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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.12.2024

Überraschungshighlight des Jahres

Die Wortlosen
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Moon ist klein, als ihr Bruder Ulli stirbt und das Schweigen um seinen Tod wird noch durch einen Umzug verstärkt. Als Teenager versucht sie die verlorene Verbindung zu ihm wiederzuerwecken, doch ihre Mutter ...

Moon ist klein, als ihr Bruder Ulli stirbt und das Schweigen um seinen Tod wird noch durch einen Umzug verstärkt. Als Teenager versucht sie die verlorene Verbindung zu ihm wiederzuerwecken, doch ihre Mutter ertränkt ihren Kummer und ihr Vater geht lieber arbeiten, was wohl auch besser so ist. Dann kommt es zu komischen Aussetzern, welche die lang verdrängten Bilder heraufbeschwören und Moon muss sich der Vergangenheit stellen. Nur Freundin und Nachbarin Tessa steht ihr bei, was wirklich nicht immer leicht ist.
„Die Wortlosen“ von Marion Haass-Pennings ist mein Überraschungshighlight diesen Jahres und keine leichte Kost. Schon ab dem Prolog merkt man, dass das etwas ganz schön im Argen liegt. Schnell hatte ich das Gefühl, dass da etwas in der Familie passiert ist und Ullis Tod kein Badeunfall war. Moon ist die einzige Erzählerin und keinesfalls zuverlässig, was umso authentischer ist, da sie stark traumatisiert zu sein scheint - sie weiß es einfach nicht besser, kann Erinnerungen nicht richtig abrufen und verliert später sogar Zeit. Doch irgendwann wird ihr klar, dass etwas schrecklich passiert sein muss und das es totgeschwiegen wird.
Marion Haass-Pennings versteht es, Lücken zu lassen und einem beim Lesen genau den richtigen Raum zu geben. Sie deutet an, zeigt, aber erklärt nichts. Sie beherrscht „Show don’t tell“ und zieht einen so in eine Geschichte, die verwirrend und schmerzhaft ist und mich noch länger nicht loslassen wird. Auch sprachlich hat es mich tief beeindruckt. Ich freue mich sehr, dieses Debüt entdeckt zu haben und auf zahlreiche weitere Romane aus Marion Haass-Pennings Feder.

Veröffentlicht am 12.12.2024

Ursprung des Vampirromans

Carmilla
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Laura lebt mit ihrem Vater auf einem entlegenen Schloss, da ist jede Abwechslung willkommen. Doch aus dem angekündigten Besuch einer Bekannten wird leider nichts. Was für ein Glück, dass gerade vor ihrem ...

Laura lebt mit ihrem Vater auf einem entlegenen Schloss, da ist jede Abwechslung willkommen. Doch aus dem angekündigten Besuch einer Bekannten wird leider nichts. Was für ein Glück, dass gerade vor ihrem Tor eine Kutsche heranrast und umkippt. Eine junge Frau, Carmilla, wird in der Obhut von Lauras Vater gelassen. Sie nehmen diese wunderschöne Fremde auf, nicht nur, um der Mutter einen Gefallen zu tun, sondern auch damit Laura Gesellschaft hat. Nur kurze Zeit später beginnen, junge Frauen in der Umgebung dahinzusiechen und auch Laura wird von ungewöhnlichen Begegnungen heimgesucht.
„Carmilla“ von Joseph Thomas Sheridan le Fanu ist einer der erste Vampirroman und noch 26 Jahre vor Bram Stokers Dracula erschienen. Im Mittelpunkt steht ein weiblicher Vampir, doch an der Geschichte an sich hat sich nicht viel geändert. Da hat sich wohl jemand stark inspirieren lassen. Leider muss ich gestehen, dass der Roman nicht gut gealtert ist. Sprachlich ist es sehr anstrengend. Lange Schachtelsätze, hochgestochene Sprache. Ja ich weiß, früher war es so, aber ich muss es nicht gut finden und ich habe mich oft dabei erwischt, wie ich abgedriftet bin. Außerdem empfinde ich das Thema Vampir als auserzählt. Ist die Zeit der Vampire nicht schon längst vorbei?
Drangeblieben bin ich, weil es nur 144 Seiten sind, eher eine Erzählung als ein Roman und natürlich alles sehr vorhersehbar. Die ausdrücklich erwähnte sexuelle Spannung hab ich dabei irgendwie überlesen. Trotzdem fand ich es interessant und ich kann mir vorstellen, dass es damals (Mitte des 19. Jahrhunderts) ungewöhnlich war, dass nicht nur eine Frau die Erzählerin und das Opfer war, sondern auch die Übeltäterin. Wahrscheinlich beantwortet das auch meine Frage, warum Dracula so viel größer geworden ist. Ein Mann als grausamer Täter, Mina als Opfer und Jonathan als Erzähler, sind halt auch zwei Männer der Tat und ein weibliches Opfer. Kann man lesen, muss man aber nicht.

Veröffentlicht am 28.11.2024

Ein ganz besonderer letzter Wille

Lorettas letzter Trip
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Caro hat ein geordnetes Leben, es läuft bei ihr. Sie hat einen guten Job, der ihr Spaß macht, einen Partner, den sie liebt und sie achtet auf ihre Körper: gesunde Ernährung, Yoga, keine Exzesse. Doch dann ...

Caro hat ein geordnetes Leben, es läuft bei ihr. Sie hat einen guten Job, der ihr Spaß macht, einen Partner, den sie liebt und sie achtet auf ihre Körper: gesunde Ernährung, Yoga, keine Exzesse. Doch dann klingelt die Polizei an ihrer Tür und teilt ihr mit, dass ihre Ehefrau Loretta gestorben ist. Sie würde dem am liebsten keine Bedeutung zu messen, aber die Vergangenheit lässt sich nicht so leicht abschütteln.
„Lorettas letzter Trip“ von Edie Calie ist ein wunderbarer Roman. Er ist witzig und absurd, aber auch ernsthaft und kritisch. Caro begibt sich eher ungewollt gleich auf mehrere Trips, die immer amüsant sind und absolut den Zeitgeist treffen. Er verbindet Welten, die nicht zusammenpassen und öffnet Grenzen, so wie Caro sich öffnet.
Der Roman lebt von den Figuren, allen voran Caro selbst, die mir anfangs etwas unsympathisch war, die aber Seite um Seite mein Herz erobert hat, vor allem in den Tagebuchkapiteln. Aber auch Anna und August, Lorettas Mitbewohner*innen, die mit dabei sind, um ihren letzten Willen zu erfüllen und der eigentlich ein Schmäh war, geben noch mal ordentlich Würze hinein. Edie Calie hat für mich die perfekte Mischung gefunden. Zum einen in den Wechseln aus personaler Erzählung im Heute und den Zeitsprüngen in den Tagebuchkapiteln, die uns in Lorettas und Caros Freundschaft und dessen Bruch mitnehmen. Zum anderen hat sie das Wienerische perfekt dosiert, sodass ich die Atmosphäre aufsaugen konnte, ohne über Worte und Formulierungen zu stolpern. Auch sprachlich liefert sie ab, baut gelungene Metaphern ein und hält die Spannung oben, sodass man das Buch gar nicht zur weglegen möchte. Wirklich ein ganz besondere Trip. Und wer wissen möchte, welche Rolle die Beatles bei all dem spielen, muss es wohl lesen.

Veröffentlicht am 14.11.2024

Eindrückliche Umkehr

White Lives Matter
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Anna lebt als Weiße in einer Schwarzen Welt. Den allgegenwärtigen Rassismus und die Marginalisierung will sie nicht wahrhaben. Sie will kein Opfer sein. Bis ein schreckliches Ereignis sie erkennen lässt, ...

Anna lebt als Weiße in einer Schwarzen Welt. Den allgegenwärtigen Rassismus und die Marginalisierung will sie nicht wahrhaben. Sie will kein Opfer sein. Bis ein schreckliches Ereignis sie erkennen lässt, dass sie es nicht in der Hand hat. Sie kann nicht verhindern, dass sie diskriminiert und abgewertet wird, denn das Narrativ der dummen, faulen, ausländischen Weißen ist zu tief in den Köpfen der Schwarzen Bevölkerung verankert, doch sie kann nicht mehr hinnehmen, dass es so bleibt.
Ich habe mich sehr auf „White Lives Matter“ von Jasmina Kuhnke gefreut. Zum einen, weil ich ihr Debüt „Schwarzes Herz“ unfassbar gut fand und zum anderen, weil ich den Ansatz des Buches spannend, aber vor allem wichtig finde. Ich hatte eine hohe Erwartungshaltung und leider wurde diese enttäuscht. Nicht vom Plot, nicht von der Idee, sondern von der Umsetzung. Die Perspektive ist nicht immer eindeutig, rückt manchmal weg von Protagonistin Anna, was mich verwirrte. Und es wird unheimlich viel berichtet, im Sinne von „Tell“. Dem Ratschlag „Show, don’t tell“ wurde hier leider zu selten gefolgt und auch die messerscharfen Metaphern haben mir gefehlt. Das alles hatte Jasmina Kuhnkes Debüt, mit dem sie bereits bewiesen hat, dass sie eine tolle Autorin ist. Hier hat sie das Werkzeug anscheinend hinten angestellt.
Nichtsdestotrotz ist „White Lives Matter“ wichtig. Dieses Thema ist eines der wichtigsten in unserer Gesellschaft und den Spieß umzudrehen, sollte uns (Weißen, privilegierten) vor Augen führen, dass nur eine Stellstraube in der Geschichte anders hätte sein müssen und wir die Marginalisierten, die Ausgebeuteten hätten sein können, denen alles, aber auch wirklich alles, abgesprochen wird.
Mich hätte das Buch mit Sicherheit auch ohne die Umkehr von Schwarz und Weiß berührt, denn mich fassen Grausamkeiten gegenüber Menschen, egal welcher Hautfarbe und Herkunft an, aber so geht leider noch nicht genug Menschen und daher ist dieser Roman wichtig, auch wenn er mich stilistisch nicht überzeugen konnte.

Veröffentlicht am 07.11.2024

Jahreshighlight

Das Comeback
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Grace ist untergetaucht. Ein Jahr war der Stern Hollywoods vom Firmament verschwunden und hat sich bei ihren Eltern verkrochen. Doch dort kann sie nicht bleiben und so kehrt sie zurück, muss sich ihrer ...

Grace ist untergetaucht. Ein Jahr war der Stern Hollywoods vom Firmament verschwunden und hat sich bei ihren Eltern verkrochen. Doch dort kann sie nicht bleiben und so kehrt sie zurück, muss sich ihrer Vergangenheit stellen und sich mit ihren Teenagerjahren auseinandersetzen, die sie unter den Fittichen ihres Gönners Able verbracht hat. Er hat sie groß gemacht und er erinnerte sie immer daran, dass sie ohne ihn nichts wäre. Grace muss sich endlich eingestehen, dass sie zum Opfer gemacht wurde, was sie nur schwer ertragen kann und sie beschließt sich gegen den mächtigsten Mann Hollywoods zur Wehr zu setzen.
„Das Comeback“ von Ella Berman gehört zu meinen Highlights des Jahres. Nicht nur finde ich die Themen rund um Me-Too, Grooming und Machtmissbrauch unglaublich wichtig, hier werden sie auch noch unfassbar gut verpackt. Grace ist ein gefallener Star, mit gerade mal Anfang zwanzig, weil sie viel zu früh in dieses Haifischbecken geworfen wurde und an einen Mann geriet, der ihre Unsicherheit ausnutzte. Das haben wir alle schon oft mitbekommen und Ella Berman zieht uns ganz nah heran, sodass wir Graces Ohnmacht, ihren Schmerz und ihre Verzweiflung mitempfinden, aber wir dürfen auch dabei sein, als sie zurückschlägt.
Anfangs hat es zwar ein paar Längen, allerdings macht Ella Berman diese mit ihrem tollen Stil wett und man erträgt Graces Suhlerei in Selbstmitleid und Lethargie durch die eindrücklichen Rückblenden und nicht zuletzt, weil man bereits ahnt, dass sie es da raus schafft. Und nicht nur sie empowert sich, sondern auch ihre Schwester, die ihre eigenen Probleme mitbringt und mit der es nach Jahren des Schweigens zu einer Annäherung kommt. Die Emotionen, die transportiert werden sind einnehmend und klingen lange nach.
Der Roman erzählt keine neue Geschichte, wir haben schon oft von Missbrauch in der Filmbranche gehört und gelesen, trotzdem möchte ich „Das Comeback“ allen ans Herz legen, die die Augen davor nicht länger verschließen wollen.