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Veröffentlicht am 25.07.2022

Porträt der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter

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Dieser Beitrag wurde entfernt. Das ist ein Satz, dem jeder von uns im Internet schon begegnet ist. Aber wissen wir auch, was dahinter steht und wer da was entfernt hat?

Ich bin den „digitalen Aufräumarbeitern“ ...

Dieser Beitrag wurde entfernt. Das ist ein Satz, dem jeder von uns im Internet schon begegnet ist. Aber wissen wir auch, was dahinter steht und wer da was entfernt hat?

Ich bin den „digitalen Aufräumarbeitern“ zum ersten Mal in Form eines Theaterstücks begegnet, das gezeigt hat, was es mit einem Menschen macht, wenn er tagtäglich in die Abgründe des Internets starren muss. Um diese Art der Arbeit wird natürlich ein Mantel des Schweigens gehüllt. Denn das, was darunter zum Vorschein kommt, ist so unmenschlich, dass es nur fassungslos machen kann.

Hanna Bervoets bricht dieses Schweigen in ihrem neuen Roman. Ihre Protagonistin arbeitet für eine Firma, die Beiträge für eine große Plattform prüft. Mindestens fünfhundert Beiträge müssen pro Tag gesichtet werden, Pausen gibt es im Grunde keine und wenn die Genauigkeitsrate eines Mitarbeiters unter 90% Prozent liegt, steigt der Druck auf ihn. Doch diese Arbeitsbedingungen sind nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist der Content, die Videos von Kindern und Teenagern, die sich selbst verletzten, die Tiere, die getötet werden und die ganze Bandbreite der Verschwörungstheorien.

Der Protagonistin des Romans scheint die Arbeit jedoch nichts auszumachen. Während ihre Kollegen psychisch immer mehr leiden und nicht zuletzt beginnen, den Verschwörungstheorien selbst Glauben zu schenken, bleibt Kayleigh scheinbar unbeeindruckt. Oder?

Bervoets Roman ist ein Porträt der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter und stellt dabei diejenigen in den Mittelpunkt, die nicht im Silicon Valley arbeiten, die nicht vom Boom des Internets und des Digitalen profitieren, sondern die ganz im Gegenteil in deren Schatten stehen und die Drecksarbeit machen müssen. Dieses Thema ist so wichtig, dass das Buch meines Erachtens nach ruhig hätte länger sein können. Aber auch so bietet es einen starken und eindrücklichen Ausgangspunkt für weitere Gedanken und hoffentlich für eine gesellschaftliche Debatte.

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Veröffentlicht am 25.07.2022

Das Schicksal zweier Frauen

Die Wunder
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Elena Medels Roman “Die Wunder” folgt den Schicksalen zweier Frauen, María und Alicia, Großmutter und Enkelin. Beide haben mit gesellschaftlichen und patriarchalen Strukturen zu kämpfen und versuchen, ...

Elena Medels Roman “Die Wunder” folgt den Schicksalen zweier Frauen, María und Alicia, Großmutter und Enkelin. Beide haben mit gesellschaftlichen und patriarchalen Strukturen zu kämpfen und versuchen, sich von Klassenzwängen zu befreien.
María muss nach der Geburt ihrer unehelichen Tochter Carmen ihren Heimatort verlassen und beginnt in Madrid zu arbeiten. Ihre Tochter entgleitet ihr immer mehr, bis sie den Kontakt zu ihr völlig verliert.
Alicia muss als junges Mädchen den Selbstmord ihres Vaters verkraften, der der Familie hohe Schulden hinterlässt. Mit ihrer Großmutter verbindet sie zunächst, dass auch sie ihre Mutter, Carmen, verlässt.

Das Leben beider Frauen gestaltet sich im Folgenden als ein Kampf um Freiheit, nicht zuletzt um finanzielle Unabhängigkeit und um eine Loslösung von gesellschaftlichen und patriarchalen Strukturen sowie von Klassenzwängen.

Wir erfahren aus dem Leben dieser Frauen in Rückblenden, in Form einer Aneinanderreihung von Momenten. Die Autorin gewährt tiefe Einblicke in das Innenleben ihrer Charaktere, indem sie fast ungefiltert, stellenweise einem inneren Monolog ähnlich, denken lässt.
Doch diese Form führt dazu, dass man sich nur schwer in die Geschichte hineinfühlen kann und dass man lange in bestimmten Momenten festgehalten wird. Das ist manchmal etwas ermüdend und vermag nicht so zu fesseln, wie man es sich wünschen würde. Dem Roman mangelt es daher an Bewegung und an Dynamik.

Das ist vor allem deshalb schade, weil er sich so wichtiger Themen annimmt, sie durch die Lebenswege zweier Frauen verkörpern lässt und die Strukturen und Funktionsweisen einer Gesellschaft analysiert, die diesen Frauen zahlreiche Steine auf den Weg legt.

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Veröffentlicht am 22.07.2022

Roadtrip durch Frankreich

Die Paradiese von gestern
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Es ist das Jahr 1990 und Ella und René, ein junges Paar aus Ostdeutschland, befinden sich auf einer Reise durch Frankreich. Sie lassen sich treiben, finden sich auf der Dune du Pilat während eines Gewitters ...

Es ist das Jahr 1990 und Ella und René, ein junges Paar aus Ostdeutschland, befinden sich auf einer Reise durch Frankreich. Sie lassen sich treiben, finden sich auf der Dune du Pilat während eines Gewitters wieder und stoßen nur zufällig auf das Château Violet. Das Schloss ist ein ehemaliges Weingut, an dem die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat und das nur noch von der Besitzerin, Madame de Violet, und einem Diener bewohnt wird.

Der als kurze Übernachtung geplante Aufenthalt verlängert sich schon bald, verknüpft die Figuren miteinander und lässt unterschiedliche Welten aufeinanderprallen: den Osten mit dem Westen, die Vergangenheit mit der Gegenwart. Die Charaktere hängen Welten und Vorstellungen nach, die es nicht mehr gibt oder noch nie gab und die nur in ihnen selbst weiterleben. So träumt Charlotte, die Gräfin, von dem florierenden Schloss aus den alten Tagen, Alain, der Sohn und Erbe träumt von seiner Kindheit und Ella und René projizieren Erwartungen auf den jeweils anderen, die diese(r) nicht zu erfüllen imstande ist. Die Figuren stehen sich damit manchmal selbst im Weg und werden, durch das Annehmen neuer Sichtweisen, dazu gezwungen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

“[S]ie waren auf der Suche nach einem Frankreich, das es seit über hundert Jahren nicht mehr gab und das sie aus den Romanen von Balzac, Flaubert und Maupassant kannten. Sie fuhren in eine neue Welt, um die alte darin zu finden, und dabei folgten sie ausschließlich ihren romantischen Vorstellungen."

Man muss sich als Leser schon einlassen auf diesen Roman, dessen Figuren nicht immer zu überzeugen vermögen. René und Ella wirken zuweilen melodramatisch und ihre Streitereien scheinen an den Haaren herbeigezogen. Aber diese Schwächen werden wettgemacht durch die Geschichte der Familie der Violets und das Schicksal der Gräfin, die durchaus anschaulich und lebendig erzählt werden. Und dann ist es vor allem die Atmosphäre, die den Roman trägt. Dieser Roadtrip durch Frankreich, der ganz große Lust darauf macht, selbst ins Auto zu steigen und loszufahren. Deshalb lohnen sich die über fünfhundert Seiten dann doch, trotz Schwächen.

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Veröffentlicht am 22.07.2022

Geschichten, Bilder, Stimmen

Singe ich, tanzen die Berge
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In ihrem Roman “Singe ich, tanzen die Berge” beschwört Irene Solà die Landschaft und das Leben in den Pyrenäen herauf. Zu Beginn des Romans wird ein Mann von einem Blitz getroffen, Hexen erscheinen, eine ...

In ihrem Roman “Singe ich, tanzen die Berge” beschwört Irene Solà die Landschaft und das Leben in den Pyrenäen herauf. Zu Beginn des Romans wird ein Mann von einem Blitz getroffen, Hexen erscheinen, eine Mutter verliert ihren Sohn durch einen Jagdunfall, ein Reh kann seinen Jägern entkommen… Solà lässt einen Chorus von Stimmen ertönen, die sich nebeneinander entfalten, sich miteinander verknüpfen und ein Geflecht an Eindrücken und Bildern ergeben, das zu fesseln vermag, aber gleichzeitig auch herausfordert.

Der erzählten Welt des Romans haftet von Beginn an etwas Mythisches und Archaisches an. Sie lebt von Geschichten, von Wesen wie Wasserfrauen, Geistern und Waldkobolden. Aber auch von Krieg, Verlust und Entbehrungen. Es ist eine Welt, die durch das Leben wie auch durch den Tod geprägt ist.

Dem Roman liegt ein Verständnis von Literatur zugrunde, das über Handlungs- und Spannungsbögen hinausgeht. Es ist die Polyphonie, die diesen Roman ausmacht. Menschen, Tiere, Naturphänomene und die Berge sind in der Wiedergabe ihrer Wahrnehmung gleichberechtigt. Es kommt zu einem Bruch mit dem Monoperspektivischen und auch - das ist meiner Meinung nach besonders hervorzuheben - mit dem Anthropozentrismus. Im Erzählten wird alles eingeschlossen, was die Berge und das Leben in ihnen ausmacht.

“Singe ich, tanzen die Berge” ist ein Buch, das man langsam lesen muss, das man wahrscheinlich noch mal wird lesen müssen, weil es so vielschichtig ist, sich in unterschiedliche Richtungen ausdehnt und weil eine Lektüre nicht ausreicht, wenn man das Erzählte wirklich verinnerlichen möchte. Der Roman ist anders, ist gewagt und widerstrebt jeglicher Einordnung. Deshalb lege ich ihn allen von euch ans Herz, die sich gerne auf Außergewöhnliches einlassen.

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Veröffentlicht am 22.07.2022

Hommage an das Marionettentheater

Herzfaden
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Ein Mädchen besucht seinen Vater am Wochenende in Augsburg. Bei einem Besuch in der Augsburger Puppenkiste entdeckt sie eine Tür und findet sich plötzlich in einem Raum mit lauter Marionetten wieder, die ...

Ein Mädchen besucht seinen Vater am Wochenende in Augsburg. Bei einem Besuch in der Augsburger Puppenkiste entdeckt sie eine Tür und findet sich plötzlich in einem Raum mit lauter Marionetten wieder, die zum Leben erwachen. Als inmitten der Puppen auch noch Hatü, oder Hannelore, die Tochter des Begründers Walter Oehmichen auftaucht, vermischen sich Zeit und Raum. Gegenwart und Vergangenheit treffen aufeinander, werden lebendig und zusammen mit dem kleinen Mädchen wird der Leser in die Zeit der Gründung des bekanntesten deutschen Marionettentheaters entführt.

Die Augsburger Puppenkiste wird während des Zweiten Weltkriegs ins Leben gerufen, inmitten von Zensur, Luftangriffen, Tod und Grauen. Die Familie Oehmichen glaubt an die Bedeutung der Kultur und des Theaters, ist regelrecht beseelt von ihr, spielt erst im eigenen Wohnzimmer und lässt sich auch durch den Verlust und die Zerstörung von Material und Spielstätte nicht unterkriegen oder aufhalten.

Thomas Hettche hat mit “Herzfaden” ein Stück deutscher Theater- und Kulturgeschichte zum Leben erweckt. Der Roman ist eine Hommage an die Kunst des Puppenspielens, eine Hommage auch an all jene Menschen, die gegen widrige Umstände kämpfen, um Kultur zu ermöglichen und um die Vielfalt der Kultur zu bewahren. Der Roman geht zurück bis an die Anfänge und ermöglicht so einen Blick in die Geschichte des Erfolgstheaters, das die meisten Leser wohl hauptsächlich mit den Fernsehausstrahlungen in Verbindung bringen.

Der Roman ist ein großes Vergnügen, ist lehrreich und unterhaltend zugleich. Er entwickelt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Erschienen ist das Buch nun bei btb im Taschenbuchformat und all diejenigen Leser, die es noch nicht im Regal stehen haben, sollten endlich dazu greifen. Es lohnt sich!

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