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Veröffentlicht am 03.03.2023

Horizonterweiternd

Tier werden
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Wo verlaufen eigentlich die Grenzen, die uns vom Tier unterscheiden? Und wie nehmen wir sie wahr? Diesen Fragen widmet sich Teresa Präauer in ihrem hundert Seiten langen Essay "Tier werden".

Sich auf ...

Wo verlaufen eigentlich die Grenzen, die uns vom Tier unterscheiden? Und wie nehmen wir sie wahr? Diesen Fragen widmet sich Teresa Präauer in ihrem hundert Seiten langen Essay "Tier werden".

Sich auf Beispiele aus der Literatur, Kunst, Philosophie, Kultur, Religion und Naturwissenschaft stützend, nähert sich Präauer dem an, was den Blick des Menschen auf das Tier ausmacht. Es sind die Grenzorte, die dabei besonders aussagekräftig sind: Tiermenschen und Opfertiere, mythologische Mensch-Tier-Figuren wie die Harpyien, Wolfskinder, die sprechenden Tiere der Literatur oder vermenschlichte Haustiere.

Das Buch ist eine Spurensuche und Zeitreise von den ersten Höhlenmalereien bis in die Gegenwart. Präauer lässt den Blick schweifen und macht deutlich, dass die vermeintlich klare Trennung von Mensch und Tier bei genauerer Betrachtung und in kultureller Hinsicht fließend oder sogar hinfällig ist. Wir vergleichen uns sprachlich mit Tieren, verkleiden uns als Tiere, um den Winter zu vertreiben, bedrucken unsere Kleidung mit Fellmustern oder lassen uns von Apps Hundeohren aufsetzen und mit Katzenschnuten ausstatten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Was am Ende des Essays bleibt, sind Einblicke in unsere Faszination für die Grenzräume und die darin existierenden zahlreichen Vermischungen, Überschreitungen und Hybridisierungen zwischen Mensch und Tier.

Und noch etwas bleibt am Ende, nämlich dass „der Blick auf das Tier, das gezeichnet und beschrieben worden ist, das erfunden worden ist, [...] ein medial vermittelter [ist] – und doch zeigt sich darin etwas so unmittelbar: unser Blick auf uns selbst, unser Blick auf die Welt, und wie er sich formt im Lauf der Zeit, und schließlich die Hoffnung auf die Möglichkeit, dass die Blicke erwidert werden.“

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Ermüdend und aufgesetzt

bitterer zucker
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“Zu behaupten, ich hätte mich niemals über das Leid meiner Mutter gefreut, wäre eine glatte Lüge.”

Mit diesem Satz beginnt Avni Doshis Debütroman “Bitterer Zucker”, der die Geschichte einer schwierigen ...

“Zu behaupten, ich hätte mich niemals über das Leid meiner Mutter gefreut, wäre eine glatte Lüge.”

Mit diesem Satz beginnt Avni Doshis Debütroman “Bitterer Zucker”, der die Geschichte einer schwierigen und von Konflikten getragenen Beziehung zwischen Mutter und Tochter erzählt. Das Verhältnis ist geprägt von Vorwürfen und von Erinnerungen an eine Vergangenheit, die für beide schmerzlich war. Nun, da die Mutter an Demenz erkrankt und pflegebedürftig ist, wird die Tochter mit ihren Erlebnissen aus der Kindheit und Jugend konfrontiert.

So vielversprechend der erste Satz auch klingen mag, so enttäuschend ist der gesamte Rest des Romans. Er verliert sich in einem ständigen Hin und Her, trifft keine Aussagen und schafft es nicht, seine Charaktere glaubwürdig darzustellen. Außerdem fühlt sich keine der zwischenmenschlichen Beziehungen nachvollziehbar und authentisch an. Alles wirkt künstlich, aufgesetzt, gezwungen.

Letztlich ist der Roman ermüdend und vermag es nicht, unter die Oberfläche dessen zu dringen, was er zu erzählen versucht. Er will den Anschein von psychologischer Tiefe erwecken, indem er zahlreiche literarische und gesellschaftliche en vogue-Themen einbaut, doch auch das ist zum Scheitern verurteilt.

Diese Geschichte einer Tochter, die sich um die demenzkranke Mutter kümmern muss, obwohl sie selbst in der Kindheit scheinbar vernachlässigt wurde, hätte eindrücklicher und einfühlsamer erzählt werden müssen. Leider ist das der Autorin nicht gelungen. Schade!

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Eine Bereicherung

Schnee fällt auf Chinas Erde
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Obwohl Ai Qing (1910-1996) einer der bekanntesten chinesischen Dichter der Moderne ist, ist sein Werk in Deutschland fast völlig unbekannt. Als Vertreter der Neuen Lyrik, schrieb er in einer verständlichen ...

Obwohl Ai Qing (1910-1996) einer der bekanntesten chinesischen Dichter der Moderne ist, ist sein Werk in Deutschland fast völlig unbekannt. Als Vertreter der Neuen Lyrik, schrieb er in einer verständlichen Sprache gegen das Monopol der Gelehrten an, denen das Verfassen und Lesen von Lyrik vorbehalten war. Themen wie Armut und das Elend der Landbevölkerung stehen in den Werken der Neuen Lyrik außerdem zum ersten Mal im Zentrum von chinesischen Gedichten.

Nun ist eine Auswahl seiner Gedichte in der Übersetzung von Susanne Hornfeck unter dem Titel "Schnee fällt auf Chinas Erde" erschienen. Begleitet werden die Gedichte von einem Vorwort Ai Weiweis, dem berühmten Künstler und Sohn des Dichters, von Anmerkungen und einem Nachwort der Übersetzerin, sowie von Auszügen aus den Notizbüchern Ai Qings, die Einblicke in sein dichterisches Selbstverständnis geben.

Die Gedichte sind eine Zeitreise in das letzte Jahrhundert, in die Geschichte und Kultur Chinas und nicht zuletzt in das Leben Ai Qings. Ein Leben, das geprägt war von jahrzehntelangen Schreibverboten, von Aufenthalten in Straflagern und Gefängnissen. Verse wie “Aus der Dunkelheit/ blicke ich sehnsuchtsvoll/ auf ein Universum” oder “Ich sehne mich nach einem fernen Horizont” führen dem Leser “das Grauweiß” des persönlichen Unglücks vor Augen.

Ai Qings Gedichte werden stets von sprachlicher Schönheit, Prägnanz und Tiefe getragen. Vor den Augen des Lesers entstehen Bilder, die durch ihre Farbkraft und Klarheit bestechen. Es gelingt Ai Qing, Landschaften zum Leben zu erwecken und den Alltag und die Armut der Bauern Nordchinas aus der Nähe darzustellen. Motivisch ziehen sich Krieg, Elend, aber auch Hoffnung und Frühling wie ein roter Faden durch den Gedichtband.

Die Gedichte sind Spiegelbild eines Landes, eines Lebens, von persönlichen Entwicklungen und einer Weltsicht, die zeitweise von der Ideologie der kommunistischen Partei beeinflusst ist, aber sich später auch nicht davor scheut, sie zu kritisieren.

Der Band ist eine Bereicherung für jeden Leser. Er erweitert den persönlichen Horizont, gräbt sich ins Gedächtnis ein und muss deshalb empfohlen werden.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Zu Unrecht vergessen

Sodom und Berlin
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Yvan Golls Roman „Sodom und Berlin” ist eine rasante Stadtrundfahrt, ein faszinierendes, groteskes und surreales Porträt eines Ortes und seiner Menschen. Berlin wird schon zu Beginn mit dem Tod, mit Finsternis, ...

Yvan Golls Roman „Sodom und Berlin” ist eine rasante Stadtrundfahrt, ein faszinierendes, groteskes und surreales Porträt eines Ortes und seiner Menschen. Berlin wird schon zu Beginn mit dem Tod, mit Finsternis, Wahnsinn und Dekadenz gleichgesetzt. Die Pflastersteine der Stadt klaffen auf und die Assoziation mit der mythologischen Unterwelt drängt sich dem Leser auf.

Der Hochstapler Odemar Müller ist die Hauptfigur dieser Geschichte, den es zuerst nach Bonn in eine Studentenverbindung schlägt, der dann an der Front kämpft, in Berlin landet und als Redakteur arbeitet, kurz darauf eine mystische Gesellschaft gründet und schließlich der wohl einzige Träger eines Bazillus ist, der Europa zugrunde richten wird.

Golls Roman spiegelt das Wesen der Zwischenkriegszeit wider. Sie wird als apokalyptisch, dekadent und „vermodernd” dargestellt. Ihre Menschen sind Wracks, sind „innerlich bereits völlig ausgehöhlt”. Hunger, Elend und Armut prägen das Stadtbild: „Draußen fror und hungerte Berlin. Das deutsche Elend nahm katastrophale Ausmaße an.” Es ist in dieser Zeit, in der sich Menschen nach Liebe, Freiheit, Idealen und nach Sinn sehnen. Die Figuren des Romans verkörpern diese Sehnsüchte auf anschauliche Weise.

Die editorische Notiz des Verlags am Ende des Buches weist den Leser darauf hin, dass die Anspielungen im Roman so zahlreich sind, dass Kommentare insgesamt länger als der Text selbst werden würden. Und das macht sich schon früh während des Lesens bemerkbar. Der Text funktioniert auf mehreren Ebenen, ist so vielschichtig und bildreich, dass eine einmalige Lektüre sicherlich nicht ausreicht, um ihn in seiner Gänze erfassen zu können.

Gleichzeitig überfordert der Roman nicht, sondern macht Spaß und lässt den Leser fast durchgängig vergessen, dass er vor etwa einem Jahrhundert entstanden ist. Zu Unrecht hat die Nachwelt Golls Werk so wenig Aufmerksamkeit geschenkt und deshalb rate ich euch, euch schleunigst ein Exemplar dieser wunderschönen Ausgabe aus dem Manesse Verlag zu sichern. Es lohnt sich!

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Ein Denkmal fur die Frauen vom Land

Land der Frauen
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Nach dem Tod ihres Großvaters beginnt die Schriftstellerin und Tierärztin María Sánchez über ihre Familie, ihre Vorfahren und über das Leben auf dem Land nachzudenken. Sie stellt fest, dass sie sich stets ...

Nach dem Tod ihres Großvaters beginnt die Schriftstellerin und Tierärztin María Sánchez über ihre Familie, ihre Vorfahren und über das Leben auf dem Land nachzudenken. Sie stellt fest, dass sie sich stets ihren Großvater und Vater zum Vorbild genommen hat, weil sie Tierärzte waren. Ihre Mutter war ihr hingegen lange Zeit kein Vorbild und über ihre Großmutter väterlicherseits weiß sie fast gar nichts. Sie erkennt, dass die Frauen auf dem Land „im Schatten bleiben und ohne Stimme”. Dabei sind sie es, die häufig härter arbeiten, die sich nicht nur um die Feldarbeit kümmern müssen, sondern auch noch um den Haushalt, die Kinder und die Tiere.

„Land der Frauen” will diese Frauen aus der Verbannung des Schweigens befreien, sie aus dem Schatten ins Licht stellen. Sánchez gibt ihnen eine Stimme und erschafft einen literarischen Raum, in dem ihre Geschichten erzählt werden können.

Sie schreibt gegen die Verherrlichung der männlichen Landbevölkerung und ihrer Arbeit an, gegen die Tatsache, dass Frauen den Boden nicht besitzen, dass sie keinen Lohn erhalten, ihre Arbeit als selbstverständlich betrachtet wird, sie keinen Arbeitsvertrag haben und doch jeden Tag hart arbeiten, etwas entgegen. Auch die Arbeitsbedingungen von Erntehelferinnen, die ständig der Gewalt von Männern ausgesetzt sind, bleiben nicht unerwähnt.

Ihr Buch ist der Versuch, das Bild einer ländlichen Welt, die männlich geprägt ist, geradezurücken. Es ist ein Plädoyer für die Gleichberechtigung von Frauen, für die Wertschätzung ihrer Geschichten, ihrer Arbeit und auch für ein selbstbestimmtes Erzählen. Denn oft ist der Blick auf das Landleben nicht nur ein männlicher, sondern auch noch ein städtischer.
María Sánchez setzt ihrer Mutter, ihren Großmüttern und den Frauen auf dem Land ein Denkmal und appelliert gleichzeitig auf eine kluge und überzeugende Art an den Leser, den eigenen Blick zu ändern. Es ist längst überfällig!

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