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Veröffentlicht am 03.03.2023

Viel Potential

Dinge, an die wir nicht glauben
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Mike und Benson sind seit vier Jahren ein Paar. Doch in ihrer Beziehung hat sich ein Graben aufgetan. Sie reden kaum noch miteinander und leben aneinander vorbei. Nun ist Mikes Vater, der in Osaka lebt, ...

Mike und Benson sind seit vier Jahren ein Paar. Doch in ihrer Beziehung hat sich ein Graben aufgetan. Sie reden kaum noch miteinander und leben aneinander vorbei. Nun ist Mikes Vater, der in Osaka lebt, schwer erkrankt und Mike entschließt sich dazu, in den letzten Lebenswochen des Vaters für ihn da zu sein. Seine Abreise bedeutet jedoch, dass er seine Mutter Mitsuko mit Benson alleine lässt. Im Folgenden erzählt der Roman in drei Teilen vom Aufeinanderprallen von Kulturen und Generationen, von Verlust und Enttäuschungen, aber auch von Liebe, Annäherung und Verständnis.

Zunächst hatte ich, ehrlich gesagt, die Befürchtung, dass ich das Buch zu oberflächlich und zu seicht finden könnte. Dass sich dieser Eindruck manch einem Leser zu Beginn aufdrängen mag, liegt sicherlich an der einfachen Sprache, die das Geschehen in kurzen Sätzen und Dialogen wiedergibt.
Doch wenn man sich auf Washingtons Erzählstil einlässt, dann öffnet sich eine fiktive Welt, in der Beziehungsprobleme, Kommunikation und Kommunikationsunfähigkeit, Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern und die Aufarbeitung der eigenen familiären Vergangenheit thematisiert werden.

Bryan Washington gelingt es auf eindrückliche Weise, die Beziehung zwischen Mike und Ben zu sezieren. Der Roman stellt dar, wie Beziehungen in unserer heutigen Zeit funktionieren. Gleichzeitig öffnet er den Blick auf das Zusammenleben eines scheinbar ungleichen Paares und lässt beide Partner zu Wort kommen. Der Roman wirkt dadurch nie einseitig.

Neben diesem Aufbrechen des Inneren von Bens und Mikes Beziehung, ist “Dinge, an die wir nicht glauben” auch ein Roman über Familie, über Akzeptanz, darüber, wie es ist, wenn man sich von den eigenen Eltern im Stich gelassen fühlt. Besonders die Beziehung zwischen Mike und seinem Vater nimmt einen großen Teil des Romans ein. Mit dem Tod des Vaters vor Augen, müssen die beiden miteinander auskommen, zueinander finden und all das, was hinter ihnen liegt, bewältigen.

Die vielleicht größte Stärke des Romans ist jedoch, dass Charaktere, die man in zweifacher beziehungsweise sogar dreifacher Hinsicht als marginalisiert bezeichnen könnte, ganz selbstverständlich in den Mittelpunkt gerückt werden, ihnen eine Stimme gegeben wird und dadurch eine Nähe zu ihnen entsteht. Mike ist japanischstämmig, schwul und übergewichtig. Und Benson schwarz, schwul und HIV-positiv. Doch es sind nicht alleine und ausschließlich diese Eigenschaften, durch die sie charakterisiert werden.

Seien wir ehrlich, manche Dialoge sind vielleicht etwas überzogen oder wirken etwas zu abgehackt, doch wenn man an solchen erzählerischen Details hängenbleibt, dann verpasst man eine Geschichte, die viel zu sagen hat und deren Figuren das Potential haben, einem ans Herz zu wachsen.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Unterhaltsam

Louma
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Als Louma stirbt, lässt sie vier Kinder von zwei Ehemännern zurück. Toni, Fabi, Fritte und Nano sind plötzlich Halbwaisen und es stellt sich die Frage, wer sich um sie kümmern soll. Mo, Loumas zweiter ...

Als Louma stirbt, lässt sie vier Kinder von zwei Ehemännern zurück. Toni, Fabi, Fritte und Nano sind plötzlich Halbwaisen und es stellt sich die Frage, wer sich um sie kümmern soll. Mo, Loumas zweiter Ehemann, mit dem sie in den letzten Jahren zusammengelebt hat? Oder soll Tristan, Loumas Ex-Mann, Toni und Fabi zu sich nehmen und die Halbgeschwister voneinander trennen?

Als Fritte den Vorschlag macht, Tristan könnte zu ihnen ziehen, verändert sich das Leben aller. Tristan und Mo unterscheiden sich nicht nur charakterlich, sondern haben auch gegensätzliche Einstellungen zum Leben. Während in Tristans Lebenskonzept, in dem die Arbeit im Mittelpunkt steht, kein Platz für Kinder zu sein scheint, hängt Mo an allen vier Kindern und fühlt sich als deren Vater.

Mos und Tristans Aufeinandertreffen und ihre anfängliche Beziehung zueinander ist von Vorurteilen geprägt. Während Mo Tristan für einen Snob und einen Rabenvater hält, ist Mo in Tristans Augen ein Verlierer. Doch diese Be- und Verurteilungen, die zwischen ihnen stehen, müssen sie überbrücken, um miteinander leben und sich gemeinsam um die Kinder kümmern zu können. Der Roman stellt diesen Prozess der Annäherung gekonnt dar und hält die Hochs und Tiefs, die die Beziehung der beiden Männer auszeichnen, fest.

Im Zentrum dieses Romans steht der Verlust eines Menschen, der eine Familie zusammengehalten hat, ebenso wie der Umgang der einzelnen Familienmitglieder mit diesem Verlust und ihrer Trauer. Es geht dabei um Schuldgefühle, Vorwürfe, die Bewältigung von Vergangenem, Vertrauen, Verantwortung und Verständnis.

“Ohne Lou waren Sie den Fliehkräften schutzlos ausgeliefert. Im Planetensystem ihrer Familie war Lou die Sonne gewesen. Er war, genau wie die Kinder, einer der Planeten, die von ihrer Anziehungskraft zusammengehalten wurden. Die Sonne war verschwunden. Es gab kein Zentrum mehr. Keine Mitte. Keine Anziehungskraft. Die Planeten schossen einfach nur haltlos in die Dunkelheit hinaus, bis sie irgendwo mit der Realität kollidieren würden.”

Christian Schnalke zeichnet seine Charaktere mit viel Feingefühl. Sie wirken nicht überzogen, sondern stets natürlich in ihrem Denken, Handeln und in ihrer Bewältigung der Trauer. Während des Romans müssen sie außerdem nicht nur ihren Platz in der eigenen Familie finden, sondern lernen auch sich selbst besser kennen und entwickeln sich in ungeahnte Richtungen.

Der Schicksalsschlag, der der Familie eine neue Form gibt und sie auf eine interessante Weise miteinander verflicht, ergibt eine Geschichte, die mal leicht und mal schwer ist, aber stets unterhaltsam und deshalb empfehlenswert.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Liest sich wie ein Thriller

Undercover
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Murat Cem kommt als Kind türkischer Gastarbeiter nach Deutschland. Sein Umfeld ist geprägt von Gewalt, Drogen und gescheiterter Integration. Haltlos rutscht er in die Drogenszene seines Problemviertels ...

Murat Cem kommt als Kind türkischer Gastarbeiter nach Deutschland. Sein Umfeld ist geprägt von Gewalt, Drogen und gescheiterter Integration. Haltlos rutscht er in die Drogenszene seines Problemviertels hinein. Als die Polizei ihn festnimmt, verrät er seinen besten Freund, der gleichzeitig sein Partner im Drogengeschäft ist und entgeht so einer längeren Gefängnisstrafe.

Im Folgenden entwickelt er eine immer engere Beziehung zur deutschen Polizei. Schon bald hilft er ihnen dabei, Kriminelle und Drogendealer zu entlarven. Es gelingt ihm sogar, einen Mordfall aufzuklären und dem Mörder ein Geständnis abzuringen. Seine Arbeit wird für die Polizei so wertvoll, dass er immer häufiger Aufträge bekommt, teilweise an mehreren Orten gleichzeitig arbeitet und schließlich als wichtigste Vertrauensperson in den innersten Kreis der Salafistenszene eindringt und Anschläge verhindert.

Doch nicht immer geht alles glatt. Einmal fliegt Cem durch seine echten Papiere auf, einmal errät seine Zielperson, dass er ein Spitzel ist, ein anderes Mal fährt er mit einer Handgranate im Kofferraum durch die Gegend.

Ein Jahr lang haben die Redakteure des Spiegel mit Cem über sein Leben, seine Familie und seine Tätigkeit als V-Mann geredet. Entstanden ist ein Porträt, das durch seinen Detailreichtum und seine unbeschönigten Einblicke in von Gewalt, Kriminalität, Fanatismus und Radikalität geprägte Welten besticht.

Gleichzeitig ist es ein kritisches Porträt, das einem im System Unsichtbaren und Stummen eine Stimme verleiht. Das Buch offenbart die Mängel und gesetzlichen Lücken, die dazu führen, dass die eigenen Mitarbeiter nicht geschützt werden, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, letztlich ihr Leben in einem Zeugenschutzprogramm fristen müssen und, wie im Falle von Cem, arbeitslos sind.

Das Buch lebt von seinem Protagonisten, von dessen Wandelbarkeit, dessen Anpassungsfähigkeit und dessen scheinbar mühelosem Wechsel zwischen den Welten. Auf 300 Seiten fasst dieses Buch zwanzig Jahre eines Ausnahmelebens zusammen, das es in sich hat.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Überzeugend

Die Letzte macht das Licht aus
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In Bethany Clifts Debütroman “Die Letzte macht das Licht aus” greift ein höchstansteckendes Virus um sich. Es ist das Jahr 2023 und die Welt steht kurz vor dem Abgrund. Denn 6DM, oder Six Days Maximum, ...

In Bethany Clifts Debütroman “Die Letzte macht das Licht aus” greift ein höchstansteckendes Virus um sich. Es ist das Jahr 2023 und die Welt steht kurz vor dem Abgrund. Denn 6DM, oder Six Days Maximum, hat eine Todesrate von 100%. Oder zumindest fast. Denn die Protagonistin des Romans überlebt das Virus als einzige. Nachdem sie ihrem Mann, ihren Nachbarn und Kollegen beim Sterben zusehen musste, findet sie sich in einem verlassenen London wieder.

Es war nicht das Thema der Pandemie, welches mich bei diesem Roman angesprochen hat (das wäre für mich sogar eher ein Grund dafür gewesen, ihn nicht zu lesen), sondern weil seine Inhaltsangabe mich an “Die Wand” von Marlen Haushofer erinnert hat oder auch an “Vom Ende An” von Megan Hunter. Beide Romane versetzen ihre Protagonistinnen in Extremsituationen, in denen sie lernen müssen, mit der neugewonnenen Freiheit und Unabhängigkeit umzugehen. Es ist der Bruch mit der Gesellschaft, mit vorgeschriebenen Rollenbildern und Erwartungshaltungen, der dazu führt, dass die Frauen zum ersten Mal die Möglichkeit haben, zu sich selbst zu finden.

Auch in Clifts Roman ist dies so. Ihre Protagonistin blickt zurück auf Lebensjahre, in denen sie ihre eigenen Ansprüche an das Leben und ihr eigentliches Wesen den Erwartungen von Männern untergeordnet hat. Nach außen hin wird sie zu einer “perfekte[n] Frau. Ich hatte keine Schwächen, keine Fehler”. Doch innerlich herrschen Chaos und Depressionen; Panikattacken und Selbstzweifel plagen sie.

Die Pandemie, das Alleinsein und die Freiheit sind die Voraussetzung dafür, dass die Protagonistin sich aus dem gesellschaftlichen Korsett, in das sie jahrelang gezwängt wurde und das ihr immer mehr die Luft zum Atmen genommen hat, befreien kann. Das Virus und seine Folgen bilden somit den Hintergrund für den Weg, den Clifts Protagonistin beschreiten muss, um zu lernen, wer sie sein kann und sein will.

Ein Hintergrund, der es, und das darf nicht ungesagt bleiben, in sich hat und nicht selten an Cormac McCarthys “Die Straße” erinnert. Der totale Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation dauert nur einige Tage. Dann machen sich ganze Scharen von Ratten, Wölfen, Möwen und Hunden breit. Ohne zu zögern und auf unnachgiebige und rücksichtslose Weise übernimmt die Natur den ehemaligen Lebensraum der Menschen.

Trotz dieses dunklen und voller Gefahren lauernden Backdrops gelingt es der Autorin, immer wieder kleine Momente voll Humor in die Geschichte einzubauen, die nie fehlplatziert wirken. So heißt es beispielsweise: “Als bekannt wurde, dass es gegenwärtig nur eine Teeplantage im ganzen Vereinigten Königreich gab, kam es zu Unruhe.”

“Die Letzte macht das Licht aus” ist überzeugend, vielleicht auch gerade deshalb, weil wir selbst noch mit einer Pandemie zu kämpfen haben, wodurch die im Roman beschriebenen Ereignisse wahrscheinlich und denkbar wirken. Das wäre vor zwei Jahren vielleicht noch nicht der Fall gewesen. Aber auch davon abgesehen hat der Roman etwas zu bieten, nämlich die Reise in die Unabhängigkeit der Protagonistin.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Ein gelungener Roman

Des Lebens fünfter Akt
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Bekannt ist Arthur Schnitzler bis heute als brillanter Novellist. Werke wie seine “Traumnovelle” haben schon zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass er als Schriftsteller ein hohes Ansehen genoß und sich mit ...

Bekannt ist Arthur Schnitzler bis heute als brillanter Novellist. Werke wie seine “Traumnovelle” haben schon zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass er als Schriftsteller ein hohes Ansehen genoß und sich mit den großen Denkern und Autoren seiner Zeit in Briefen austauschte. Volker Hage konnte für seinen Roman daher unter Anderem auf Korrespondenzen mit Hofmannsthal, Freud, Thomas Mann und Stefan Zweig zurückgreifen.

Zitate und Ausschnitte aus diesen Briefen, sowie aus den eigenen Aufzeichnungen Schnitzlers fügen sich dabei stets harmonisch und sinnvoll in das Erzählte ein und wirken nie wie Fremdkörper. Es gelingt Hage, ein einfühlsames Porträt des Schriftstellers zu zeichnen, das es dem Leser ermöglicht, sich Schnitzler nahe zu fühlen.

Als Beginn des Romans hat Hage den wohl größten Einschnitt in Schnitzlers Leben ausgewählt: Den Selbstmord der achtzehnjährigen Tochter Lili: “Lili, die Tochter, die er geliebt hatte wie keinen anderen Menschen, sie lebte nicht mehr. Es gab keine Worte dafür. Er überließ sich dem Schmerz [...]. Ihn umgab eisige Finsternis.” Der Verlust der einzigen Tochter prägt ihn grundlegend und er nimmt sein Leben fortan nur noch als eines war, “das es abzuleben galt”.
Schicksalsschläge und Verluste dieser Art begleiten den Schriftsteller jedoch nicht erst in seinen späteren Lebensjahren. Denn auch seine große Liebe Marie Reinhard starb früh. Der Tod ist nie fern in diesem fünften Akt.

“Des Lebens Fünfter Akt” ist ein gelungener Roman, der Sprache, Stil und Erzählinstanz in den Hintergrund rücken lässt, um seiner Hauptfigur vollständig die Bühne zu überlassen. Schnitzler wird sowohl als Schriftsteller als auch als Mensch der Raum gelassen, sich selbst durch sein Werk, seine Beziehungen und durch seinen Lebensweg darzustellen. Um den Mann hinter den Novellen besonders in seinen letzten Lebensjahren kennen- und verstehen zu lernen, sollte man sich diesem Roman widmen.

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