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Veröffentlicht am 27.02.2020

Gaga ist die Beste

An Nachteule von Sternhai
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Alles beginnt mit einer E-Mail von Bett an die ihr noch unbekannte Avery. Ihre beiden Väter, so hat sie es erfahren, haben sich auf einer Messe ineinander verliebt und wollen die beiden 12-Jährigen nun ...

Alles beginnt mit einer E-Mail von Bett an die ihr noch unbekannte Avery. Ihre beiden Väter, so hat sie es erfahren, haben sich auf einer Messe ineinander verliebt und wollen die beiden 12-Jährigen nun gemeinsam in ein Ferienlager schicken. Die Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sollen eine Familie werden. So haben sich die beiden Väter das auf jeden Fall vorgestellt. Doch dabei haben sie die Rechnung ohne ihre Töchter gemacht, denn die beschließen gemeinsam, dass eine Freundschaft zwischen ihnen nicht in Frage kommt.

Bett und Avery sind zwei völlig verschiedene Charaktere. Während Bett eine Sportskanone ist, Tiere liebt und mutig alles ausprobiert, ist Avery die vorsichtige mit tausend Ängsten und Allergien, die ihre Nase lieber in ein Buch steckt. Was die beiden jedoch gemeinsam haben, ist das Leben mit einem allein erziehenden schwulen Vater. Schon bald erkennen sie, dass zwei Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und Träumen sich auch ergänzen können und werden trotz aller Vorbehalte beste Freundinnen. Doch dann kommen ihnen erneut "die Dads" in die Quere...

Die Charaktere sind definitiv die Stärke dieses Jugendbuchs. Bett und Avery sind tolle Persönlichkeiten mit vielfältigen Interessen und Wesenszügen, so dass bestimmt jedes Mädchen irgendeine Eigenschaft von sich in einer von ihnen wiederfinden kann. Auch die Dads sind trotz ihrer Schwächen wunderbare Väter, die eigentlich immer nur das Beste für ihre Töchter wollen. Unangefochtenes Highlight ist jedoch Betts Großmutter "Gaga" - einer der liebenswertesten und verrücktesten Protagonistinnen, der ich jemals in einem Buch begegnet bin. Wenn ich alt bin, möchte ich sein wie "Gaga".

Die gesamte Handlung wird nur in E-Mails, Briefen und zusätzlichen Dokumenten erzählt. Durch die wechselnden Perspektiven klappt das sehr gut und man lernt einen Sachverhalt immer aus mehreren Blickwinkeln kennen. Auch Schauplätze lassen sich so ohne Probleme wechseln und zeitliche und räumliche Distanzen überwinden. Man sollte jedoch im Hinterkopf behalten, dass "Von Nachteule an Sternhai" eine Buch für jüngere Jugendliche ist. Somit ist das Ende des Romans keine große Überraschung, sondern kündigt sich doch recht deutlich in den letzten Seiten an. Dennoch ist es ein tolles Buch für junge Mädchen mit grandiosen Charakteren.

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Veröffentlicht am 27.02.2020

Voller Poesie

Auf Erden sind wir kurz grandios
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"Auf Erden sind wir kurz grandios" ist ein einziger, langer Brief an die Mutter unseres Protagonisten, der von allen nur "Little Dog" genannt wird. Seine Mutter Rose ist vieles: Tochter, Schwester, Nageldesignerin, ...

"Auf Erden sind wir kurz grandios" ist ein einziger, langer Brief an die Mutter unseres Protagonisten, der von allen nur "Little Dog" genannt wird. Seine Mutter Rose ist vieles: Tochter, Schwester, Nageldesignerin, Analphabetin, geschieden - aber vor allem ist sie eines: traumatisiert von den Erlebnissen des Vietnamkrieges. Wie ihre Mutter Lan schreckt sie nachts oft von unerwarteten Geräuschen auf und versteckt sich dann mit ihrer Familie vor dem vermeintlichen feindlichen Angriff. Als Little Dog noch ein kleiner Junge war, floh er mit Großmutter, Mutter und Tante in die USA; ein Erlebnis, das keiner von ihnen abschütteln kann. Und so leben sie zusammen in einer Wohnung: die schizophrene Großmutter, die Mutter, die ihren Sohn verprügelt und schließlich der Erzähler, ein schmächtiger, unsicherer Junge - das perfekte Opfer für die Kinder der Nachbarschaft.

Es fällt mir unglaublich schwer, dieses Buch zu bewerten. Dass Ocean Vuong schreiben kann, steht vollkommen außer Frage. Seine Worte sind poetisch und voller Kraft und treffen immer mit schmerzhafter Genauigkeit den Kern einer Sache. Vor allem die problematische Liebe zu einer Mutter, die ihm Gewalt antut, bis er eines Tages alt genug ist, sich zu widersetzen, ist treffend geschildert. Dennoch ist diese künstlerische Schreibe auch das, was den Text manchmal spröde macht. Was wie eine literarisierte autobiografische Familiengeschichte beginnt, zerfasert nach und nach bis am Ende nur noch einzelne Sätze übrig sind.

Auch thematisch ist das Buch nur schwer einzuordnen. Es wirkt, als würde der Erzähler in einem Gedankenstrom einfach alles zu Papier bringen, was ihm durch den Kopf geht. Ungeschönt und ungeordnet. So geht es mal um die Vergangenheit der Familie in Vietnam, mal um die erste Liebe des Protagonisten zu einem Jungen, der alles repräsentiert, was er nicht ist: stark, weiß, männlich, Amerikaner - anstatt sich mehr an diesem inneren Konflikt festzuhalten und näher zu beleuchten, was es für Little Dog bedeutet, mit dieser Hautfarbe und diesem zarten Körper aufzuwachsen, ergeht sich der Autor in zahlreichen Sexszenen. Die haben zwar für die Handlung eine Bedeutung, da sie die Gefühlswelt des Erzählers offen legen, nehmen aber - meiner Meinung nach - zu viel Raum ein.

Und genau da kommen wir zu einer weiteren Schwierigkeit des Romans: Wie viel Little Dog steckt in Ocean Vuong? Wie viel Autobiografie in "Auf Erden sind wir kurz grandios"? Dass vieles auf einer wahren Grundlage fußt, daraus hat der Autor kein Geheimnis gemacht - die Einreise in die USA, sein Großvater Paul, seine Liebe zu Männern, das alles ist real. Und sollte auch alles weitere in seinem Roman real sein, wie könnte ich dann kritisieren, welche Schwerpunkte das Buch setzt?

Recht weit am Ende beschreibt er zum Beispiel eine Szene bei einer vietnamesischen Beerdigung. Wenn dort ein Mensch mitten in der Nacht stirbt, ist oft kein Bestatter im Dienst, da diese sehr schlecht bezahlt werden. Also versammeln sich spontan die Nachbarn, sammeln Geld und engagieren einige Drag-Künstler, die mit ihrer Performance die Trauer "verschieben", bis der Verstorbene abgeholt werden kann. Solche kulturellen Hintergründe hätte ich mir verstärkt gewünscht - für meinen Geschmack rücken die vietnamesische Herkunft und die Erlebnisse des Krieges irgendwann hinter Drogen und Sexualität zu weit aus dem Fokus. Durch die Zerfaserung des Textes bleiben zudem so viele, sicherlich gewollte Lücken: Wie verläuft Little Dogs Schulzeit? Wie sein Studium? Wie gehen Mutter und Großmutter damit um, wenn der Sohn das Haus verlässt? Und wie geht es dem Protagonisten nach seinem Outing in seinem weiteren Umfeld? Alles das bleibt offen, aber vielleicht ist es genau das, was der Leser akzeptieren muss, um die Poesie des Romans genießen zu können.

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Veröffentlicht am 27.02.2020

Eines meiner Jahreshighlights 2019

Der Gesang der Flusskrebse
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Oktober 1969. Im Marschland entdecken zwei Jungen die Leiche von Chase Andrews, einem der beliebtesten Söhne der Stadt, ehemals Starquarterback und Frauenheld. Schnell fällt der Verdacht auf diejenige, ...

Oktober 1969. Im Marschland entdecken zwei Jungen die Leiche von Chase Andrews, einem der beliebtesten Söhne der Stadt, ehemals Starquarterback und Frauenheld. Schnell fällt der Verdacht auf diejenige, auf die schon immer herabgeschaut und die schon immer verspottet wurde: das Marschmädchen.

August 1952. An einem heißen Morgen verlässt Kyas Mutter mit einem großen Koffer in der Hand ihre Kinder und den prügelnden Ehemann. Während die sechsjährige Catherine, genannt Kya, fest an ihre Rückkehr glaubt, verlassen die älteren Geschwister nach und nach die ärmliche Hütte in den Marschen. Kya bleibt allein mit dem Alkoholikervater zurück. An guten Tagen gehen sie gemeinsam angeln und er bringt ihr alles über die Marschen bei, was er weiß. An schlechten Tagen muss Kya vor den brutalen Überraschungsattacken ihres Vaters fliehen und verkriecht sich tief in den Marschen.

Gekonnt verwebt Delia Owens in "Der Gesang der Flusskrebse" zwei Handlungsebenen miteinander: zum einen Kyas Kindheit und Erwachsenwerden seit dem Fortgang der Mutter, zum anderen den Erzählstrang, der mit dem Leichenfund beginnt und den ganzen Kriminalfall bis zum Gerichtsurteil verfolgt. Am Ende werden beide Stränge sich treffen und für den Leser ein stimmiges, wenn auch verstörendes Bild abgeben. Die Sprache der Autorin ist dabei zart und poetisch, vor allem dann, wenn sie Kyas geliebtes Marschland beschreibt. Vor den Augen des Lesers wird dieser Rückzugsort des jungen Mädchens lebendig. Immer wieder sind auch Gedichte in den Text eingebettet.

Überhaupt ist dieses Buch eine Geschichte der leisen Töne - abgesehen von dem Tod vom Chase Andrews sind es nur viele kleine Dinge, die die Handlung vorantreiben. Schon von Kindesbeinen an wird Kya mit der Abneigung der Menschen von Barkley Cove konfrontiert. Obwohl die Eltern aus durchaus angesehenen Familien stammen, landen sie mit ihren Kindern im Marschland und sind von nun an nur noch "das Sumpfpack". Mütter ziehen ihre Kinder von Kya fort, wenn sie ihr auf der Straße begegnen und so bricht sie auch nach einem einzigen Tag die Schule ab, weil sie die Hänseleien der anderen Kinder nicht ertragen kann.

Einzige Vertraute in diesem einsamen Leben sind der schwarze Ladenbesitzer Jumpin' und seine Frau Mabel, die allein aufgrund ihrer Hautfarbe in der Kleinstadt schon zu den Außenseitern gehören. Sie ermöglichen der kleinen Kya das Überleben, indem sie ihr Lebensmittel, Kleidung und Benzin für ihr geliebtes Boot eintauschen. Und dann ist da noch Tate, ein Freund von Kyas Bruder Jodie. Er besucht sie immer wieder in den Marschen, schenkt ihr die schönsten Federn, die er finden kann und bringt ihr außerdem das Lesen bei. Doch dann entscheidet er sich, aufs College zu gehen und Kya bleibt ein weiteres Mal allein zurück - eine Situation, die Chase Andresw für sich zu nutzen weiß.

Die Kriminalhandlung in "Der Gesang der Flusskrebse" spielt nur eine untergeordnete Rolle. In seinem Kern ist der Roman ein Buch über die Macht der Vorurteile und der Ausgrenzung. Was der Mensch nicht kennt, was er nicht versteht, das fürchtet er und so wird Kya schon lange vor dem Leichenfund in den Augen ihrer Mitmenschen zur Täterin. Was geschieht mit einem Kind, das in solcher Einsamkeit aufwächst? Und was wird aus einem Menschen, dem immer nur grundlos mit Ablehnung begegnet wird? Das sind Fragen, die Delia Owens in ihrer grandiosen Geschichte zu ergründen sucht. Denn Kya Clark ist nicht dumm oder schmutzig, nicht zurückgeblieben oder gefährlich - sie ist einfach nur ein wenig anders als die anderen. Ein Mädchen, das immer nur von allen verlassen wurde. Ob sie darüber hinaus auch noch zu einer Mörderin geworden ist, das muss der Lauf der Geschichte zeigen.

Fazit: "Der Gesang der Flusskrebse" ist definitiv kein einfaches, kein bequemes Buch, aber das muss Literatur ja auch gar nicht sein, oder?

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Veröffentlicht am 27.02.2020

Ein bewegendes Buch

Winterbienen
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1944. Während der zweite Weltkrieg wütet, ist der Imker Egidius Arimond als einer der wenigen Männer in seinem Dorf in der Eifel geblieben. Als Epileptiker gilt er unter den Nationalsozialisten als "unwertes ...

1944. Während der zweite Weltkrieg wütet, ist der Imker Egidius Arimond als einer der wenigen Männer in seinem Dorf in der Eifel geblieben. Als Epileptiker gilt er unter den Nationalsozialisten als "unwertes Leben" - Zwangssterilisierung, Verachtung und die ständige Angst, denunziert und abgeholt zu werden, das sind für ihn die Folgen dieses Denkens. Dass Egidius' Bruder seinerseits als Flieger zu einem gefeierten Helden wird, rettet ihm so manches Mal das Leben. Doch hinter dem schweigsamen Mann, der sich nur bei seinen Bienen richtig wohl zu fühlen scheint, steckt mehr, als gedacht: in seinen Bienenstöcken transportiert er immer wieder Flüchtlinge bis an die Grenze und rettet ihnen damit das Leben.

Es ist keine einfache Geschichte, die Norbert Scheuer hier erzählt. Das liegt womöglich auch daran, dass sie wahr ist. In einem Bienenstock wurden einige der Tagebuchaufzeichnungen des echten Egidius gefunden, der sich übrigens als entfernter Verwandter des Autors herausstellen sollte. Aus diesen Aufzeichnungen ist die Handlung von "Winterbienen" gestrickt und so mischen sich oft ellenlange Abhandlungen über die Bienenzucht mit beinahe lapidaren Berichten über die Grauen des Krieges. Auch Egidius Frauengeschichten sind immer wieder Thema, ist er doch als einer der wenigen Männer im Dorf, noch dazu sterilisiert, ein perfekter Partner für sexuelle Eskapaden. Als er jedoch eine regelrechte Besessenheit für die Frau eines hohen Tieres in der NSDAP entwickelt, beginnt die Handlung zu entgleisen.

In einfacher und dennoch bewegender Sprache schildert der Autor hier das Leben eines Ausgestoßenen in Zeiten des Krieges. Durch die Wahl der Tagebucheinträge als Erzählform ist man als Leser immer ganz nah am Geschehen. Und so erfährt man unmittelbar, was der Krieg aus den Menschen macht: Mitläufer zum Beispiel, wie Egidius' Bruder, der doch eigentlich nur Fliegen will. Oder Charaktere wie den Apotheker, die solch grausame Zeiten nutzen, um sich an anderen zu bereichern und ihre Macht zu demonstrieren. Da macht es Hoffnung, dass zumindest der Protagonist sein Möglichstes tut, um zu helfen, auch wenn er am Ende ebenfalls nicht schuldlos bleibt.

Fazit: Ein bewegendes Buch, dessen Nominierung für den Deutschen Buchpreis gut nachvollziehbar ist

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Veröffentlicht am 27.02.2020

Überschätzt

Miroloi
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Ihr Miroloi, also die persönliche Totenklage, wird die zunächst namenlose Heldin des Romans sich selbst singen müssen. Auf ihrer Heimatinsel ist sie eine Ausgestoßene. Von den Eltern ausgesetzt und vom ...

Ihr Miroloi, also die persönliche Totenklage, wird die zunächst namenlose Heldin des Romans sich selbst singen müssen. Auf ihrer Heimatinsel ist sie eine Ausgestoßene. Von den Eltern ausgesetzt und vom Bethaus-Vater, dem Priester des Dorfes aufgezogen, ist sie nicht Teil der Gemeinschaft, darf keinen Namen tragen, nicht heiraten, sich nicht fortpflanzen. Schon die Dorfkinder quälen sie zum Spaß, die Frauen des Dorfes verachten sie, während die Männer des Dorfes noch Schlimmeres tun. Wie der Dorflehrer, der junge Mädchen nach der Schule zu sich bestellt oder die Ältesten (natürlich auch alle Männer), die mit ihren Gesetzen die Frauen kleinhalten und unterjochen. Doch eines Tages lernt unsere junge Protagonistin den Betschüler Yael kennen und verliebt sich. Er wird ihr endlich einen eigenen Namen (Alina) und Mut für die Zukunft geben. Und auch innerhalb der Gemeinschaft beginnen die Dorffrauen, einige Dinge in Frage zu stellen.

"Miroloi" und sein Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises wurde in den vergangenen Wochen kontrovers diskutiert und ich muss zugeben, dass auch ich mich den Lobeshymnen über dieses Buch nicht anschließen kann. Zu vieles im Roman passt nicht zueinander, wirkt versatzstückhaft zusammengesetzt. Das beginnt schon mit der Verortung der Geschichte. Von Olivenbäumen ist die Rede, von Granatäpfeln, von Eseln als Fortbewegungsmittel - Griechenland also, so schließt der Leser. Zunächst wird das auch durch die Namensgebung unterstützt: Yannis, Mariah, Panagiota - doch dann taucht er auf, Jakup Jakupsohn und man fragt sich: Wie passt der Skandinavier in diese Welt? Nun ja, irgendwann wird die Autorin es schon erklären, so denkt man, doch die bleibt diese Antwort schuldig - und dies ist nur eines von vielen losen Enden, die nicht mehr aufgegriffen werden.

Die Begrifflichkeiten sind ebenso verwirrend, es ist von Domates die Rede anstatt von Tomaten, von Patates und Melitzanes, aber dann wieder von Schafskäse und Honig. So als wollte die Autorin ein wenig Sprachkolorit ausstreuen, bis ihr die griechischen Vokabeln ausgingen. Ähnlich wird im Roman mit Religion verfahren: die Dörfler verehren eine göttliche Dreifaltigkeit, die Welt als Gesamtes ist ursprünglich aus dem Ei geschlüpft. Man feiert die keltische Sommersonnenwende, wendet mit der "satva" Rituale aus dem indischen Kulturraum an und die Toten werden von drei Fährfrauen(!) und mit Münzen auf den Augen in die Unterwelt geleitet. Ach ja, und am Ende müssen sich die Dorffrauen übrigens noch verschleiern. Man sieht also, sehr viele Anleihen an andere Religionen und Kulturen und sehr wenig eigenes von Frau Köhler. Schade, hier hätte ich mir ein eigenes erdachtes System oder den konsequenten Verbleib bei einer Religion/Kultur gewünscht.

Auch sprachlich ist der Roman eine Herausforderung. Der Protagonistin fehlt die elterliche Liebe und Prägung. Lange Zeit darf sie auch nicht lesen oder schreiben, bis der Bethaus-Vater doch den Mut findet, es ihr heimlich beizubringen. Dementsprechend begrenzt und kindlich-naiv ist ihre Sprache; eine Tatsache, die von einigen Kritikern frenetisch gefeiert wird. Jedoch ist diese Sprache nicht nur bisweilen sehr befremdlich, so zum Beispiel, wenn unsere Heldin vor Liebe zu ihrem Betschüler "stinken möchte wie ein Käse", sondern vor allem dann, wenn die gesamte Weltklugheit und Poesie aus ihr hervorzubrechen scheint. Da tauchen auf einmal Metaphern aus Fotografie und Film aus - beides ist übrigens von der Insel verbannt, denn die Ältesten lehnen jegliche Art von Fortschritt ab. Woher hat das Mädchen also seine Vokabeln? Sie entwickelt sich eben weiter, sagen die Fans. Unglaubwürdig und gewollt poetisch, sage ich.

Und noch eine Sache stört mich an dem Roman. Feministisch soll er sein, weil die Heldin sich gegen die patriarchalischen Strukturen auflehnt. Das mag ja im Grunde richtig sein, dennoch stellt sich für mich eine wichtige Frage: Der Wunsch nach einem Namen und damit der Möglichkeit, sich zu anderen in ein Verhältnis zu setzen, das ist der charakterliche Kern der Protagonistin. Und woher erhält sie diesen Namen? Natürlich von einem Mann, mit dem sie Sexualität teilt, denn Liebe kann man das beim besten Willen nicht nennen. Wie kann das also ein feministischer Akt sein, wenn ein Mann nötig ist, um einer Frau Identität zu geben? Natürlich ist es im Verlauf der Handlung schön zu erleben, wie die Frauen des Dorfes sich nach und nach auflehnen, wie sie sich nach Strom und Haushaltsgeräten sehnen, die ihre Zukunft verbessern sollen. Doch leider verläuft so vieles im Sand oder wird beim kleinsten Widerstand aufgegeben. Natürlich ist es schwer, eingefahrene Strukturen zu durchbrechen, aber anstatt der angeblich so feministischen Ausrichtung zeigt "Miroloi" eigentlich nur, dass es nahezu unmöglich ist, etwas zu verändern. Am Ende wird ausgerechnet ein Mann zum "Zünglein an der Waage", was die Handlung betrifft - schade, aus diesem Thema hätte man so viel mehr machen können.

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