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Veröffentlicht am 28.05.2019

Hervorragender historischer Roman über Katharina II.

Die Zarin und der Philosoph (Sankt-Petersburg-Roman 2)
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Russland, 1762: Nach einem Putsch und dem Tod des Zaren Peter III. lässt sich seine Witwe Katharina zur Zarin krönen und besteigt als Katharina II. den Thron. Die Deutsche auf dem Zarenthron will ihre ...

Russland, 1762: Nach einem Putsch und dem Tod des Zaren Peter III. lässt sich seine Witwe Katharina zur Zarin krönen und besteigt als Katharina II. den Thron. Die Deutsche auf dem Zarenthron will ihre Hauptstadt St. Petersburg zur politischen und kulturellen Blüte bringen und zeigen, dass Russland nicht rückständig und sie eine weltoffene Herrscherin ist, und fördert deshalb Kunst, Literatur und Philosophie in der Stadt. Preußenkönig Friedrich II. traut ihr nicht und entsendet den jungen Philosophen Stephan Mervier und seine Frau Johanna, eine Malerin, nach St. Petersburg. Mervier soll an Katharinas Hof und in der Stadt Fuß fassen und Friedrich über Katharinas Plänen auf dem Laufenden halten. Während Stephan am Hof und außerhalb in philosophischen Zirkeln diskutiert und seine Frau auf den Durchbruch als Malerin hofft, schwelt es im Riesenreich. Es regt sich Widerstand in allen Teilen der Bevölkerung, und Katharina ahnt nicht, dass selbst in ihrem engsten Umfeld ein Verräter lauert….

Schlichtweg großartig! Ein toller Historienschmöker, der keine Wünsche offenlässt, nahe an den geschichtlichen Fakten und doch leidenschaftlich und packend. Die Autorin verfügt nicht nur über fundiertes Wissen, sie verpackt dieses in eine fesselnde, zu Herzen gehende Geschichte mit viel Herzblut und sehr authentischen Figuren. Ihr Schreibstil ist gehoben und dennoch sehr eingängig, ihre Sprache anschaulich ohne kitschig zu sein, sie lässt die Stadt vor unserem inneren Auge entstehen, lässt Menschen und ihre Geschichte lebendig werden. Der Leser taucht ein in ein farbenprächtiges Panorama und gewinnt außerdem tiefste Einblicke in das Seelenleben der Protagonisten. Fast nebenher erlangt der Leser großes Wissen in Katharinas Politik, aber noch viel spannender sind die zwischenmenschlichen Beziehungen, die unverhofften und oft überraschenden Freundschaften und Allianzen, die sich bilden. Die Autorin versteht es meisterhaft, die verschiedenen Perspektiven und Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen, so dass es nicht eine Sekunde langweilig wird. Der Leser erhält so tiefe Einblicke in alle gesellschaftlichen Schichten, vom Leibeigenen und Aufrührer bis zum Hofstaat, und erfährt, was die Menschen motiviert und umtreibt, von ihren Ängsten und Zweifeln, ihrem Mut und ihrer Opferbereitschaft.

Das Buch wimmelt von interessanten Charakteren, auch wenn natürlich einige Nebenfiguren bleiben und die Autorin, wie sie selbst sagt, aufgrund der Fülle an Informationen über Katharina und der Menge an Personen in ihrem Umfeld naturgemäß eine Auswahl treffen musste. Dafür sind diejenigen, die im Buch vorkommen, umso vielschichtiger angelegt, jeder ist besonders in seiner Persönlichkeit und viele machen im Laufe der rund dreizehn Jahre, in denen das Geschehen stattfindet, eine starke Entwicklung durch. Dass die Handlung in einem Zeitrahmen von dreizehn Jahren spielt, macht die Geschichte kompakt und übersichtlich und sie lässt sich leichter verfolgen, ein Pro- und ein Epilog geben ihr zudem einen Rahmen und umschließen sie gleichsam aufs Trefflichste. Formal ist das Geschehen in drei Bücher unterteilt mit fortlaufenden Kapiteln. Sehr hilfreich sind Zeittafel und Personenregister am Anfang des Buches.

Als herausragender Charakter sticht natürlich Katharina hervor. Sie ist eine extrem starke, aber auch zwiespältige Persönlichkeit. Man muss sie für vieles bewundern, aber auch für einiges kritisieren. Die Autorin zeigt den Menschen hinter der Monarchin, eine Frau, die sich durchzusetzen weiß, die um Anerkennung und Liebe ringt, die hochintelligent ist, aber dennoch oft ein anderes Selbstbild hat als ihre Umgebung und ihr Volk von ihr haben. Sie lässt einerseits die Kultur in ihrer Stadt erblühen, fördert Künstler, Literaten und Philosophen, errichtet Bildungsstätten, setzt Reformen durch, herrscht aber andererseits als Autokratin und Despotin und schlägt Rebellionen blutig nieder, umgibt sich mit Jasagern und Schmeichlern und macht die Leibeigenschaft im Land stärker denn je. Aufs tiefste gedemütigt durch den Verrat in ihrem engsten Umfeld, lässt sie trotz der großen menschlichen Enttäuschung am Ende doch Gnade walten, überwältigt von einem großen Liebesbeweis.

Die für mich faszinierendste Figur neben Katharina war übrigens nicht der titelgebende Philosoph Mervier – er beeindruckte mich erst am Schluss -, sondern Katharinas Ziehkind Sonja sowie Merviers Frau Johanna. Erstere ist eine originelle Person, deren Geschichte sich wie ein roter Faden durch die Handlung zieht und die eigentlich immer präsent ist. Über sie würde ich liebend gern mehr lesen. Letztere macht meines Erachtens den deutlichsten Wandel durch. Johanna entwickelt sich von einer schüchternen, von Selbstzweifeln geplagten und anfangs depressiven schwachen Person zu einer erfolgreichen Künstlerin, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, schließlich zu ihrer Liebe steht und ihren Weg geht. Überhaupt beeindruckend, wie besonders die Frauen im Buch in einer für Frauen allgemein schwierigen Zeit sich behaupten und mit aller Kraft versuchen zu überleben.

Fazit: ein absolut lesenswerter Roman, der alles vereint, was einen historischen Roman ausmacht – besser geht einfach nicht. Dass die Autorin erfolgreich Bücher und besonders im historischen Kontext angesiedelte Romane schreiben kann, hat sie hinlänglich bewiesen, doch ihre St Petersburg-Romane setzen noch einen drauf und bestechen durch Detailgenauigkeit und Liebe zu Land, Leuten und Geschichte. Wer sie noch nicht kennt, wird spätestens jetzt ein Fan und darf sich hoffentlich auf noch viele weitere Bände freuen!

Veröffentlicht am 30.04.2019

Psychedelischer Dschungeltrip

Dschungel
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Felix ist verschwunden, verschollen im kambodschanischen Dschungel. Er meldet sich bei keinem mehr, daher macht sich der Ich-Erzähler, auch im Auftrag von Felix‘ Mutter, auf, um seinen besten Freund zu ...

Felix ist verschwunden, verschollen im kambodschanischen Dschungel. Er meldet sich bei keinem mehr, daher macht sich der Ich-Erzähler, auch im Auftrag von Felix‘ Mutter, auf, um seinen besten Freund zu finden. Auf seinem Weg trifft er Hippies, Kriminelle, Rucksacktouristen und Lebenskünstler und lernt Land und Leute mehr kennen als ihm lieb ist. Am Ende hat er durchaus etwas gefunden, doch auch sehr viel verloren.
Ein Roadtrip der besonderen Art, der mich als Leser etwas irritiert zurückließ. Zunächst einmal kam ich leider in die Geschichte nicht recht hinein, was auch an dem für mich holprigen, teilweise abgehackten und mir zu flapsigen Schreibstil lag. Es las sich einfach nicht flüssig. Zum anderen brachte es mir auch nicht Land, Leute und Kultur nahe. Keine Rede davon, dass meine Lust auf mehr Kambodscha oder Dschungel gestiegen wäre. Zum Dritten hatten die Figuren keine Substanz, ich kam nicht an sie heran.
Felix ging mir nach kürzester Zeit auf den Wecker und der Ich-Erzähler bleibt genauso farblos wie anonym. Auch die anderen Figuren, die er im Laufe seiner Reise trifft, sind weder skurril noch liebenswert noch sonst etwas, sie hallen einfach nicht nach. In den Kapiteln wechseln sich Rückblicke auf die Erlebnisse mit Felix und die Erlebnisse der Suche nach ihm ab, und mehr und mehr wird deutlich, wie manipulativ und selbstzerstörerisch der angeblich beste Freund ist. Wenn es drauf ankommt, lässt Felix ihn fallen, und vermeintlich Gutes entpuppt sich lediglich als alberne Mutprobe und Ausloten der Grenze, wie weit sein Freund für ihn, Felix, gehen würde. Beide teilen ein schreckliches Geheimnis, was sicherlich den psychischen Knacks erklärt, den beide in ihrer Kindheit erleiden. Der Ich-Erzähler selbst jedoch, so scheint es, hat ein stabiles Elternhaus und führt als Erwachsener ein halbwegs normales Leben mit Job und Freundin, die ihn liebt, doch er setzt alles aufs Spiel. Wofür? Im Laufe der Geschichte war mir so, als hätte er gar nichts verarbeitet, nichts begriffen und sich auch in keinster Weise weiterentwickelt. Der Trip durch den Dschungel ist haarsträubend, einige Szenen sind zwar durchaus spannend und entbehren auch nicht einer guten Brise Situationskomik, doch alles in allem erschien mir alles zu weit hergeholt und unglaubwürdig. Am Ende fragte ich mich, was eigentlich wirklich passiert oder nur in der Vorstellung des Ich-Erzählers (er fragt sich das übrigens auch selbst) stattfindet. Und so ist es für mich kein Selbstfindungstrip, sondern der Versuch, durch Vergessen und Verdrängung ein Trauma zu verarbeiten, was zum Scheitern verurteilt ist.
Fazit: Leider nicht meins. Für Leute, die psychedelische Trips jenseits der Bewusstseinsebene mögen und sich gut in den gewöhnungsbedürftigen Stil hineinlesen, wahrscheinlich das Richtige. Ich habe es nicht verstanden.

Veröffentlicht am 25.04.2019

Schöner Liebesroman vor spektakulärer Landschaft

Das Versprechen der Islandschwestern
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Bei Pia läuft es gerade nicht so rund. In ihrem Job beim Jugendamt ist sie frustriert, zudem hat sie Stress mit pubertierender Teenager-Tochter und Exmann. Als ihre Großmutter sie bittet, mit ihr nach ...

Bei Pia läuft es gerade nicht so rund. In ihrem Job beim Jugendamt ist sie frustriert, zudem hat sie Stress mit pubertierender Teenager-Tochter und Exmann. Als ihre Großmutter sie bittet, mit ihr nach Island zum 90. Geburtstag ihrer Schwester zu reisen, sagt Pia freudig zu, zumal sie gerne Näheres über das gestörte Verhältnis der Schwestern herausfinden will. Vor Ort in der wunderschönen Landschaft Islands fühlt sie sich gleich wohl, wozu sicherlich auch der interessante Nachbar Ragnar seinen Teil beiträgt...
Sehr schön geschriebener Liebesroman mit super sympathischen und sehr menschlichen Figuren vor der spektakulären Natur Islands. Sehr gut und flüssig zu lesen, dabei aber überhaupt nicht seicht, platt oder plump. Es geht um Gefühle, wie man sie selbst auch sehr gut kennt, um Selbstzweifel und den Versuchen erwachsen und vernünftig zu handeln, aber auch darum, sich einem Menschen nach bitteren Enttäuschungen wieder zu öffnen. Parallel dazu erzählt die Autorin die Geschichte der ungleichen Schwestern Margarete und Helga, die nach dem zweiten Weltkrieg aus dem zerstörten Deutschland nach Island reisen, um dort für ein Jahr als Landarbeiterinnen zu arbeiten. Dies tut sie einfühlsam und humorvoll und verknüpft dabei sehr geschickt zwei Zeitebenen. Dabei erfährt der geneigte Leser häppchenweise die Geschichte des Zerwürfnisses der beiden Schwestern in Island.
Mir haben viele Dinge sehr gut gefallen, zum Einen dass es um “normale" Menschen geht, die versuchen das Richtige zu tun, dabei aber eben auch mal über die Stränge schlagen, die nicht wie Filmstars aussehen und eben auch ihr Päckchen zu tragen haben. Zum Anderen dass die Autorin wohltuenderweise auf massenhaft Bettszenen verzichtet, sie lässt ihre Figuren - sowohl Ragnar und Pia als auch Helga und Margarete - sich langsam und behutsam aneinander annähern. Das ist nicht immer harmonisch, dabei aber zutiefst nachvollziehbar. Außerdem fand ich die Thematik der Islandschwestern spannend, über die Möglichkeit deutscher junger Leute, nach dem Weltkrieg in Island Arbeit zu finden, wie die Schwestern in Island Fuß fassen und wie sie sich in der Gegenwart miteinander und ihrer Vergangenbeit auseinandersetzen. Dabei ergötzte ich mich vor allem an der Figur von Pias Oma, sie ist einfach köstlich, stur und verschlossen, dabei humor- und temperamentvoll und durchaus lässiger als die viel jüngere Pia. Aber natürlich geht auch die Liebesgeschichte von Ragnar und Pia zu Herzen, und es ist sicher hilfreich, dass Ragnar der Typ Wikinger mit kleinen Schwächen ist, an dessen starker Schulter sich Frau gerne anlehnt.
Fazit: Schöner Roman über die Liebe mit authentischen Figuren und viel Lokalkolorit. Man merkt der Autorin ihre Liebe zu Land und Leuten deutlich an, sie beweist zudem großes Wissen darüber, ihr Stil ist leicht und flüssig, die Geschichte jedoch bei weitem nicht seicht, sondern durchaus hintersinnig. Bei mir rief sie jedenfalls sowohl helles Lachen als auch gerührtes Weinen bervor, was zeigt, wie sehr ich mit den Protagonisten mitlebte. Was will man mehr?

Veröffentlicht am 03.04.2019

Solider Schweden-Thriller mit tollen Charakteren

SCHWEIGEPFLICHT
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Die frischgebackene Anwältin Emelie Jansson arbeitet hart in der renommierten Wirtschaftskanzlei Leijon. Da wird sie überraschenderweise als Verteidigerin von Benjamin Emanuelsson angefordert. Dieser ist ...

Die frischgebackene Anwältin Emelie Jansson arbeitet hart in der renommierten Wirtschaftskanzlei Leijon. Da wird sie überraschenderweise als Verteidigerin von Benjamin Emanuelsson angefordert. Dieser ist des Mordes angeklagt, befindet sich in U-Haft und liegt im Koma. Das alles ist zwar rätselhaft, dennoch leckt Emelie Blut und übernimmt heimlich die Verteidigung, obwohl dies nach Kanzleirichtlinien verboten ist. Hilfe erhält sie von Teddy Maksumic, einen Mitarbeiter der Kanzlei und ehemaligen Kriminellen, der immer noch gute Kontakte zu gewissen Kreisen hat. Die beiden erkennen schnell, dass Benjamins Fall enge Verbindung hat zu dem länger zurückliegenden Fall Mats Emanuelsson, Bens Vater, der erst entführt, dann verhaftet wurde und sich später von einer Finnland-Fähre gestürzt hat und als tot gilt. Gemeinsam tauchen sie tief ein in höchst kriminelle Kreise, decken dunkle Machenschaften auf und geraten dabei in Lebensgefahr.

Bandenkriminalität, Verrat, Wirtschaftsbetrug auf höchstem Niveau, Schießereien, Tote und Verletzte, aber auch Freundschaft, Loyalität, Mut und Gerechtigkeitssinn – der Autor webt ein dichtes Netz und verknüpft Vergangenheit und Gegenwart und Menschen aufs Trefflichste miteinander. Entstanden ist ein solider, spannender und ziemlich rasanter Thriller, der immer mehr Fahrt aufnimmt, je weiter die Handlung voranschreitet. In Rückblenden und durch Einschübe erhält der Leser in wohl dosierten Häppchen Einblicke in den etwa drei Jahre zurückliegenden Fall von Mats Emanuelsson, an dem Teddy maßgeblich beteiligt war und der weitaus komplexer ist als angenommen, so komplex gar, dass er Entscheidungen und Taten in der Gegenwart direkt beeinflusst. Den Schreibstil fand ich etwas gewöhnungsbedürftig und nicht so leicht zu lesen. Der Autor wechselt an sich sehr gekonnt zwischen den einzelnen Perspektiven, man merkt deutlich, wenn zum Beispiel aus der Sicht Nikolas, Teddys Neffe und Kleinkrimineller, erzählt wird. Seine Sprache nervt auch mitunter so richtig. Alles in allem fand ich den Schreibstil nicht so eingängig, sondern phasenweise stakkatohaft, und wer Fäkalsprache mag, wird hier jedenfalls auch auf seine Kosten kommen. Die Story und die Charaktere machten das aber für mich wett.

Formal ist die Handlung in fünf Teile gegliedert, eingerahmt von Pro- und Epilog, und erstreckt sich in der Gegenwart über einen Zeitraum von Mai bis August. Mit dem Epilog hatte ich so meine Probleme, ich fand ihn unnötig und den Schluss daneben. Ich habe nichts gegen ein offenes Ende, aber dies machte leider keine Lust auf Mehr. Für mich war die Geschichte daher vor dem Prolog beendet. Die Charaktere fand ich sehr gelungen, alle sind in ihrer Persönlichkeit ausgereift und authentisch. Man erhält durch die verschiedenen Perspektiven sehr gute Einblicke in die Gedankenwelt der einzelnen Personen, und auch die sogenannten Nebenfiguren gehen nicht unter. Als Hauptagierende stechen natürlich besonders Emelie und Teddy hervor, sie sind vielschichtig und polarisieren teilweise ziemlich. Beide haben mir sehr gut gefallen, und auch wenn ich mitunter von ihren Aktionen geschockt war, konnte ich doch immer alles gut nachvollziehen. Emelie macht in meinen Augen die deutlichste Entwicklung durch. Hochintelligent, engagiert und verbissen, und doch ist sie anfangs doch sehr unsicher und unerfahren – wie denkt Teddy so schön: Sie weiß so wenig (Kapitel 15). Ihre erste Gerichtsverhandlung als Verteidigerin von Teddys Neffen Nikola meistert sich jedoch vortrefflich und sie gewinnt mehr und mehr an Format. Durch Benjamins Mandat und ihre Zusammenarbeit mit Teddy wird sie zunehmend selbstbewusster, sie erweist sich als mutig und erkennt, was sie im Leben wirklich will, nämlich im Gerichtssaal Menschen verteidigen, die ihre Hilfe brauchen. Das und überhaupt die Gerichtsszenen gefielen mir außerordentlich, das fand ich spannend und informativ. Auch Teddy ist ein sehr interessanter Charakter, er ist einerseits der geläuterte Ex-Knacki, andererseits bewegt er sich aber noch immer in diesen Kreisen und handelt auch nicht gesetzeskonform, sondern so, wie es seinem eigenen Gerechtigkeitssinn entspricht. Er ist aber dabei immer menschlich und empathisch, was ihn zu einem echten Sympathieträger im Buch macht. Es gibt sehr viele spannende Szenen, in denen er seinen Mut und seine Aufopferungsbereitschaft zeigt. Durch seine Interaktion mit den Ex-Kumpanen und auch durch seinen Neffen Nikola erhält der Leser recht tiefe Einblick in die Welt des organisierten Verbrechens, wie dort agiert und kommuniziert wird und wie die Beziehungen zueinander sind. Interessant ist zudem, dass man in Bezug auf Berufsethos und Loyalität meint in einer verkehrten Welt zu sein. Die vermeintlichen Kriminellen sind weitaus loyaler als Mitglieder der Polizei. Es gibt also kein starres „der Gute gegen den Bösen“.

Fazit: Guter Thriller mit starken Charakteren und komplexer Story, der, trotz manchmal anstrengendem Schreibstils, spannend und informativ ist. Von Emelie und Teddy möchte man durchaus mehr lesen. Für Fans des eher härteren Thrillers gut geeignet, jedoch nicht so der typische Schweden-Thriller mit düsterer Atmosphäre und kaputtem Ermittler, der die meist psychopathischen Verbrecher zur Strecke bringt. Hier verwischen die Grenzen zwischen gut und böse und nichts ist, wie es scheint. Die Handlung wird konsequent vorangetrieben und bleibt spannend mit zum Schluss.

Veröffentlicht am 25.03.2019

Starke Charakterstudie, Familiengeschichte und Thriller in einem!

ALLES WAS ICH DIR GEBEN WILL
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Der Schriftsteller Manuel Ortigosa schreibt gerade an den letzten Zeilen seines neuen Buches, als ihm Polizeibeamten eine schreckliche Mitteilung machen: Sein Ehemann Alvaro ist in Galicien tödlich verunglückt. ...

Der Schriftsteller Manuel Ortigosa schreibt gerade an den letzten Zeilen seines neuen Buches, als ihm Polizeibeamten eine schreckliche Mitteilung machen: Sein Ehemann Alvaro ist in Galicien tödlich verunglückt. Manuel ist geschockt, denn Alvaro sollte eigentlich in Barcelona sein. Manuel reist ins ferne Galicien, um Alvaro zu identifizieren, und wird von Alvaros Anwalt zur Testamentseröffnung gebeten. Diese birgt mehrere Überraschungen: Anscheinend hat Alvaro entgegen Manuels Wissen Familie in Galicien, ist von adliger Herkunft und vererbt außerdem Manuel seine Besitztümer. Manuel glaubt nun, dass sein Leben mit Alvaro eine einzige Lüge war, und will am liebsten so schnell wie möglich ins heimische Madrid zurück. Da eröffnet ihm der seit kurzem pensionierte Kommissar Nogueira, dass er am Unfallhergang zweifelt und vielmehr überzeugt ist, dass es Mord war. Er überredet Manuel weitere Ermittlungen anzustellen, und damit öffnen sie die Büchse der Pandora. Manuel stochert im Wespennest und erfährt immer mehr über Alvaros Familie, ihre Geheimnisse und Abgründe und deckt nach und nach die wahren Hintergründe auf.

Das ist einfach großartig. Intelligent und subtil, dabei spannend und voller Emotionen, einfühlsam und mit herausragenden Charakteren. Thriller, Familiendrama, Geschichte einer großen Liebe – dies alles und noch viel mehr vereint dieser Roman. Die Autorin kommt dabei zunächst ohne die große blutige Action aus, subtil verwebt sie die Figuren miteinander, von deren Interaktion lebt die Geschichte. Nach und nach offenbaren sich dem Leser die einzelnen Persönlichkeiten und deren Leben in einer einzigartigen Landschaft. Auch in die für uns fremde Welt des Adels und dessen Standesdünkel, die Abgrenzung vom „Personal“ und die absolute Wahrung der familiären Status erhalten wir tiefe Einblicke. Dennoch steigt der Spannungsbogen zum Ende hin gewaltig, die Geschichte wird zum Thriller, und auch blutige Auseinandersetzungen dürfen da nicht fehlen. Mehr als eine Person machen dabei eine Persönlichkeitsentwicklung durch, die ebenfalls sehr fesselnd zu beobachten ist.

Manuel als Charakter ist herausragend, er ist stark und doch verletzlich, hochintelligent und doch ein Zweifler. Wie er nach Alvaros Todesnachricht eine Achterbahn der Gefühle erlebt, an seinem Leben mit Alvaro zweifelt, wütend ist und trauert und dann doch wieder sich aufrafft und nach und nach die Wahrheit herausfindet, neue Beziehungen mit Menschen aufbaut und wieder Freude empfindet, ist eine ganz besondere Entwicklung und wird von der Autorin wunderbar dargestellt. Er ist ganz klar die Hauptfigur, nur ganz wenige Szenen werden aus einer anderen Perspektive erzählt, von ihm erfährt der allwissende Leser am meisten. Mit ihm lebt man dadurch zunächst einmal am meisten mit, in Rückblenden wird zudem sein Leben mit Alvaro erzählt. Doch die Autorin versteht es auch meisterhaft, die anderen Figuren lebensnah und authentisch darzustellen, so ist kaum einer nur gut oder nur böse, und die Szenen aus anderen Perspektiven tragen wesentlich zum Fortgang der Geschichte bei. Nicht nur Manuel, auch Nogueira macht eine Entwicklung durch, er ist neben Manuel der Charakter, den ich am Faszinierendsten fand. Er ist polarisierend, man weiß nicht woran man bei ihm ist und oftmals ist er auch nicht gerade ein Sympathieträger (anders als Manuel) – dennoch ist es gerade Nogueiras Zwiespältigkeit, die einen fesselt. Und nicht zuletzt ist es Nogueiras Hartnäckigkeit und Gerechtigkeitssinn zu verdanken, dass Manuel am Ball bleibt und schließlich die Wahrheit ans Licht kommt.

Fazit: Sehr guter Roman mit starken Figuren, die einen nicht mehr loslassen. Die Autorin hat einen feinsinnigen Schreibstil und versteht es hervorragend Spannung und Emotionen zu erzeugen, ihre Beschreibung der Menschen und ihres Lebens sind faszinierend und anschaulich. Auch wenn man den Roman nicht als reinen Krimi oder Thriller lesen sollte, so ist er als solcher durchaus gut konstruiert und bietet eine logische und befriedigende Lösung, die dem Genre würdig ist. Mir haben indessen besonders die Darstellung der Charaktere und ihre Beziehungen zueinander gefallen, und ich fand es großartig, wie die Autorin die Motive der Figuren hergeleitet und ihre die Entwicklung dargestellt hat. Das ist wirklich absolut lesenswert!