Cover-Bild 1000 Serpentinen Angst
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9,99
inkl. MwSt
  • Verlag: FISCHER E-Books
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Ersterscheinung: 04.03.2020
  • ISBN: 9783104909516
Olivia Wenzel

1000 Serpentinen Angst

Roman
Longlist - nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020
»Ich habe mehr Privilegien, als es je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Großmutter es sich vorstellen kann. Am Tag der Bundestagswahl versuche ich ihr mit dieser Behauptung 20 Minuten lang auszureden, eine rechte Partei zu wählen.«
Eine junge Frau besucht ein Theaterstück über die Wende und ist die einzige schwarze Zuschauerin im Publikum. Mit ihrem Freund sitzt sie an einem Badesee in Brandenburg und sieht vier Neonazis kommen. In New York erlebt sie den Wahlsieg Trumps in einem fremden Hotelzimmer. Wütend und leidenschaftlich schaut sie auf unsere sich rasant verändernde Zeit und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Familie: von ihrer Mutter, die Punkerin in der DDR war und nie die Freiheit hatte, von der sie geträumt hat. Von ihrer Großmutter, deren linientreues Leben ihr Wohlstand und Sicherheit brachte. Und von ihrem Zwillingsbruder, der mit siebzehn ums Leben kam. Herzergreifend, vielstimmig und mit Humor schreibt Olivia Wenzel über Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit und über die Rollen, die von der Gesellschaft einem zugewiesen werden.

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.09.2020

Höchst originell und unbedingt lesenswert!

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Die namenlose und schwangere Protagonistin und Ich-Erzählerin ist in den 80-ern in der ehemaligen DDR geboren.

Trotz oder gerade wegen ihrer Angsterkrankung ist sie eine Kämpferin.
Sie, die familiären ...

Die namenlose und schwangere Protagonistin und Ich-Erzählerin ist in den 80-ern in der ehemaligen DDR geboren.

Trotz oder gerade wegen ihrer Angsterkrankung ist sie eine Kämpferin.
Sie, die familiären Rückhalt vermisst und es in ihrer DDR - Kindheit nicht leicht hatte, kämpft um sich selbst.

Sie hatte einen Zwillingsbruder, den sie schmerzlich vermisst, denn... er nahm sich mit 17 Jahren das Leben.

Ihr Vater ist schwarz und stammt aus Angola. Kurz nach der Geburt der Kinder ging er in sein Herkunftsland zurück und baute sich da ein neues Leben auf.

Ihre Mutter, systemrebellische Altpunkerin, war somit alleinerziehend, ist weiß und stammt aus der ehemaligen DDR.

Ihre latent rassistische Großmutter mütterlicherseits konnte durch ihre systemkonforme Gesinnung in Wohlstand und Sicherheit leben.

Die Mutter der Erzählerin wollte schon als Jugendliche die DDR-Diktatur hinter sich lassen und sich aus den Fängen der Stasi befreien. Sie sehnte sich nach Freiheit und mit ihrer Schwangerschaft mit 19 Jahren platzte dieser Traum wie eine Seifenblase.

Selbst jetzt, nach 30 Jahren kann sie mit ihrer Tochter nicht gelassen und unbefangen über die Vergangenheit sprechen.
Darüber, warum sie einst verhaftet und eingesperrt wurde, warum sie nach der Maueröffnung so oft allein vereiste und die Kinder in der Obhut der Großeltern oder von Freunden betreuen ließ, warum sie schließlich den Kontakt zu Mutter und Tochter abbrach und verschwand.

Olivia Wenzel hat ein intensives, geistreiches und berührendes, gleichermaßen witziges wie ernsthaftes und wuchtiges, schonungsloses wie zartes Buch über Heimat, Herkunft und Verlust, Rassismus und Sexismus, Ost und West sowie Angst und Zuversicht geschrieben.

Aber das sind bei weitem nicht alle Themen, die eine Rolle spielen.
Es geht auch um psychische Störungen, sexuelle Gewalt, Homosexualität, innere Zerrissenheit und Selbstfindung.

Trotz dieser Vielfalt wirkt die Geschichte nicht überladen. Alles wird gut dosiert und gekonnt eingeflochten.

Olivia Wenzel regt mit ihrem 352-seitigen Werk zum Nachdenken an, gibt Denkanstöße und bietet eine Steilvorlage zum Perspektivenwechsel.

Es ist, meines Erachtens, kein Roman im typischen oder eigentlichen Sinn.
Man wird zu Beginn etwas ins kalte Wasser geschmissen, aber wenn man sich auf den unkonventionellen Erzählstil einlässt, dann wird man mit einer anspruchsvollen und gleichzeitig lesenswerten und mitreißenden Lektüre belohnt.

Die Geschichte ist in drei Teile gegliedert und wirkt manchmal, aufgrund seiner nicht chronologischen Erzählweise, recht sprunghaft.
Die z. T. rein aus Dialogen bestehenden Kapitel wirken zunächst ungewöhnlich oder sogar befremdlich. Man hat dann den Eindruck, einem, zugegebenermaßen, höchst interessanten Frage - Antwort - Spiel beizuwohnen, in dem die Rollen wechseln.
Originell!

Ich möchte diesen Roman sehr gerne weiter empfehlen.
Für mich gehört er sicherlich zu meinen Jahreshighlights.







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Veröffentlicht am 11.09.2020

Ein Debüt mit Mehrwert

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„1000 Serpentinen Angst“ steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Hier berichtet die Ich-Erzählerin, deren Namen der Leser nie erfährt, von ihrem Leben. Von ihren Angstzuständen und den Schwierigkeiten ...

„1000 Serpentinen Angst“ steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Hier berichtet die Ich-Erzählerin, deren Namen der Leser nie erfährt, von ihrem Leben. Von ihren Angstzuständen und den Schwierigkeiten bei der Suche nach einem geeigneten Therapeuten. Ihre Hautfarbe macht sie zu einem Individuum. Sie wächst in einem kleinen Ort in der DDR auf und hat schon früh unter Neonazis zu leiden. Ihre Mutter war 19 als sie die Zwillinge entband. Der Zwillingsbruder starb schon mit 17 und der Vater ging zurück nach Angola, bevor die beiden Kinder geboren wurden. Eigentlich wollte die Mutter mit ausreisen, die Mächtigen der DDR verweigerten ihr das aber trotz Ausreisegenehmigung.

Es war für mich nicht leicht, den vielen verschiedenen Handlungssträngen zu folgen. Jedoch wurde ich durch die schöne Sprache entschädigt. Zitat: „Was sagt es über ein Land, wenn es mehrheitlich ekelhafte Lappen wie Mario Barth gut findet?“ Die Autorin schreibt über Kindheit und Jugend und der Zugehörigkeit zur FDJ und SED. Das mit der SED war die Großmutter. Die Mutter war Punk und das kam in der Dorfgemeinschaft nicht gut an. Später dann versucht die Tochter sich zu befreien. Von dem „Manko“ eine „Schwarze“ zu sein und immer und überall aufzufallen. Stets fallen dumme Bemerkungen darüber. Sie besucht New York und Hanoi und lebt zeitweilig in Berlin oder in Thüringen. Eine bunte Mischung aus Interview und Biographie verfasste die Autorin mit dem Buch. Es war anstrengend zu lesen aber auch mitreißend geschrieben. Daher gebe ich vier Sterne und empfehle es vornehmlich jungen Lesern. Vielleicht bin ich zu alt für diesen Schreibstil.

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Veröffentlicht am 04.09.2020

Ein wuchtiges Buch!

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Ein wirklich tolles Buch, das mich in gleich mehrfacher Hinsicht überrascht hat. Zum einen, weil es formell so ganz anders war, als erwartet: Statt einer ruhigen, eher straighten Narrative springt die ...

Ein wirklich tolles Buch, das mich in gleich mehrfacher Hinsicht überrascht hat. Zum einen, weil es formell so ganz anders war, als erwartet: Statt einer ruhigen, eher straighten Narrative springt die Erzählung sowohl zeitlich als auch räumlich hin und her, vom Inneren eines Snackautomaten nach New York, vom Hier und Jetzt in die nahe und ferne Vergangenheit. Hinzu kommt, dass große Teile als eine Art Dialog angelegt sind, wobei die fragende Sprechstimme, auf die die Erzählerin auch nur bedingt Antworten gibt, nicht nur lange unklar bleibt, nein, sie nutzt auch durchgängig CAPS LOCK, was in meinem Internet-durchsetztem Hirn in Geschreie übersetzt wird ("WO BIST DU JETZT?"). Das mag sich jetzt alles ziemlich chaotisch und strukturlos anhören, aber Olivia Wenzel hat den Dreh raus: Sie schafft es, alle diese Versatzstückchen (plus die enorme Themenvielfalt, die ich noch gar nicht angesprochen habe) in ein sehr gut lesbares, unterhaltsames und vor allem kluges Buch zu verwandeln: It's a kind of literary magic ;)

Falls ihr also auch zu den Leser*innen gehört, die gerne wissen woran sie sind (Stichwort: wer spricht denn da nun?), kann ich euch nur raten: Nehmt es einfach so hin und lasst euch darauf ein, ohne weiter nachzudenken. So hat es bei mir auch geklappt, und ich muss sonst eigentlich auch immer ganz genau vorher wissen, was da nun Sache ist.

Auch inhaltlich hat dieses Buch eine Menge zu bieten. Die Protagonstin ist Tochter einer DDR-Rebellin (die wiederum Tochter einer strammen SED-Funktionärin ist) und eines Austauschstudenten aus Angola. Die Themen Rassismus, DDR, Systemtreue bzw- rebellion, PoC in der DDR usw. machen sich hier also schon von ganz alleine auf. Hinzu kommt, neben dem Offensichtlichen, weiteres Familiendrama, das schließlich im Verlust ihres Zwillingsbruders gipfelt. Auch queere Themen sind dabei: Die Protagonstin ist bisexuell - für sie quasi die Mitgliedschaft in einer weiteren marginalisierten Randgruppe.

Doch die Protagonstin reflektiert nicht nur Vergangenes, sondern auch neue Erfahrungen: Zum Beispiel, wie sie "schwarz sein" in den USA ganz neu erfährt - als Teil einer black community (die, und das ist die nächste Schleife der Reflexion, als gemeinsamen Nenner vor allem den gemeinsam erfahrenen Schwerz, das Leid, die Ausgrenzung hat...).

Ja, der Olivia Wenzel hat sich den Teller hier ordentlich voll gepackt - doch sie behält den Überblick. Auch hier erinnert mich das Buch an Brüder, einen Kandidaten der letztjährigen Longlist: Es sind fast alle relevanten Themen dabei, und keines kommt zu kurz - doch alles geschieht natürlich, fast beiläufig, hier wird kein mühsames Themenbingo gespielt, sondern die Lebensumstände einer jungen Frau geschildert, die nicht nur in eine, sondern ziemlich viele Schubladen gesteckt wird.

Ein wuchtiges Buch, das ich sehr gerne gelesen habe.