Starke und berührende Geschichte
Sprich mit mirSie hat sich arrangiert, lebt in ihrer Wohnung am Tiber. Morgens ein kleiner Spaziergang, gegen Mittag dann ein Konzert einer ihrer geliebten Klassiker auf dem Sofa. Gegen Abend eine karge Mahlzeit und ...
Sie hat sich arrangiert, lebt in ihrer Wohnung am Tiber. Morgens ein kleiner Spaziergang, gegen Mittag dann ein Konzert einer ihrer geliebten Klassiker auf dem Sofa. Gegen Abend eine karge Mahlzeit und dann Sartre, Tolstoi oder Hemingway zu einem gekühlten Weißwein. Seit sie ihre Strafe abgesessen hat, hat sie sich in sich selbst eingeschlossen. Doch an einem außerordentlichen Vorfrühlingstag stört sie ein Transporter vor dem Haus, als sie vom Einkauf kommt. Er steht auf dem Trottoir, auf der Ladefläche ein junger Mann mit langen schwarzen Locken. Er wirft einen Karton in den Hausflur vor ihre Füße. Sie tritt zurück und beobachtet eine Frau barfuß, in kurzem Leinenkleid, kleine feste Brüste. Sie rennt zu dem Lockenkopf, schwingt die Arme um seinen Hals, die Beine um die Hüften und ruft lachend Michele. Er umarmt sie und sagt Maria. Die Szene ist so intim, dass sie die Treppe nach oben schleicht, in den dritten Stock.
Ihre Stille ist dahin. Die Ruhe seit ihrer geräuschvollen Jugend. Seit „Sie“ in ihren Zufluchtsort eingedrungen sind, wie eine stürmische Böe.
Später bemerkt sie, dass das Schlafzimmer der beiden an ihres grenzt. Sie befürchtet den beiden beim Sex zuhören zu müssen. Der letzte Mann, der sie selbst berührte, war Furio und das ist viele Jahre her. Doch die beiden lachen und reden dann flüsternd. Sie scheinen sich wirklich gut zu verstehen. Zur Sicherheit drückt sie eine Tablette aus dem Blister auf ihrem Nachttisch und spült sie herunter.
Am nächsten Tag reißt energisches Klopfen sie aus ihrer Musik. Sie öffnet widerwillig und da stehen ihre neuen Nachbarn. Die Frau redet viel, er beobachtet. Sie weiß, dass sie die beiden hereinbitten muss, alles andere wäre unhöflich.
Fazit: Lidia Ravera ist eine außergewöhnliche Schriftstellerin. Sie hat jedes Wort an die richtige Stelle gerückt (sicher hat auch die Übersetzerin hier großes geleistet) Die Autorin erzählt die Geschichte aus Sicht ihrer Protagonistin, die in den 70-er-Jahren als Oppositionelle gekämpft hat und dafür bestraft wurde. Sie fürchtet die Verurteilung durch Mitmenschen so sehr, dass sie ein Eremitendasein wählt. Durch die Familie, die gleich neben ihr eingezogen ist, allen voran, die kleine Tochter, bekommt das Weltliche einen neuen Stellenwert. Die Autorin hat gut durchdachte Charaktere geschaffen, die auf ganzer Linie überzeugen. An den richtigen Stellen blitzen kleine Lichter der vergangenen Tragödie auf. Die Protagonistin erkennt klug die Bedürfnisse und Intentionen ihrer Mitmenschen, aber auch ihre eigenen. Eine starke, durch und durch berührende Erzählung.