Höchst originell und unbedingt lesenswert!
Die namenlose und schwangere Protagonistin und Ich-Erzählerin ist in den 80-ern in der ehemaligen DDR geboren.
Trotz oder gerade wegen ihrer Angsterkrankung ist sie eine Kämpferin.
Sie, die familiären ...
Die namenlose und schwangere Protagonistin und Ich-Erzählerin ist in den 80-ern in der ehemaligen DDR geboren.
Trotz oder gerade wegen ihrer Angsterkrankung ist sie eine Kämpferin.
Sie, die familiären Rückhalt vermisst und es in ihrer DDR - Kindheit nicht leicht hatte, kämpft um sich selbst.
Sie hatte einen Zwillingsbruder, den sie schmerzlich vermisst, denn... er nahm sich mit 17 Jahren das Leben.
Ihr Vater ist schwarz und stammt aus Angola. Kurz nach der Geburt der Kinder ging er in sein Herkunftsland zurück und baute sich da ein neues Leben auf.
Ihre Mutter, systemrebellische Altpunkerin, war somit alleinerziehend, ist weiß und stammt aus der ehemaligen DDR.
Ihre latent rassistische Großmutter mütterlicherseits konnte durch ihre systemkonforme Gesinnung in Wohlstand und Sicherheit leben.
Die Mutter der Erzählerin wollte schon als Jugendliche die DDR-Diktatur hinter sich lassen und sich aus den Fängen der Stasi befreien. Sie sehnte sich nach Freiheit und mit ihrer Schwangerschaft mit 19 Jahren platzte dieser Traum wie eine Seifenblase.
Selbst jetzt, nach 30 Jahren kann sie mit ihrer Tochter nicht gelassen und unbefangen über die Vergangenheit sprechen.
Darüber, warum sie einst verhaftet und eingesperrt wurde, warum sie nach der Maueröffnung so oft allein vereiste und die Kinder in der Obhut der Großeltern oder von Freunden betreuen ließ, warum sie schließlich den Kontakt zu Mutter und Tochter abbrach und verschwand.
Olivia Wenzel hat ein intensives, geistreiches und berührendes, gleichermaßen witziges wie ernsthaftes und wuchtiges, schonungsloses wie zartes Buch über Heimat, Herkunft und Verlust, Rassismus und Sexismus, Ost und West sowie Angst und Zuversicht geschrieben.
Aber das sind bei weitem nicht alle Themen, die eine Rolle spielen.
Es geht auch um psychische Störungen, sexuelle Gewalt, Homosexualität, innere Zerrissenheit und Selbstfindung.
Trotz dieser Vielfalt wirkt die Geschichte nicht überladen. Alles wird gut dosiert und gekonnt eingeflochten.
Olivia Wenzel regt mit ihrem 352-seitigen Werk zum Nachdenken an, gibt Denkanstöße und bietet eine Steilvorlage zum Perspektivenwechsel.
Es ist, meines Erachtens, kein Roman im typischen oder eigentlichen Sinn.
Man wird zu Beginn etwas ins kalte Wasser geschmissen, aber wenn man sich auf den unkonventionellen Erzählstil einlässt, dann wird man mit einer anspruchsvollen und gleichzeitig lesenswerten und mitreißenden Lektüre belohnt.
Die Geschichte ist in drei Teile gegliedert und wirkt manchmal, aufgrund seiner nicht chronologischen Erzählweise, recht sprunghaft.
Die z. T. rein aus Dialogen bestehenden Kapitel wirken zunächst ungewöhnlich oder sogar befremdlich. Man hat dann den Eindruck, einem, zugegebenermaßen, höchst interessanten Frage - Antwort - Spiel beizuwohnen, in dem die Rollen wechseln.
Originell!
Ich möchte diesen Roman sehr gerne weiter empfehlen.
Für mich gehört er sicherlich zu meinen Jahreshighlights.