ein sehr informatives, aufrüttelndes Buch
Für mich ist es immer wieder spannend autofiktionale Romane von Autorinnen zu lesen, die mir bereits durch frühere Werke aufgefallen sind - sei es als eine Form der Ergänzung oder um herauszufinden wie ...
Für mich ist es immer wieder spannend autofiktionale Romane von Autorinnen zu lesen, die mir bereits durch frühere Werke aufgefallen sind - sei es als eine Form der Ergänzung oder um herauszufinden wie sympathisch mir jemand ist bzw. ob sich mein bestehender Eindruck bestätigt. Und so freute ich mich sehr auf die Übersetzung von Paolo Giordanos Roman "Tasmanien"; aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, zumal mir neben "Den Himmel stürmen", "Die Einsamkeit der Primzahlen" auch "Der menschliche Körper" noch sehr positiv in Erinnerung geblieben ist. In diesem Buch lernen wir nun einen suchenden, vielleicht sogar verlorenen Paolo kennen, der gefangen in einer gewissen Trostlosigkeit durch die Welt irrt, während die komplexen Probleme der heutigen Zeit immer mehr Aufmerksamkeit erfordern, gar Taten einfordern. Doch ist er überhaupt bereit dazu?
Paolo läuft davon, versucht sich seinen persönlichen Problemen, seiner kriselnden Ehe und ihren gemeinsamen Zukunftsplänen zu entziehen. Er befindet sich auf der Suche nach Freunden und Ablenkung weit entfernt von seiner Frau. Er stürzt sich in Diskussionen über klimatische Veränderungen, berichtet aus verschiedenen Orten und Ländern, besucht Klimakonferenzen, lehrt an einer Hochschule, hält sich als Journalist über Wasser und sucht dabei stets nach Lösungen und Anzeichen für Veränderungen und drohende Kipppunkte... vielleicht um wenigstens hier eine vage Version einer Zukunft zu finden. Und so sinniert er mit Studenten über die Globalisierung, mit Professoren und Bekannten über Wolkenformationen, unterhält sich mit einer Kriegsreporterin über den internationalen Terrorismus, berichtet vom Bau und der Geschichte der Bombe, sowie Nuklearwaffen und deren Auswirkungen u.a. am Beispiel von Hiroshima. Der Mensch - eine tickende Zeitbombe, damals, wie heute. Vielleicht müsse man die Menschheit daran erinnern, dass alles von ihr abhängt, die Auslöschung der Menschheit keine dystopische Fantasie ist, sondern eine plausible Tatsache. Wir müssten viel mehr öffentlich darüber diskutieren, einlenken und nicht nur an uns und das Jetzt denken.
"[Du] glaubst ernsthaft daran, dass wir uns angesichts der Möglichkeit unserer Auslöschung so viel anders verhalten würden?" Wahrscheinlich nicht bzw. wie würde man sich denn passender Weise verhalten, wenn man auch so schon kaum für seine Positionen eintritt? Was tun, wenn ausgerechnet ein Freund eine falsche Denkweise an den Tag legt? Was, wenn wir wirklich mit voller Kraft dem Abgrund entgegensteuern und die Welt aus den Fugen gerät? Auswandern vielleicht? In diesem Roman scheint Tasmanien aufgrund seiner Lage ein guter Ort für Einzelne zu sein, doch was ist mit den anderen? Lauern die Gefahren nicht ständig überall?
"Und wohin führt uns deine Überlegung? [...]
Ich weiß es nicht. Vielleicht zu der Idee, dass auch die intelligentesten Menschen auf der Welt - denn es besteht kein Zweifel, dass diese Physiker [,die die Atombombe erfanden.] das waren - in Wirklichkeit nichts von der Gegenwart verstehen. Als ob man von der Gegenwart nur... überrannt werden könnte."
Ich wünschte nun, dieser Roman enthielte DIE Lösung für all die Probleme der heutigen Zeit, und man könnte sich an Giordano ein Beispiel nehmen, doch "Tasmanien" ist mehr so ein vorgehaltener Spiegel. Wir wissen vieles, sollten durch Entwicklungen, Gespräche mit Experten und unsere Geschichte einiges gelernt haben, machen uns sehr viele Gedanken, suchen nach Lösungen und steuern doch häufig nur von einem Dilemma zum Nächsten. Oder greifen in entscheidenden Momenten nicht ein, sind wie gelähmt, schauen nur zu oder laufen gar weg, um nicht negativ aufzufallen oder jemanden zu enttäuschen und doch sind wir am Ende mehr oder weniger allein. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, dass wir versuchen alles zu überblicken und dabei das Wesentliche aus den Augen verlieren?
Eines der größten aktuellen, globalen Probleme der Menschheit ist neben der fehlenden Empathie und dem wachsenden Egoismus, unbestritten der Klimawandel. Giordano beschäftigt sich sehr intensiv damit und lässt uns als Leserinnen gerade hier an seinen Erfahrungen, Gesprächen und Gedanken über die heutigen Katastrophen teilhaben.
Anfangs war ich wirklich überrascht wie klimalastig dieser Roman ist und gleichzeitig schaffte Giordano es mich binnen kürzester Zeit genau dafür zu begeistern. Ich googelte nach Wolkenformationen und Pflanzen, Phänomene oder Klimakonferenzen und machte mir Gedanken über die Auswirkungen der Globalisierung und den Einfluss der Nachrichten auf uns Menschen. Das beschriebene Schicksal eines seiner Studenten hat mich dabei sehr getroffen und mich lange über die Frage "Ist es möglich [...], dass ein Wissensgebiet Oberhand über dich gewinnt?" grübeln lassen.
Diese entstehenden Gedanken und Erklärungen sind eindrucksvoll und gleichzeitig so gewaltig, überfordernd. Genau dies zeigt Giordano auch an seiner Figur in diesem Roman.
Ich kann nicht sagen ob er mir dadurch nun sympathischer oder unsympathischer geworden ist. Einerseits hätte ich mir bei vielen Problemen oder in einigen der beschriebenen Situationen etwas mehr Einsatz, Stärke und Positionierung erhofft. Andererseits entspricht das Beschriebene der heutigen Zeit, unserem eigenen Verhalten und dem Versuch Dilemmas zu umgehen in der Hoffnung, dass sich alles schon wieder zurechtrüttelt. Und das in einer Welt, die ganz viele Baustellen unterschiedlichster Themen bereithält. Insbesondere die Wolkenthematiken, Tasmanien - der 'Ort des letzten Auswegs' - und die Folgen der Globalisierung; das Ausbreiten von Pflanzen in der Welt, der Zufall, dass Hiroshima Ziel der Atombombe wurde und und und haben mich an diesem Buch sehr fasziniert und so hallt auch noch Wochen nach dem Lesen dieses Buch zumindest in Fragmenten in mir nach. Giordano als Figur verblasste etwas, aber im Vergleich zu den Problemen der Welt, ist das vielleicht das kleinste Problem.
"Tasmanien" ist ein sehr interessanter, informativer und aktueller Roman, den ich gerne vielen empfehlen würde und zeitgleich ist es mir bewusst, dass dieses stets mitschwingende, verstärkende Gefühl der Verlorenheit und Überforderung nicht gerade ein angenehmes Lesevergnügen bietet.