Profilbild von Lesereien

Lesereien

Lesejury Star
offline

Lesereien ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Lesereien über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.03.2023

Ein Roman, der zum Hinsehen zwingt

Vertraute Welt
0

Glupschaug, der junge Protagonist des Romans, lebt mit seiner Mutter in den 1980er Jahren in den Slums von Seoul. Die Armut ist nie fern und als der Vermieter mit der Kündigung droht, nimmt die Mutter ...

Glupschaug, der junge Protagonist des Romans, lebt mit seiner Mutter in den 1980er Jahren in den Slums von Seoul. Die Armut ist nie fern und als der Vermieter mit der Kündigung droht, nimmt die Mutter den Vorschlag eines Bekannten an. Sie erhofft sich damit einen festen Job und ein eigenes Heim. Doch anstelle von Freiheit erwartet sie eine noch größere Abschottung und ein Dasein am Rande der Gesellschaft, nämlich auf der Müllhalde.

Sok-yong schreibt aus der Perspektive der von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Er entführt den Leser in eine Welt, in der Menschen zwölf Stunden am Tag Müll aus riesigen Müllbergen picken müssen, sich mit dem herumschlagen müssen, was andere längst entsorgt haben und von Gestank, Fliegen, Tod, Verwesung, Zerbrochenem, Benutztem und Ausrangiertem umgeben sind. Der Müll liefert das Essen. Aus Müll werden die Hütten gebaut. Müll ist allgegenwärtig.

In Südkorea ist Hwang Sok-yong ein erfolgreicher Autor, dessen Werk bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Und die Lektüre alleine dieses Romans lässt erahnen, dass die Wertschätzung und der Erfolg seiner Romane sicherlich nicht unberechtigt ist. Denn Sok-yongs Gesellschaftskritik ist tiefgründig und auf eine subtile Art konfrontativ. Er deckt gesellschaftliche Strukturen und Missstände auf, indem er auf Bilder und Szenen zurückgreift, die durch ihre Aussagekraft überzeugen und nicht, indem er sich in langen Beschreibungen oder Anklagen verliert. Ein Beispiel dafür liefert eine Szene, in der eine Frauengruppe Nahrungsmittel an die Müllsammler und deren Kinder in der Kirche verteilt. Denn sie sind nur an den inszenierten Fotos interessiert und nicht daran, den Menschen wirklich zu helfen.

Der deutsche Titel des Romans „Vertraute Welt“ suggeriert, ebenso wie der englische “Familiar Things”, dass wir als Leser wissen, dass diese Welt existiert, dass sie uns alles andere als fremd ist. Wir verdrängen sie vielleicht, denken nicht über sie nach und überlassen sie den Anderen, aber genau das lässt der Roman nicht zu. Er zeigt, dass Glupschaugs Lebenswelt ein Resultat des immerwährenden Konsums, des Überflusses und der Verschwendung ist. Die beiden Welten, die die Stadt in eine Mitte und in einen Rand aufteilen, sind aufs engste miteinander verknüpft und können nicht getrennt voneinander gedacht werden. Daher stellt der Roman letztlich auch die Frage von gesellschaftlicher Verantwortung und zwingt zum Hinsehen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.03.2023

Eine Bereicherung

Bei Regen in einem Teich schwimmen
0

Wie funktionieren Geschichten eigentlich? Welche Erwartungen wecken sie im Leser und wie lenken sie die Wahrnehmung?

Diesen Fragen geht George Saunders in seinem neuen Buch “Bei Regen in einem Teich ...

Wie funktionieren Geschichten eigentlich? Welche Erwartungen wecken sie im Leser und wie lenken sie die Wahrnehmung?

Diesen Fragen geht George Saunders in seinem neuen Buch “Bei Regen in einem Teich schwimmen” nach, indem er sich intensiv sieben Kurzgeschichten der russischen Meister annimmt. Er kann dabei auf seinen Erfahrungen als Dozent an der Syracuse University aufbauen, wo er jahrelang Creative Writing unterrichtet hat. Wir als Leser haben nun die wunderbare Möglichkeit, in eines seiner Seminare reinzuschnuppern. Wir können unter Saunders Anleitung das entdecken, was Literatur ausmacht und tauchen tief in die Zeilen der von ihm ausgewählten Kurzgeschichten ein.

Ich bin davon überzeugt, dass dieses Buch jeden, der sich für Literatur interessiert, begeistern wird. Es ist klug und zeugt von einem tiefen Verständnis für die Gattung der Kurzgeschichten, der Saunders sich selbst als Autor gewidmet hat. Sein eigenes Können beweist er im Übrigen in seinen Erläuterungen, die seinen Humor und seinen meisterhaften Umgang mit Sprache widerspiegeln.

“Bei Regen in einem Teich schwimmen” ist ein Buch für alle leidenschaftlichen Leser, Fans von Kurzgeschichten und der russischen Literatur, für Nerds der Literaturwissenschaft und Close Reading-Liebhaber, für angehende Schriftsteller und Hobbyautoren. Und auch allen anderen, die sich in dieser Liste nicht wiederfinden, kann das Buch nur ans Herz gelegt werden! Es ist eine Bereicherung und ein riesiges Vergnügen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.03.2023

Lose und vage

Ich. Sie. Die Frau
0

„Ich. Sie. Die Frau“ geht den möglichen Versionen eines Lebens nach. Mal ist die Protagonistin mit einem Mann verheiratet, dann verliebt sie sich in eine Frau. Sie kann Affären und Geliebte haben, ist ...

„Ich. Sie. Die Frau“ geht den möglichen Versionen eines Lebens nach. Mal ist die Protagonistin mit einem Mann verheiratet, dann verliebt sie sich in eine Frau. Sie kann Affären und Geliebte haben, ist selbst Schriftstellerin oder die Figur im Roman ihrer eigenen Freundin.

Diese möglichen Varianten sind im Roman gleichwertig. Sie folgen nicht aufeinander, bedingen sich nicht, sondern stehen nebeneinander. Im Grunde besteht der Roman somit aus mehreren Geschichten, die selbstständig sind und denen es oft an Verbindungen fehlt. Als Leser wünscht man sich mehr Tiefe während man durch diese unterschiedlichen Leben geht und sie miteinander in Verbindung zu setzen versucht. Es hätte mehr roter Fäden bedurft, damit der Roman sein Potential hätte entfalten können. So wirkt alles äußerst lose und vage.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.03.2023

Ein starker Debütroman

Mama
0

Während sie ihr erstes Kind erwarten, kommen Amira und Josef in eine Hütte im Wald. Josef hat dort seine Kindheit verbracht, abgeschieden von der Welt. Doch bald schon beginnt Amira, Merkwürdiges um sich ...

Während sie ihr erstes Kind erwarten, kommen Amira und Josef in eine Hütte im Wald. Josef hat dort seine Kindheit verbracht, abgeschieden von der Welt. Doch bald schon beginnt Amira, Merkwürdiges um sich herum wahrzunehmen. Sie sieht in einer Gewitternacht einen Wanderer, verscheucht aus ihrem Garten eine Hündin, die ihre eigenen Welpen tötet. Auch entdeckt sie Blutspuren im Haus und sogar Josef scheint ihr plötzlich gefährlich. Und dann ist da noch der Wald, der sie umgibt, umhüllt, sie gleichzeitig beschützt und nicht freizugeben scheint.

Jessica Lind hat einen atmosphärischen Debütroman geschrieben, der mit den Grenzen der Wahrnehmung spielt. Realität und Traum gehen ineinander über, Zeit und Raum scheinen außer Kraft gesetzt zu sein. In Amiras Bewusstsein und in ihren Erinnerungen klaffen Lücken auf, ihr Blick in die Welt ist kein zuverlässiger.

Indem sie das Unheimlichen, das Albtraumhafte und die Psyche ihrer Protagonistin in den Vordergrund stellt, untersucht Lind, was Mutterschaft bedeutet. Sie bricht mit idealisierten Bildern und Vorstellungen und schafft stattdessen das Porträt einer Mutter, die mit ihrer eigenen Unsicherheit zu kämpfen hat.

Ein starker Debütroman, der Lust darauf macht, mehr von der Autorin zu lesen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.03.2023

Kurz, interessant, empfehlenswert

Eine Seuche in der Stadt
0

Ulitzkaja erzählt in diesem kurzen Buch, eine Geschichte, die auf einem wahren Kern beruht und ursprünglich als Drehbuch verfasst wurde. Es geht um den drohenden Ausbruch einer Lungenpest-Seuche in Moskau ...

Ulitzkaja erzählt in diesem kurzen Buch, eine Geschichte, die auf einem wahren Kern beruht und ursprünglich als Drehbuch verfasst wurde. Es geht um den drohenden Ausbruch einer Lungenpest-Seuche in Moskau im Jahr 1939. Durch das Eingreifen des sowjetischen Geheimdienstes, durch strikte Quarantänen und Nachverfolgungen kann eine Epidemie jedoch verhindert werden.

Sehr anschaulich zeigt die Geschichte, wie eng gestrickt das Netz des Geheimdienstes ist und wie tief die Angst sitzt, die er in den Bürgern des Landes auslöst. Terror und Angst, die durch die Staatsmacht verbreitet werden, aber auch durch die Natur in Form der Pest, stehen sich in diesem Drehbuch gegenüber.

Eine kurze, zuweilen fragmentarisch anmutende, aber trotzdem interessante Lektüre. Empfehlenswert!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere