Sehr persönliche Sammlung
Ocean Vuong begeisterte schon mit seinem 2019 erschienenen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. In seiner ersten Gedichtsammlung „Nachthimmel mit Austrittswunden“ knüpft er sowohl thematisch ...
Ocean Vuong begeisterte schon mit seinem 2019 erschienenen Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“. In seiner ersten Gedichtsammlung „Nachthimmel mit Austrittswunden“ knüpft er sowohl thematisch als auch emotional an seinen Erstling an. Die Sammlung von insgesamt 35 Gedichten ist zweisprachig: auf der linken Seite finden wir den englischen Originaltext, auf der rechten die deutsche Übersetzung von Anne-Kristin Mittag. Wie schon bei seinem Roman leistet sie großartige Arbeit, in dem sie die englischen Sätze mit teils mehrdeutigen Bezügen gekonnt ins Deutsche überträgt.
Vuong sprengt die Grenzen zwischen Prosa und Lyrik, probierte verschiedene Formen aus, so zum Beispiel das japanische Haibun, die Briefform oder ein Gedicht, das nur aus Fußnoten besteht. Er nimmt Bezug auf reale Ereignisse: 1975 spielte der Rundfunk der Streitkräfte „White Christmas“ als Startsignal der Operation „Frequent Wind“, welche die Evakuierung Saigons in der Endphase des Vietnamskriegs einleitete. Vuong kontrapunktiert Zeilen des Liedes mit Beschreibungen der realen Ereignisse. In einem anderen Gedicht nimmt er Bezug auf einen im Jahr 2011 verübten Doppelmord an einem schwulen Ehepaar in Texas.
Ocean Vuong verarbeitet auch Autobiografisches. 1988 im damaligen Saigon geboren, kam er mit 2 Jahren in die USA. Auf dem Cover der Sammlung sehen wir ihn, zwischen Mutter und Tante, in einem philippinischen Flüchtlingslager. Der Vater, der wegen häuslicher Gewalt im Gefängnis saß, verließ die Familie – eine Abwesenheit, die den Autor zeit seines Lebens beschäftigt. In seinem Gedichten erdenkt er sich das, was vom Vater fehlt, hält Zwiesprache mit ihm oder nimmt seine Position ein. Einmal vergleicht er sich selbst mit Telemach, dem Sohn des Odysseus, der ebenfalls von diesem als Kind verlassen wurde.
Im Gegensatz zum Vater ist seine Mutter in Vuongs Texten präsent. Als Analphabetin brachte sie den Sohn mit ihrer Arbeit in einem Nagelstudio durch, was nicht immer einfach war. Und auch nach der Einwanderung bleiben Ocean und seine Familie in den USA oft einsam, gehören nicht dazu. Besonders der Autor fragt sich, wo er als junger, homosexueller Vietnamese seinen Platz im „American Dream“ finden soll. Im emotionalen Gedicht „Someday I‘ll love Ocean Vuong“ richtet er das Wort an sich selbst:
„Don‘t be afraid, the gunfire
is only the sound of people
trying to live a little longer
& failing. Ocean. Ocean -
get up. The most beautiful part of your body
is where it‘s headed. & remember
loneliness is still time spent
with the world.“ (Seite 158/160)
Was für eine wundervolle Sammlung!