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Veröffentlicht am 26.06.2023

Leise, unaufdringlich, aber voller Kraft

All die Liebenden der Nacht
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Dieser wunderbare Buchtitel in Kombination mit diesem Cover hat schon im Frühjahr meine Aufmerksamkeit geweckt und ich wusste, dass ich den Roman unbedingt lesen möchte. Der vorige Roman von Mieko Kawakami, ...

Dieser wunderbare Buchtitel in Kombination mit diesem Cover hat schon im Frühjahr meine Aufmerksamkeit geweckt und ich wusste, dass ich den Roman unbedingt lesen möchte. Der vorige Roman von Mieko Kawakami, „Brüste und Eier“ hat mir nicht ganz so gut gefallen, aber ich wollte gerne mehr von dieser Autorin lesen.

„All die Liebenden der Nacht“ ist kein plotgetriebener Roman, er ist nicht abgefahren laut oder sensationsreich, wie ich es eigentlich gerne lese. Seine Geschichte ist leise und unaufdringlich und ich habe sie dennoch sehr, sehr gern gelesen.

Anders als in ihrem Vorgängerroman konzentriert sich Kawakami in „All die Liebenden der Nacht“ auf eine Person, ihre Ich-Erzählerin Fuyuko, was mir sehr gut gefällt. Fuyuko ist ein extrem introvertierter und auch ein einsamer Mensch. Sie lebt in Tokio und arbeitet als Korreturleserin in einem Verlag, was ihr eigentlich Spaß macht. Wenn da nicht die Kolleginnen wären, die ihr ihre Ausgeschlossenheit widerspiegeln.
Auf Vorschlag ihrer Kollegin Hijiri macht sie sich selbstständig und arbeitet von zu Hause aus. Das nimmt ihr zwar den sozialen Druck, verstärkt aber natürlich ihre massive Einsamkeit.
Nur zu Hijiri pflegt sie manchmal Kontakt und zwischen den beiden äußerst unterschiedlichen Frauen entwickelt sich eine zarte, wechselhafte Freundschaft.
Fuyuko beginnt zu trinken um ihren einsamen Alltag zu ertragen.

„Mit nur einer langsam geleerten Dose Bier, einem Wasserglas Sake gelang es mir, nicht mehr ich zu sein.“

Dann tritt Mr. Mitsutsuka in ihr Leben. Ich erahne als Leser
in die gleiche Einsamkeit in Mr. Mitsutsuka wie in Fuyuko. Beide beginnen sich regelmäßig in einem Café zu treffen, um sich zu unterhalten.
Diese Gespräche der beiden Verlorenen gestaltet Kawakami mit großer Verletzlichkeit und Zartheit.
Mr. Mitsutsuka wird in Fuyukos Leben immer wichtiger und stößt bei ihr einen inneren Prozess der Reflektion und der leisen Emanzipation an.
Hier möchte ich nicht mehr weiter vorgreifen, es ist schön diesen Prozess selbst zu verfolgen und nachzufühlen.

Ich mochte diesen sehr leise und zart erzählten Roman sehr gerne. Kawakami entwirft mit ihrem Stil sehr bildhaft und poetisch kleine Szenen der Einsamkeit und der Annäherung. Fuyukos Geschichte zeigt mir, dass Kraft auch im Introvertierten, Unauffälligen liegen kann und dass es nicht immer den lauten und sichtbaren Knalleffekt braucht. Dass Selbstwirksamkeit und Befreiung nicht am äußeren Ergebnis gemessen werden muss, sondern auch unsichtbar in den kleinen Dingen liegen kann. Oder auch nur in uns selbst.

Eine leise und unaufdringliche Leseempfehlung für euch.

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Lesenswert und abgründig

Die schönen Jahre
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Mit „Die schönen Jahre“ von Teresa Ciabatti habe ich die Stimme einer bekannten und preisgekrönten Autorin in der Hand.

Und zwar einen äußerst wahrhaftigen, schonungslosen Roman mit einer äußerst zweifelhaften ...

Mit „Die schönen Jahre“ von Teresa Ciabatti habe ich die Stimme einer bekannten und preisgekrönten Autorin in der Hand.

Und zwar einen äußerst wahrhaftigen, schonungslosen Roman mit einer äußerst zweifelhaften Erzählerin.

Ciabattis Erzählerin ist eine berühmte Schriftstellerin (zu oft wiederholt und betont um glaubhaft zu sein) Ende Vierzig, in den Wechseljahren und mit Vergangenheit.
Als Teenagerin ist sie mit Frederica befreundet. Die Freundschaft ist mit ambivalenten Gefühlen besetzt und eine Notgemeinschaft.

„Auf dem Teppich in deinem Zimmer will ich du sein, gib mir die Hand.“

Die beiden Jugendlichen, eine reich und eine arm, eint der Wunsch, attraktiv genug zu sein, um dazu zugehören.

So attraktiv wie Fredericas Schwester Livia, der feuchte Traum dreier Männergenerationen. Auch das mehrfach wiederholt.
30 Jahre später treffen sich die Wege der beiden einstigen Freundinnen wieder. Die Leben der beiden Frauen haben sich sehr verändert. Die arme Erzählerin ist eine berühmte, geschiedene Schriftstellerin geworden und hat eine erwachsen Tochter. Frederica kümmert sich um ihre mittlerweile geistig behinderte Schwester Livia.

Wie wurde aus dem einstigen Männertraum eine verwirrte Person, die ständiger Aufsicht und Pflege bedarf?

Eher langsam und unzuverlässig lässt Ciabatti ihre Erzählerin aufdecken, was damals geschah und wie die Freundschaft der beiden wirklich endete.
Ciabatti greift in ihrem Roman verschiedene Themen auf, doch nicht alle offenbaren sich sofort gleichermaßen. Da ist der Konflikt der Erzählerin mit ihrer erwachsenen Tochter, die sie nicht mehr sehen will. Zuviele Fehler machte sie einst als Mutter mit narzisstischer Neigung.
Vordergründig scheint die Erzählerin eine egomanische und im sich selbst kreisende Figur, doch Ciabatti lässt sie offen und schrittweise offenbarend erzählen, sodass ich dahinter eine große Verletztheit erahne. Und eine zutiefst menschliche Suche nach Liebe und nach einem gesehen werden, die allem zu Grunde liegt.

„Der Wunsch, vergewaltigt zu werden, entführt zu werden, die verzweifelte Sehnsucht, bei irgendetwas die Hauptperson zu sein.“

Schriftstellerisch und stilistisch finde ich hier großes Kino. Ich mag Ciabattis wiederborstigen und schwer eingängigen Schreibstil. Sie lässt ihre Erzählerin mich als Leser*in direkt ansprechen und erwischt mich kalt in meinen Gedanken.
Kleinere Abstriche muss ich beim Unterhaltungsfaktor machen. Ja, manche Stellen sind schwierig und erschließen sich nur durch freie Assoziation. Das ist anstrengend und einige Deutungsoptionen bleiben mir sicher verschloßen.

Ein lesenswerter, abgründiger Roman, in dem der Wahrheitsgehalt über die Vergangenheit und der Gegenwart faszinierend verschwimmt und nur noch meiner eigenen Deutung überlassen bleibt.

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Veröffentlicht am 18.06.2023

Unvergesslich und intensiv: ein Hörbuch Highlight

Die Postkarte
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Ich zögere noch, meine Worte für diese Rezension zu wählen. Die Angst, diesem Roman nicht gerecht zu werden, lähmt mich. Ich möchte so gerne klar machen, wie sehr und wie emotional mich dieses Hörbuch ...

Ich zögere noch, meine Worte für diese Rezension zu wählen. Die Angst, diesem Roman nicht gerecht zu werden, lähmt mich. Ich möchte so gerne klar machen, wie sehr und wie emotional mich dieses Hörbuch berührt hat!
Eine solch gelungene Mischung aus spannender Spurensuche, Zeit- und Familiengeschichte und Selbsterkundung finde ich sonst selten. Zudem von Berest in einer literarischen Form und einem solch gelungenen Aufbau ausgearbeitet, dass ich mich unmöglich entziehen kann.

Eine Postkarte mit den Namen von vier Angehörigen Berests, die in Ausschwitz ermordet wurden, wird 2003 an ihre Mutter geschickt, ohne Absender oder weitere Information.

Ephraim
Emma
Noemie
Jacques

Berests Mutter Lelia konnte in der Vergangenheit schon einige Informationen über die tragische Geschichte der jüdischen Familie Rabinowicz ihrer Mutter Miriam sammeln. Ursprünglich aus Russland stammend, zwingen Anfeindungen und Restriktionen die Familie schon lange vor der Nazi Zeit auf eine Wanderschaft durch Europa.
Ein generationenüberspannendes Trauma, das bis heute anhält.
Schließlich landet die Familie Rabinowicz in Paris, Frankreich, wo die beiden Schwestern Miriam und Noemi in die gleiche Schule gehen, die auch Anne Berest Jahrzehnte später besuchen wird.
Doch die Familie ist den Anfeindungen nicht entkommen, wie eine Krankheit breitet sich der National Sozialismus bis nach Frankreich aus. Und mit ihm seine Verbrechen und Grausamkeit, die nicht mit der Menschlichkeit vereinbar sind und unsere Vorstellungskraft und unsere Herzen sprengt.

Anne Berest vermischt die Spurensuche mit der Erzählung des Schicksals ihrer Familie. Es ist die Geschichte von Ephraim, Emma, Noemi und Jaques, aber auch die Geschichte ihrer Großmutter Miriam, ihrer Mutter Lelia und ihre eigene Geschichte. Während Berest versucht den Ursprung der Postkarte zu ermitteln, muss sich selbst mit ihrer eigenen Identität als Jüdin auseinandersetzten und lässt mich an ihren Gedanken teilhaben.

Es ist für mich ein sehr schmerzhaftes Hörbuch und es schnürt mir mehrmals die Kehle zu. Kaum zu ertragen die Schilderungen der Situation der Mütter mit ihren Kindern in den Deportationslagern in Frankreich, oder die der, aus den Vernichtungslagern zurückkommenden zerstörten Körpern und Seelen. Dabei ist Berests Schreibstil nie lenkend, sondern bewahrt eine neutrale Distanz, die umso mehr Kraft entfaltet, da sich meine Gefühle aus meiner eigener Vorstellungskraft nähren können.

Anne Berest schreibt mit ihrem Roman gegen das Vergessen. Eine Geschichte, die mir tief unter die Haut geht und so bei mir für lange bleiben wird!

Das Hörbuch wird von Simone Kabst in einer Art gelesen, dass ich fast glaube, Anne Berest selbst erzählt mir diese Geschichte.
Ein Erlebnis und eine unbedingte Hörbuchempfehlung!

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Veröffentlicht am 11.06.2023

Luftige Geschichte vom Neuanfang und Loslassen

Wo du mich findest
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Und wieder ein Roman mit dem Cover Hype Schwimmen. Auch im Roman spielt das Wasser und das Schwimmen eine wichtige Rolle.
Nach meinem Leseverständnis steht es sinnbildlich für Loslassen und Neuanfang.

Und ...

Und wieder ein Roman mit dem Cover Hype Schwimmen. Auch im Roman spielt das Wasser und das Schwimmen eine wichtige Rolle.
Nach meinem Leseverständnis steht es sinnbildlich für Loslassen und Neuanfang.

Und einen Neuanfang braucht Sophie dringend nach zwei großen Verlusten in ihrem Leben.
Bei einem kurzen Aufenthalt auf Rügen hat sie eine sehr kurze Zufallsbegegnung mit einem Mann, der sie danach in ihrem Träumen verfolgt.
Sie richtet all ihre unerfüllten Sehnsüchte auf diesen Mann, den sie nur wenige Augenblicke getroffen hat und von dem sie nicht einmal den Namen kennt.
Natürlich merkt Sophie, dass sie massiv projeziert, sie kann und will den Trost der Träume aber nicht aufgeben.
Währenddessen zerbricht ihre Ehe, die schon länger nicht mehr lebendig war und sie beschließt nach Rügen zu fahren und den unbekannten Mann ihrer Träume ausfindig zu machen.
Die Autorin arbeitet schön heraus, dass es bei dieser Suche nicht (nur) um eine romantische Schwärmerei geht.
Sophie ist auf der Suche nach sich selbst. Durch die letzten Schicksalsschläge fühlt sie sich aus der Bahn geworfen und kann sich selbst nicht mehr finden.

Trotz dieser vielversprechenden Ansätze bleibt „Wo du mich findest“ für mich nur eine leichte Urlaubslektüre und geht mir nicht unter die Haut.
Das liegt eher weniger an den (zu) sympathisch ausgearbeiteten Figuren, als an den eingestreuten…Kalendersprüchen der Lebensweisheiten („Du musst nur an dich glaube, Sophie“), was die Lektüre leider für mich manchmal ins Triviale abrutschen lässt. Auch die Geschichte an sich habe ich so oder ähnlich schon öfter gelesen und bietet mir außer netter Unterhaltung nichts wirklich Neues. Wenn ich meine strenge feministische Messlatte anlegen würden, hätte ich sicher noch weitere Kritikpunkte.

Der Schluss ist wunderbar rund und perfektioniert mit seinen zarten Andeutungen diese luftige Geschichte vom Neuanfang und Loslassen, reicht mir aber persönlich nicht, damit ich den Roman in bleibender Erinnerung behalten werde.
Aber das muss ja auch nicht immer sein.

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Veröffentlicht am 05.06.2023

Lesenswert und intensiv!

Idol in Flammen
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Die asiatische Idol-Culture, wie ich sie schon öfters in Dokus gesehen habe, fasziniert und irritiert ich gleichermaßen. Deswegen wollte ich den Roman „Idol in Flammen“ unbedingt lesen!

Atari, die junge ...

Die asiatische Idol-Culture, wie ich sie schon öfters in Dokus gesehen habe, fasziniert und irritiert ich gleichermaßen. Deswegen wollte ich den Roman „Idol in Flammen“ unbedingt lesen!

Atari, die junge Protagonistin, steckt mitten der sensiblen Phase des Erwachsenwerdens und Seins. Vom Elternhaus und der leistungsorientierten Gesellschaft fühlt sie einen Druck, dem sie sich nicht gewachsen sieht. Sie fühlt sich ANDERS als alle anderen, eine (mutmaßliche) Neurodiversität verstärkt dieses Gefühl der Isoliertheit.
Atari lebt in einer der vielen Gesellschaften, in der es salonfähig ist, die große Entfremdung vom Selbst durch verschiedene Surrogate zu lindern.
Die große Lücke von Sinn und Lebenszweck in ihrem Leben füllt Atari mit ihrem Idol Masaki, einem Mitglied einer bekannten J-Pop Band.

„Masakis Fan zu sein ist das Zentrum meines Lebens, die eine Konstante. Mein Idol ist meine Körpermitte, meine Wirbelsäule.“

Das Fan sein gibt ihr die Motivation, morgens aufzustehen, zur Schule und zur Arbeit zu gehen und das Leben irgendwie zu ertragen.

Doch was, wenn sich dein angebeteter Gott als fehlbarer Mensch erweist? Wenn das Bild Risse bekommt und in Flammen aufgeht?

Besonders gut gefällt mir an diesem kurzen Roman, dass die Autorin Rin Usami selbst sehr jung ist, und ihre Beschreibungen nicht durch jahrelangen Abstand gefiltert oder verfälscht werden, sondern sich unglaublich direkt und nah dran lesen.
Meine eigenen Jahre als junger Erwachsener liegen schon eine Weile hinter mir. Diese intensiven und emotionalen Jahre haben mich extrem geprägt, wie keine andere Periode in meinem späteren Erwachsenenleben mehr danach, und die Erinnerungen daran werden durch diesen kurzen Roman wieder lebendig. Ich mag das.

Rin Usami fängt diese Suche nach Halt, Orientierung und Sinn mit ihrer verlorenen Figur wunderbar ein und das macht diesen kurzen Roman für mich besonders und persönlich. Lesenswert und intensiv!

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