interessiert sind, ist das Buch ein Muss!

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Ideenroman

Flauschig
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In Hanna Bervoets Roman “Flauschig” tauchen kleine flauschige Bällchen im Leben der Menschen auf. Sie fangen plötzlich an zu reden, beteuern den Menschen, dass sie für sie da sind, stellen philosophische ...

In Hanna Bervoets Roman “Flauschig” tauchen kleine flauschige Bällchen im Leben der Menschen auf. Sie fangen plötzlich an zu reden, beteuern den Menschen, dass sie für sie da sind, stellen philosophische Fragen, erzählen Geschichten und gehen auf die Psyche der Menschen ein.

Da ist zum Beispiel Maisie, eine Masterstudentin, die an Selbstzweifeln leidet, nicht genug an sich glaubt und deren Beziehung zu Florence vor Kurzem in die Brüche gegangen ist. Als Florence ihr ein Knäuel zukommen lässt, fühlt sie sich weniger einsam und “sie merkt, dass sie immer unruhiger wird, wenn das Knäuel ein paar Stunden hintereinander nichts sagt”.
Diek ist ein Mann um die sechzig, der mit seinem Hund Maxie lebt. Seine Beziehungen zu Frauen bricht er stets nach kurzer Zeit wieder ab. Er will und kann sich nicht binden. Aber “was er selbst sucht, weiß er eigentlich nicht”. Auch bei ihm landet einer der Bälle.
Im Laufe der Geschichte werden zahlreiche weitere Personen zum Besitzer der Bälle.

Der Roman erzählt von der Distanz, die zwischen den Menschen herrscht. Er erzählt von Verlust, von Trennungen, vom Vermissen und der Einsamkeit. Das Verhalten der Charaktere zeichnet sich oft dadurch aus, dass sie anderen aus dem Weg gehen, obwohl sie sich nach Nähe sehnen. Die Bälle treten in das Leben dieser Menschen ein und bringen das, was sie voneinander und von sich selbst trennt, zum Vorschein. Sie füllen die Leere und Stille, die durch fehlende oder fehlerhafte Beziehungen zu Mitmenschen entstanden sind. Sie geben ihren Besitzern das Gefühl, dass sie ihnen zuhören, dass sie sich um sie sorgen, für sie da sind und sprechen sie stets mit “Geliebtes Wesen” an.

Der Begriff des Ideenromans ist eine treffende Beschreibung für Bervoets Buch. Allerdings erweitert der Roman nicht, wie das Zitat auf dem Cover verspricht, die Grenzen der Literatur. Er bietet abwechslungsreiche Innenansichten, dringt in das Bewusstsein seiner Figuren ein, aber bleibt stets im Rahmen einer zugänglichen Literatur, die keine übermäßig hohen Anforderungen an den Leser stellt. Der Roman liest sich leicht, ist gekonnt geschrieben und macht Lust darauf, weitere Bücher der Autorin zu entdecken.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Surreal und fesselnd

Weiße Nacht
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Es ist der letzte Arbeitstag Ayamis in dem einzigen Hörtheater von Seoul. Am morgigen Tag soll es geschlossen werden. Aus einem Radio hört Ayami Stimmen und vor der Tür des Theaters droht ihr ein Mann, ...

Es ist der letzte Arbeitstag Ayamis in dem einzigen Hörtheater von Seoul. Am morgigen Tag soll es geschlossen werden. Aus einem Radio hört Ayami Stimmen und vor der Tür des Theaters droht ihr ein Mann, er wolle sie umbringen. Ihre Deutschlehrerin bittet sie außerdem, für einen bald in Korea ankommenden deutschen Dichter zu dolmetschen. Als Ayami jedoch mit dem Direktor des Theaters die Lehrerin besuchen will, ist diese verschwunden.

Schon der Versuch einer Inhaltsangabe wirkt fragmentarisch und unzusammenhängend. Bae Suahs Roman entzieht sich jeglicher einfachen Wiedergabe. Er ähnelt einem Traum, in dem die Protagonistin Geräusche hört, die sie eigentlich gar nicht hören kann, in dem Radios sich selbst anschalten und Busse ewig im Kreis fahren.

Es ist eine von Hitze und Dunkelheit geprägte Nacht, in der die Geschichte spielt. Weiß beleuchtete Gegenstände tauchen plötzlich in ihr auf. Ein Geschäft, eine Figur, eine Krähe, ein Fisch. Wie auf einer Bühne beleuchtet die Erzählung nur Bestimmtes, lenkt den Blick des Lesers und taucht alles andere in Schwärze.

​“Weiße Nacht” bewegt sich in einer verstörenden fieberhaften Welt, die keinen Boden zu haben scheint und in der alles möglich ist. Strukturen sind in ihr stets im Auflösen begriffen, denn die Grenzen von Realität und Fiktion verschieben sich ständig und gehen ineinander über. Es gibt keine Anfänge und keine Enden und somit ist auch Zeit nicht mehr linear zu verstehen. Stattdessen entsteht eine Erzählstruktur, die von Echos und Parallelen getragen wird. Es drängt sich der Eindruck eines Loops auf, einer komplexen Schleife, in der es zu Überlagerungen und Wiederholungen kommt. Der Roman selbst führt schon zu Beginn den Begriff des Klangschattens ein, der als selbstreflexiv verstanden werden kann, denn seine Szenen, Motive und Figuren ertönen und hallen an späterer Stelle im Roman nach.

​“Weiße Nacht” erzählt, so scheint es, unterschiedliche Versionen einer Geschichte, die sich allesamt miteinander verhaken und voneinander zehren. Identitäten und die Individualität der Figuren haben dabei keine Bedeutung mehr. Denn: “Alles verschwindet so schnell, wie es entsteht. Das gilt auch für Erinnerung. Es kann passieren, dass man aus seinem Haus tritt, zehn Schritte geht, sich umdreht und das Haus, das immer dort stand, nicht mehr existiert. Man findet es nie mehr. Das Gleiche kann auch mit Menschen geschehen.”

​Bae Suah hat einen außergewöhnlichen Roman geschrieben, der sich an die Grenzen der Literatur heranwagt. Unter seiner fieber- und traumhaften Atmosphäre lösen sich die Vorstellungen von Realität und Wirklichkeit auf. Was bleibt, ist eine wunderbar surreale Welt, die den Leser gefangen hält und ihn auch nach der letzten Seite des Buches nur schwer wieder loslässt.

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Veröffentlicht am 15.03.2023

Eine Seefahrt

Unter Deck
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Zu Beginn des Romans lernt Olivia Mac kennen, einen Bootsbesitzer, der sie ihren Rausch auf seinem Segelboot hat ausschlafen lassen. Er bietet ihr an, mit ihm und einer Freundin in den nächsten Wochen ...

Zu Beginn des Romans lernt Olivia Mac kennen, einen Bootsbesitzer, der sie ihren Rausch auf seinem Segelboot hat ausschlafen lassen. Er bietet ihr an, mit ihm und einer Freundin in den nächsten Wochen zu segeln. Der Segeltörn mit Mac und Maggie bringt Olivia dem Meer nahe und veranlasst sie dazu, die nächsten vier Jahre auf Segelschiffen zu arbeiten. Bis zu einem Törn, bei dem sie sich als einzige Frau mit einer Gruppe von Männern auf einer Yacht wiederfindet. Der Törn wird für sie zum Trauma. Eine Vergewaltigung und Demütigungen reihen sich aneinander und führen dazu, dass sich Olivia vom Leben auf dem Wasser verabschiedet. Sie zieht nach London, arbeitet fortan in einer Galerie und kuratiert Ausstellungen für Künstlerinnen. Doch die Erlebnisse der Vergangenheit lassen sie nicht los und sie merkt, dass sie sich ihnen stellen muss.

“Unter Deck” ist ein Roman über den Umgang von Männern mit Frauen in der heutigen Gesellschaft. Oli wird von den Männern auf der Yacht nicht als vollwertig genommen. Sie trauen ihr nicht zu, dass sie das Boot alleine segeln kann, trotz ihrer vierjährigen Erfahrung. Stattdessen sehen sie in ihr an erster Stelle ein Objekt der Begierde und höchstens noch eine Köchin. Ähnlich geht es vielen Künstlerinnen. Auch sie werden mit ihrer Arbeit nicht wahr- und ernstgenommen.
Der Roman erzählt davon, wie es ist, mit den eigenen Talenten, Wünschen, Zielen und Anliegen nicht in der Mitte stehen zu dürfen, sondern ständig an den Rand gedrängt zu werden. So wird auch der Zugang für POC zur höheren Bildung angesprochen oder der Umgang des sozialen Umfelds von Homosexuellen mit deren sexueller Identität.
Dass all diese Themen erwähnt werden ist theoretisch lobenswert. Allerdings sorgt es im Falle dieses Romans dafür, dass er teilweise zu konstruiert und überladen wirkt. Es entsteht das Gefühl, dass die Autorin alle nur erdenklichen Themen und Probleme der Gegenwart in ein Buch fassen wollte: #metoo, Klimawandel, die Verbrechen der Kolonialisierung, institutioneller Rassismus, usw. Das führt dazu, dass der Roman an Glaubwürdigkeit verliert und dass auch das Trauma, das seinen Mittelpunkt bilden soll, in den Hintergrund gerückt wird.

Sprachlich ist der Roman hingegen intensiv und wirkt oft poetisch, was auch mit der Synästhesie der Protagonistin zu tun hat, die sie Gefühle, Menschen, Szenen und Gegenstände in Farbe wahrnehmen lässt. Es sind vor allem die traumatischen Erlebnisse auf dem Boot, die sprachlich am meisten herausstechen. Der Autorin ist es gelungen, die Gefühlswelt der Protagonistin während dieser Zeit auf sehr eindrückliche und authentische Weise zu beschreiben, was schwierig ist und daher umso bemerkenswerter.

Ein Roman also, der nicht vollständig zu überzeugen vermag, aber sprachlich und hauptthematisch durchaus stark ist.

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