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Veröffentlicht am 05.10.2023

Zum 100jährigen Gedenken an das Kantô-Beben

Großes Spiel
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Am 1. September 1923 bebt die Erde in Japan. Das Kantô-Beben erschüttert nicht nur ein Land, sondern auch sein Volk. Die Erdstöße verwüsten weite Teile des Großraums Tokio, etwa 145.000 Menschen sterben. ...

Am 1. September 1923 bebt die Erde in Japan. Das Kantô-Beben erschüttert nicht nur ein Land, sondern auch sein Volk. Die Erdstöße verwüsten weite Teile des Großraums Tokio, etwa 145.000 Menschen sterben. Yoshihito, der mit seiner Krönung 1912 den Namen Taishō erhält und der 123. Tennō des Japanischen Kaiserreichs und der zweite der modernen Periode wird, regiert. Doch durch seine Krankheit ist er schwach und unfähig, das Land mit seinen Traditionen zu regieren und zu schützen.
Seit 1912 nutzt Ôsugi, ein Fanatiker und Putschist, diese Schwäche aus, um seinen Plan eines gesellschaftlichen und politischen Umsturzes umzusetzen. Sein hochtrabender, theoretischer Entwurf einer freien Gesellschaft, losgelöst von jahrtausendalter Kultur ohne Kaiser, riskierte das Land in ein Chaos zu versenken. Er wird der Staatsfeind Nr. 1 und das Militär erhält den Auftrag, ihn unschädlich zu machen. Der Militäroffizier Masahiko Amakasu, ein gewissenhafter, linientreuer und standhafter Soldat wird beauftragt, Ôsugi zu überwachen und falls notwendig auszuschalten.
Die Naturkatastrophe, die Japan in Knie zwingt, wird für Ôsugi und Amakasu der Beginn einer weiteren Katastrophe, die dem ersten das Leben kosten, dem anderen aber das Leben unerträglich machen wird.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Mit großer Erwartung bin ich an den neuen Roman „Großes Spiel“ von Hans Platzgumer herangetreten und obwohl ich nicht wusste, was mich erwartet, bin ich, da ich das Buch nun gelesen haben, schlichtweg ergriffen von der Geschichte und überwältigt von der großartigen literarischen Umsetzung!
Das Buch bietet eine fantastische Rekonstruktion jener Vorgänge, die zum berühmten „Amakasu Zwischenfall“ führten. Ausgehend von einer detaillierten und psychologisch gründlichen Analyse der Akteure wird in chronologischer Reihenfolge erzählt, wie es zum Massaker, bei dem Ôsugi und seine Frau Itô getötet werden, gekommen ist. Der Militäroffizier Masahiko Amakasu, in seiner Rolle als Erzähler, lässt nochmals die Ereignisse Revue passieren.
Japan befand sich während der Taishō Jahre (1912 – 1926) in einer schwierigen gesellschaftlichen und politischen Situation. Die Arbeiterklasse begehrte auf, Demonstrationen waren keine Seltenheit. Da Japan eine gesellschaftliche Hierarchie zugrunde lag, die das Zusammenleben ordnete und auf deren Stärke die Nation beruhte, war die Gefahr, die von dem Fanatiker Ôsugi ausging, enorm.
Ôsugi war ein hochbegehrter Mann. Er sah blendend aus, war mit einem messerscharfen Intellekt ausgestattet und hatte ein unbeugsames und rebellisches Wesen. Er war ein Mann der Tat, der mit großer Wucht ins politische Geschehen eingreifen wollte. In der instabilen Situation drohte er das aus dem Gleichgewicht geratene Land zu Fall zu bringen. Ôsugi hatte die Sprengung von allem, was sich gefestigt hatte, im Sinn. Er war ein Fanatiker, der zu keinem Kompromiss bereit war.
Die Vorgänge sind ungemein spannend und intensiv. Bis zum Schluss folge ich Amakasus Leben mit großem Interesse. Sein Lebensweg mit Einblicken in sein Innerstes haben mich zum Teil tief erschüttert. Diese Menschlichkeit, mit den offengelegten Schwächen, ist entwaffnend, ich kann und will mir über ihn kein Urteil erlauben. Er hat einen sehr hohen Preis bezahlen müssen, bis zu seinem Ende.
Neben den geschichtlichen Ereignissen bietet der Roman einen unschätzbaren Einblick in die japanische Gesellschaft vor 100 Jahren. Die Rolle der Frau und der Familie, die Bedeutung von Kindern und deren Erziehung, sowie das so berühmte japanische Ehrgefühl sind meisterhaft eingeflochten und obwohl keine aktionsreiche Handlung ist, ist nicht nur meine Neugierde sondern vor allem mein Interesse an eine so fremde Kultur bis zum Schluss aufrecht geblieben.

Fazit
Zum 100jährigen Gedenken an das Kantô-Beben bietet Hans Platzgumers Meisterwerk „Großes Spiel“ eine literarische Gelegenheit, das Land der aufgehenden Sonne in einem historisch schwierigen Moment kennenzulernen. Ein großer Roman, nicht nur für Japanfans.

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Veröffentlicht am 25.08.2023

Schönwald ist ein komplexer Familienroman

Schönwald
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Schönwald ist ein komplexer Familienroman, dessen knappe Zusammenfassung eine Herausforderung für mich geworden wäre. Deshalb gebe ich hier der Einfachheit halber den Klappentext vollumfänglich wider.
Anders ...

Schönwald ist ein komplexer Familienroman, dessen knappe Zusammenfassung eine Herausforderung für mich geworden wäre. Deshalb gebe ich hier der Einfachheit halber den Klappentext vollumfänglich wider.
Anders als Harry findet Ruth Schönwald nicht, dass jedes Gefühl artikuliert, jedes Problem thematisiert werden muss. Sie hätte Karriere machen können, verzichtete aber wegen der Kinder und zugunsten von Harry. Was sie an jenem Abend auf einem Ball ineinander gesehen haben, ist in den kommenden Jahrzehnten nicht immer beiden klar. Inzwischen sind ihre drei Kinder Chris, Karolin und Benni erwachsen. Als Karolin einen queeren Buchladen eröffnet, kommen alle in Berlin zusammen, selbst Chris, der Professor in New York ist und damit das, was Ruth sich immer erträumte. Dort bricht der alte Konflikt endgültig auf.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Eines muss man Philipp Oehmke lassen; er ist ein souveräner und smarter Erzähler, der weiß, wie man Menschen skizziert und sie im Gefüge einer funktionierenden, oder eben nicht funktionierenden Familie einfließen lässt. Er analysiert eine Familie und ihre einzelnen Komponenten glasklar, ohne Empathie, und erstellt die Profile objektiv. Er wechselt geschickt die Perspektiven, um vom vermeintlichen Schönwald-Fluch zu erzählen und greift immer wieder Erzählfäden auf, die er eben noch abgelegt hat. Damit gibt er seinen Figuren, besonders Ruth und ihrem ältesten Sohn Christopher, große Plastizität und charakterliche Profile.
Christopher Schönwald ist für mich die faszinierendste Figur in diesem groß aufgezogenen Familien- und Gesellschaftsroman. Der große Bruder, der immer zur Stelle ist für seine Geschwister und der sich selber in eine Situation gebracht hat, aus der er schwer herausfindet.
Eine weitere Persönlichkeit, die omnipräsent im Roman ist, ist Ruth. Selbst eine grandiose Germanistin, blieb ihr die Verwirklichung ihrer großen akademischen Karriere verwehrt. Schlussendlich musste auch sie sich der gesellschaftlichen Erwartung fügen und ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ausüben. Ein Schritt, den sie nach dem Motto ihres Vaters „Never complain, never explain“ der Familie mit Depression quittierte und ihr ein Dogma den Verdrängen aufzwängte.
Leider wird die ganz große Frage, für was schlussendlich die Geschwister Christopher, Karolin und Benni Schönwald geschichtlich geradestehen müssten, nicht geklärt. Schade, denn das hätte mich schon interessiert.
Der Leser sollte sich besonders bei den Abschnitten, die von Chris handeln, nicht an den Anglizismen stören. Auch die Passagen, die von der aktuellen Social Media Welt und ihrer abstrakten Kommunikationsweise erzählen, sind voll von englischen Begriffen. Mir war das z. T. auch zu viel, weil ich ja Deutsch lesen möchte, aber ich verstehe, dass etwaige Übersetzungen, sofern es sie überhaupt in Deutsch gibt, in diesem Kontext wahrscheinlich nicht so authentisch rübergekommen wären.

Fazit
Schönwald ist ein Familienepos und eine brillante Darstellung der aktuellen Gesellschaft, von Philipp Oehmke souverän und smart zu Papier gebracht. Die markanten Charakterisierungen der einzelnen Protagonisten in einem familiären Kontext, eine vermeintliche Nazivergangenheit des Großvaters, die sich in der Gegenwart wiederfindet und das von der Mutter aufgezwängt Familienkonzept des Verdrängens und Nichtaussprechens, gibt ein wenig schmeichelhaftes Bild der narzisstischen Jetzt-Zeit.

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Veröffentlicht am 25.08.2023

Eine überaus liebevolle Hommage an eine Generation von Großeltern

Sylter Welle
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In „Sylter Welle“ erinnert sich der Autor an humorvolle Erinnerungen und Anekdoten aus seiner Kindheit während er 3 Tage bei seinen Großeltern auf Sylt verbringt. Obwohl das Buch in nur 3 Kapitel unterteilt ...

In „Sylter Welle“ erinnert sich der Autor an humorvolle Erinnerungen und Anekdoten aus seiner Kindheit während er 3 Tage bei seinen Großeltern auf Sylt verbringt. Obwohl das Buch in nur 3 Kapitel unterteilt ist, wobei jedes Kapitel für einen Tag steht, hätte es genauso gut auch eine Vielzahl von Kapiteln geben können, denn die Vielzahl von Erinnerungen und Anekdoten hätten sich gut dafür geeignet.
„Sylter Welle“ ist eine überaus liebevolle Hommage an eine Generation, die vom Krieg schwer gezeichnet wurde, mit Charakteren, die es heute kaum mehr gibt. Ich kann gut nachvollziehen, wenn der eine oder andere Leser sich bei der Lektüre an die eigenen Großeltern erinnern mag. Auch ich kann in mancher Szene meine Großmutter erkennen, die auch das Kommando in unserer Familie führte, oder auch meinen Stiefvater, der 1918 geboren wurde. Und es berührt mich die Zuneigung, die Max seinem jetzt unbeholfenen, alten Großvater entgegenbringt.
So wechseln sich nicht nur Handlungsort und –zeiten ab, sondern auch das Timbre der einzelnen Geschichten. Sehr amüsant sind jene Szenen, in denen der Autor zugibt, dass er ein kleiner Schlingel war und für keinen Bubenstreich zu schade.
Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte und mein Blick nochmals auf das Buchcover fiel, bildet sich eine kleine Stirnfalte, denn den Zusammenhang mit dem brennenden Strandkorb will sich mir partout nicht eröffnen. Kurzerhand entschließe ich mich „Sylter Welle“ zu googlen und ein Foto des Freizeitbades ploppt auf. Jetzt bin ich noch verwirrter.

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Veröffentlicht am 17.08.2023

Ein ungewöhnlicher Roman, der etwas wirr wirkt

Tasmanien
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Paolo, Physiker und Autor, durchlebt schon seit einiger Zeit eine Krise. Selbst seine etwas ältere Frau Lorenza kann ihm keinen Halt geben. Auf seinen Streifzügen durch die Zeit und Orte lernt er durch ...

Paolo, Physiker und Autor, durchlebt schon seit einiger Zeit eine Krise. Selbst seine etwas ältere Frau Lorenza kann ihm keinen Halt geben. Auf seinen Streifzügen durch die Zeit und Orte lernt er durch seinen Freund Giulio Prof. Jacopo Novelli kennen, einen Wissenschaftler und einer der bedeutendsten Klimaexperten, der u.a. an der Universität in Paris lehrt und sich aktuell mit der Erforschung von Klimamodellen und Wolken beschäftigt.
Dass Prof. Novelli wieder nach Italien zurückkehren möchte, die Ausstellenausschreibung an der Universität Genua nicht gewinnt und die Stelle an eine Frau verliert, wird noch zu einem handfesten Skandal führen, der nicht spurlos an Paolo vorbei geht.

Wenn auch das nicht das Hauptthema ist, denn es gibt eigentlich keines, handelt ein zweiter Handlungsstrang von Paolos Buchprojekt zum Atombombenabwurf 1945 in Japan. Der mit berührendste Teil des Romans.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Ich bin sehr verwirrt und weiß eigentlich gar nicht, was ich mit diesem sehr schön geschriebenen Roman anfangen soll. Die Vielfalt an Themen (Klimaforschung, Lebens- und Ehekrise, Gleichberechtigung, Atombombe, Wolke und Männerfreundschaft) wirkt wahllos eingeflochten in das Leben des Protagonisten und einen roten Faden vermisse ich ausdrücklich. Viel mehr geht mir der flatterhafte Themenwechsel etwas auf die Nerven. Wäre da nicht die überaus angenehme Schreibweise, die dem Roman einen gewissen Lesefluss beschert, hätte ich wahrscheinlich abgebrochen.
Worin eine der führenden italienischen Tageszeitungen die Schlüsselrolle des Romans sieht, entschließt sich mir nicht. Dennoch bleibt der Genuss eines sehr angenehmes Leseerlebnisses zurück, wenngleich die Geschichte einfach nur wirr ist. Ich möchte mir nicht ausmalen, was das geworden wäre, wenn mir die Handlung mehr zugesagt hätte.

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Veröffentlicht am 10.08.2023

Eine Familiengeschichte in literarischen Bildern erzählt

Das Pferd im Brunnen
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Eine Wohnung mit 70 m2 im russischen Kurort Kasan ist der Dreh- und Angelpunkt dieses besonderen Romans, für den die Autorin und bekannten Schauspielerin Valery Tscheplanowa aus dem großen Topf der eigenen ...

Eine Wohnung mit 70 m2 im russischen Kurort Kasan ist der Dreh- und Angelpunkt dieses besonderen Romans, für den die Autorin und bekannten Schauspielerin Valery Tscheplanowa aus dem großen Topf der eigenen Familiengeschichte gegriffen hat. In „Das Pferd im Brunnen“ schreibt sie von ihrer Urgroßmutter Tania, ihrer Großmutter Nina, ihrer Mutter Lena, ihrem Onkel Mischa und von der Abwesenheit der Väter. Es ist die Erzählung einer in Stücke geschlagene Familie, verstreut auf Europa.
Dieser Roman ist eine Familienaufzeichnung von Walja, der Enkeltochter Ninas, die vom harten Leben ihrer Groß- und Urgroßmutter erfährt, und die in Deutschland aufwächst und ihre Wurzeln in der Weite Russlands sucht.

Meine persönlichen Leseeindrücke
Einfach ist das Buch „Das Pferd im Brunnen“ nicht! Ab und an muss ich mich sortieren und anstrengen, damit ich die Buchfährte wiederfinde, die ich zwischendurch zu verlieren glaube. Das dauert ein paar Kapitel, bis ich verstehe, dass es sich hier nicht um einen klassischen Roman handelt, sondern vielmehr um literarische Bilder einer russischen Familie, die bunt zusammengewürfelt irgendwann ein Gesamtgebilde abgeben. Mit dieser Erkenntnis ändere ich mein Leseverhalten und schließe gedanklich jedes einzelne Kapital ab, bevor ich mich der neuen Geschichte widme. Jetzt passt es auch, dass die Handlungen keiner zeitlichen und räumlicher Logik folgen. So konfus anfänglich der Roman auch scheint, bei Nina laufen die verschiedenen Handlungsstränge zusammen und daran kann sich der Leser orientieren.
Tanja und Nina sind die großen Frauen dieses Romans, beide vom harten Schicksal wenig verschont, und auf deren Spur sich die in Deutschland aufgewachsene Walja macht. Es ist keine einfache Suche, die aber mit einer wunderbaren und einnehmenden Sprache sofort auf sich aufmerksam macht und die mich von den ersten Seiten an schon einfängt. Ich scheue deshalb nicht die Mühe, die Eigenartigkeit des Romans anzunehmen.
„Das Pferd im Brunnen“ ist aber nicht nur eine Familiengeschichte, sondern erlaubt auch einen Einblick in die russische Gesellschaft der letzten Jahrzehnte. Ganz nebenbei taucht man ein in die russische Realität, mit einer Intensität, die nur jemand erzählen kann, der sie tatsächlich erlebt hat.

Fazit
„Das Pferd im Brunnen“ ist die autobiographisch inspirierte Familiengeschichte der Autorin Valery Tscheplanowa. Der Roman mutet an wie eine Wortsymphonie in Moll, in dem jedes Kapitel einen Titel trägt und ein Puzzlestück eines großen Ganzen ist.

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