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Veröffentlicht am 10.02.2023

Emotionale Neuerzählung

STONE BLIND – Der Blick der Medusa
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Medusa ist noch ein Säugling, als sie vor der Höhle ihrer Schwestern, der Gorgonen Euryale und Stheno abgelegt wird. Liebevoll ziehen die beiden als Monster verschrienen Frauen die Kleine auf, obwohl sie ...

Medusa ist noch ein Säugling, als sie vor der Höhle ihrer Schwestern, der Gorgonen Euryale und Stheno abgelegt wird. Liebevoll ziehen die beiden als Monster verschrienen Frauen die Kleine auf, obwohl sie doch ganz anders ist; schwächer, mit Flügeln und vor allem eines: sterblich. Viele Jahre später macht sich der junge Perseus auf eine gefährliche Reise, um seine Mutter Danaë vor einer Zwangsehe zu bewahren, doch König Polydektes will nur auf ihre Hand verzichten, wenn Perseus ihm den Kopf einer Gorgone bringt.

„Stone Blind. Der Blick der Medusa“ ist bereits der vierte Roman für Erwachsene aus der Feder der Schriftstellerin und Comediennne Natalie Haynes. In ihrem Podcast „Natalie Haynes stands up for the Classics“ widmet sie sich mythologischen Figuren und Werken aus dem alten Rom und Griechenland. Ihre Neuerzählung des Medusa-Mythos wird aus den unterschiedlichsten Perspektiven geschildert, was das Geschehen von allen Seiten beleuchtet. Es sei dabei auch verraten, dass nicht nur Menschen zu Wort kommen und trotz Alter und Schwere des Stoffes durchaus gelacht werden darf.

Die Handlung rund um Medusa, ihre verhängnisvolle Begegnung mit Poseidon und Athene und die Gemeinschaft mit ihren beiden Schwestern steht im Zentrum des Romans. Vor allem die Beziehung zwischen den drei Gorgonen geht dabei sehr zu Herzen. Euryale und Stheno sehen sich denselben Problemen und Ängsten gegenüber, wie menschliche Eltern. Jeden Schritt und jede Veränderung an Medusa beäugen sie kritisch und fragen sich, ob sie als Mütter eigentlich gut genug sind. Witzig hingegen ist die Interaktion zwischen dem doch sehr hilflosen Perseus auf der einen und Athene und Hermes auf der anderen Seite, die ihm als einem der vielen Söhne des Zeus göttlichen Beistand leisten sollen.

Der ständige Perspektivwechsel, der die Geschichte einerseits sehr spannend und dynamisch macht, führt andererseits dazu, dass wir einen großen Teil des Buches nicht mit der Protagonistin verbringen. Ich verstehe, dass die Autorin hier die Zusammenhänge aufzeigen wollte, hätte aber gerne noch mehr von Medusa und ihrem Schicksal gelesen.

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Veröffentlicht am 05.02.2023

Eine wichtige Sammlung

Global Female Future
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1982 – ein turbulentes Jahr mit dem Krieg um die Falklandinseln, dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und Massenprotesten für die atomare Abrüstung. An vorderster Front bei all diesen Protesten: Frauen. ...

1982 – ein turbulentes Jahr mit dem Krieg um die Falklandinseln, dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und Massenprotesten für die atomare Abrüstung. An vorderster Front bei all diesen Protesten: Frauen. Mitten in dieser Umbruchstimmung gründen einige Aktivistinnen in Wien die Frauen*solidarität (damals noch ohne Sternchen), eine feministische Organisation mit gleichnamigen Magazin, welche zunächst auf die Frauenfeindlichkeit in der Entwicklungshilfe hinweisen soll.

Zu deren 40-jährigem Bestehen erschien nun der vorliegende Band „Global Female Future“, herausgegeben von zwei der Gründerinnen – Andrea Ernst und Gerda Neyer – zusammen mit Ulrike Lunacek, Rosa Zechner und Andreea Zelinka. Er umfasst sechs große Themengebiete: (Anti-)Rassismus und Postkolonialismus, Gewalt, Reproduktion, Politik, Arbeit sowie Umwelt und Klima, deren Grenzen jedoch fließend sind.

Die Sammlung besteht aus diversen Beitragsformen; es finden sich Artikel, Interviews, Gedichte, Liedtexte, Prosa und vieles mehr darin. Infokästen ergänzen das Gelesene und bieten zu bestimmten Themen einen tieferen Einblick. Es wird sowohl auf erfolgreiche feministische Aktionen und Projekte aus den unterschiedlichsten Ländern und Kontinenten zurückgeblickt, als auch in die Zukunft. So entsteht ein breiter Einblick, der aber nicht thematisch zusammenhängend oder logisch aufeinander aufbauend ist. Es wird zum Nachdenken angeregt, aber vieles muss sicherlich noch durch eigene Lektüre vertieft werden.

„Global Female Future“ spricht viele aktuelle Themen an, zum Beispiel anti-asiatischen Rassismus, Postkolonialismus oder Care-Arbeit. Dabei wird durchaus Bekanntes aufgegriffen, wie die Ethik von Leihmutterschaften oder den Einsatz ausländischer Kräfte in der häuslichen Pflege. Andere Themen, etwa das der Zwangssterilisationen in den 90er Jahren in Peru oder die Herausforderungen, die weibliche Guerrillas in Lateinamerika bei der Rückkehr in ein „normales Leben“ bewältigen müssen, waren mir vorher unbekannt.

Eine wichtige Sammlung.

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Veröffentlicht am 26.01.2023

Solider Reihenauftakt

Der Mitternachtsmord
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London, 1958. Nach dem Tod ihrer Mutter lebt Marion Lane bei ihrer Großmutter, bis sie mit Anfang 20 einen Job bei „Miss Brickett‘s gebrauchte Bücher und Kuriositäten“ angeboten bekommt. Doch hinter der ...

London, 1958. Nach dem Tod ihrer Mutter lebt Marion Lane bei ihrer Großmutter, bis sie mit Anfang 20 einen Job bei „Miss Brickett‘s gebrauchte Bücher und Kuriositäten“ angeboten bekommt. Doch hinter der Fassade der heruntergekommenen Buchhandlung befindet sich der Eingang zu Londons geheimnisvollster Detektei, die sich in den Tunneln und Gängen unter der Stadt erstreckt. Dort befindet sich Marion nun in ihrem ersten Ausbildungsjahr zur „Inquirerin“, als eine Kollegin brutal ermordet wird. Als dann noch ihr Mentor verdächtigt wird, muss Marion ihre eigenen Ermittlungen anstellen.

„Der Mitternachtsmord“ ist der Auftakt einer historischen Krimi-Reihe, deren dritter Originalband im Juni erscheinen wird. Die Handlung wird aus der Sicht der Protagonistin Marion erzählt, nur zu Beginn springen wir zu der Szene, die sich unmittelbar vor dem Mord abspielt. T.A. Willberg gelingt es dabei wunderbar, das Labyrinth unter London zum Leben erwachen zu lassen. Laut eigener Aussage lies sie sich dabei von den Tunneln unter Maltas Hauptstadt Valletta inspirieren, wo die in Südafrika geborene Autorin ihre Wahlheimat gefunden hat.

Der Handlungsort ist definitiv einer der Hauptanziehungspunkte der Geschichte. Darüber hinaus gefiel es mir sehr gut, dass Marion sich für Technik begeistert und hier durchaus ihren männlichen Mitlehrlingen überlegen ist. Auch wenn sie manchmal nicht die besten Entscheidungen trifft, ist sie auf jeden Fall eine starke Persönlichkeit. Für meinen Geschmack hätte sie jedoch ein wenig mehr Tiefe verdient, denn wir wissen zwar, worin Marion begabt ist, aber was macht sie ansonsten aus? Welche Ängste hat sie? Welche Träume? Generell bleiben alle Figuren, vor allem die anderen Lehrlinge, etwas blass, was sich hoffentlich in den Folgebänden ändert.

Für den eigentlichen Kriminalfall gibt es jede Menge Verdächtige, doch nach etwa der Hälfte des Buches ist die/der Schuldige gefunden und es strebt alles nur noch auf den letztendlichen Showdown hin. Hier hätte der Spannungsbogen etwas besser gehalten werden können – dennoch ein solider Reihenauftakt, der Spaß macht.

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Veröffentlicht am 25.01.2023

Interessanter Überblick

Brecht und die Frauen
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Zeit seines Lebens umgab sich Bertolt Brecht mit Frauen; seine Arbeit ist untrennbar mit ihnen verbunden. Dieses Verhalten brachte ihm oft Kritik sein und führte zu der Wahrnehmung, für sie alle müsse ...

Zeit seines Lebens umgab sich Bertolt Brecht mit Frauen; seine Arbeit ist untrennbar mit ihnen verbunden. Dieses Verhalten brachte ihm oft Kritik sein und führte zu der Wahrnehmung, für sie alle müsse Mitleid empfunden werden. Die freie Autorin, Herausgeberin, Journalistin und Übersetzerin Unda Hörner setzt nun in „Brecht und die Frauen“ einen anderen Fokus und stellt uns chronologisch die wichtigsten seiner Gefährtinnen vor.

Obwohl seine Jugendliebe Paula Banholzer nie zu Brechts Theaterwelt gehörte, beschäftigte sie seine Gedanken ein Leben lag. Ehen führte Brecht zwei: von Marianne Zoff wurde er nach fünf Jahren Ehe wieder geschieden, mit Helene Weigel blieb er bis an sein Lebensende verheiratet. Sie beschreibt Unda Hörner treffend als Zentrum des Brechtschen Universums. Die große Schauspielerin und Intendantin kümmerte sich neben ihren zwei Kindern auch um die Geliebten ihres Gatten, den Haushalt und ihre Karriere.

Elisabeth Hauptmann verdankt Brecht seinen großen Erfolg „Die Dreigroschenoper“, denn sie entdeckte das Original und übersetzte es. Darüber hinaus organisiert, strukturiert und koordiniert sie Brechts Schreiben. Margarete Steffin wird in Brechts Figur „Lai-Tu“ fortbestehen, ihr Tod wirft ihn aus der Bahn und er ist unfähig zu schreiben. Die Dänin Ruth Berlau hilft Brecht, seine Stücke im Exil wieder auf die Bühne zu bringen. Im Gegensatz zu Helene Weigel, die genau weiß, worauf sie sich bei ihrem Mann eingelassen hat, wird sie jedoch stets darunter leiden, nicht die einzige Frau für Brecht zu sein. Nach dessen Tod stehen viele Frauen an seinem Grab; manche von ihnen arbeiten auch zukünftig in seinem Sinne zusammen.

Unabhängig von Brecht waren all diese Frauen erfolgreich, schrieben Erzählungen, inszenierten Stücke, spielten Hauptrollen – sie mögen oft unglücklich über Brechts Verhalten gewesen sein, Opfer sind sie jedoch nicht. Wer bereits viel über Brechts Leben weiß, erfährt aus diesem Buch nicht viel Neues, gelungen ist es dennoch. Allerdings verwundert es, dass die Autorin keines ihrer zahlreichen Zitate konkret nachweist.

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Veröffentlicht am 23.01.2023

Sehr persönliche Sammlung

Nachthimmel mit Austrittswunden
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Ocean Vuong begeisterte schon mit seinem 2019 erschienenen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. In seiner ersten Gedichtsammlung „Nachthimmel mit Austrittswunden“ knüpft er sowohl thematisch ...

Ocean Vuong begeisterte schon mit seinem 2019 erschienenen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. In seiner ersten Gedichtsammlung „Nachthimmel mit Austrittswunden“ knüpft er sowohl thematisch als auch emotional an seinen Erstling an. Die Sammlung von insgesamt 35 Gedichten ist zweisprachig: auf der linken Seite finden wir den englischen Originaltext, auf der rechten die deutsche Übersetzung von Anne-Kristin Mittag. Wie schon bei seinem Roman leistet sie großartige Arbeit, in dem sie die englischen Sätze mit teils mehrdeutigen Bezügen gekonnt ins Deutsche überträgt.

Vuong sprengt die Grenzen zwischen Prosa und Lyrik, probierte verschiedene Formen aus, so zum Beispiel das japanische Haibun, die Briefform oder ein Gedicht, das nur aus Fußnoten besteht. Er nimmt Bezug auf reale Ereignisse: 1975 spielte der Rundfunk der Streitkräfte „White Christmas“ als Startsignal der Operation „Frequent Wind“, welche die Evakuierung Saigons in der Endphase des Vietnamskriegs einleitete. Vuong kontrapunktiert Zeilen des Liedes mit Beschreibungen der realen Ereignisse. In einem anderen Gedicht nimmt er Bezug auf einen im Jahr 2011 verübten Doppelmord an einem schwulen Ehepaar in Texas.

Ocean Vuong verarbeitet auch Autobiografisches. 1988 im damaligen Saigon geboren, kam er mit 2 Jahren in die USA. Auf dem Cover der Sammlung sehen wir ihn, zwischen Mutter und Tante, in einem philippinischen Flüchtlingslager. Der Vater, der wegen häuslicher Gewalt im Gefängnis saß, verließ die Familie – eine Abwesenheit, die den Autor zeit seines Lebens beschäftigt. In seinem Gedichten erdenkt er sich das, was vom Vater fehlt, hält Zwiesprache mit ihm oder nimmt seine Position ein. Einmal vergleicht er sich selbst mit Telemach, dem Sohn des Odysseus, der ebenfalls von diesem als Kind verlassen wurde.

Im Gegensatz zum Vater ist seine Mutter in Vuongs Texten präsent. Als Analphabetin brachte sie den Sohn mit ihrer Arbeit in einem Nagelstudio durch, was nicht immer einfach war. Und auch nach der Einwanderung bleiben Ocean und seine Familie in den USA oft einsam, gehören nicht dazu. Besonders der Autor fragt sich, wo er als junger, homosexueller Vietnamese seinen Platz im „American Dream“ finden soll. Im emotionalen Gedicht „Someday I‘ll love Ocean Vuong“ richtet er das Wort an sich selbst:

„Don‘t be afraid, the gunfire
is only the sound of people
trying to live a little longer
& failing. Ocean. Ocean -
get up. The most beautiful part of your body
is where it‘s headed. & remember
loneliness is still time spent
with the world.“ (Seite 158/160)

Was für eine wundervolle Sammlung!

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