Profilbild von Sago

Sago

Lesejury Star
offline

Sago ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Sago über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.05.2020

Seelenlose High Society

Schöne Seelen
0

Bei diesem speziellen Roman war ich hinsichtlich der Gesamtbewertung immer wieder schwankend. Streckenweise hat er mich so amüsiert, dass ich sicher war, das werden fünf Sterne! Gerade zum Ende hin wurde ...

Bei diesem speziellen Roman war ich hinsichtlich der Gesamtbewertung immer wieder schwankend. Streckenweise hat er mich so amüsiert, dass ich sicher war, das werden fünf Sterne! Gerade zum Ende hin wurde er aber dann doch etwas ennuierend, und ich hatte den Eindruck, dass die ohnehin überschaubare Handlung plötzlich planlos versickert. Sprachlich ist das Buch wirklich herausragend. Wer wie ich in seiner Jugend Marcel Prousts zehnbändiges Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gelesen hat, genießt es einfach, wenn ein Autor verschachtelte Sätze über die Seite mäandern lassen kann, ohne je den Überblick zu verlieren. Zudem richtet Philipp Tingler einen äußerst scharfsichtigen, beinahe sezierenden Blick auf die Schönen und Reichen, immer auf der Suche nach einer brillianten Pointe. Stets scheint durch, dass der Autor Kolumnist ist, und ich vermute, dass mir seinen Kolumnen sicher auch viel Vergnügen bereiten würden. Es tut mir aber leid, es sagen zu müssen: Die Grundidee kann einfach nicht ein ganzes Buch tragen.
Tatsächlich kann man die gesamte Handlung in nur wenigen Sätzen zusammenfassen: Die reiche Milvina van Runkle stirbt an der letzten ihrer zahlreichen Schönheits-OPs. Ihre Adovtivtochter Mildred weiß nicht, dass sie adoptiert ist. In Mildreds Ehe mit Viktor kriselt es so mächtig, dass sie Viktor zu einer Therapie drängt. Dieser probt jedoch heimlich für ein Theaterstück und hat dazu seiner Meinung nach keine Zeit. Daher entsendet er seiner Freund, den Schriftsteller Oskar Canow, zu einer Art Stellvertreter-Therapie. Oskar schildert dort die Probleme Viktors und Mildreds, als wären es die seiner eigenen Ehe mit Lauren. Oskar verstrickt sich immer mehr in die Therapie, während sein Wunsch nach schriftstellerischer Inspiration sich nicht erfüllt. Schließlich fliegt der Schwindel auf und Mildred erfährt sogar von der Adoption. Die Handlung nimmt dann noch einen eher unmotiviert wirkenden Schlenker in die USA.
Große Freude haben mir Beschreibungen wie diese bereitet: "Die knochige Gestalt wurde von einer unerhörten Strickjacke mit Zopfmuster umschlottert, deren unheilvolles Grau möglicherweise nur davon herrührte, dass sie zu oft gewaschen worden war." Die Beobachtungsgabe Tinglers ist einfach wunderbar, einen derartigen Gesprächspartner würde ich mir im Alltag einmal wünschen. Leider färbt die innere Leere seiner Protagonisten aber etwas ab und bewirkt eine gewisse Handlungsarmut.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.05.2020

Lieblingswort "Atem"

Vor hundert Jahren und einem Sommer
0

Darf man einen Roman nicht mögen, der bereits vor seiner Drucklegung mehrfach prämiert wurde? In meinem Fall ist es leider so. Ich hätte ihn nicht einmal zu Ende gelesen, hätte ich mich nicht aus Anstand ...

Darf man einen Roman nicht mögen, der bereits vor seiner Drucklegung mehrfach prämiert wurde? In meinem Fall ist es leider so. Ich hätte ihn nicht einmal zu Ende gelesen, hätte ich mich nicht aus Anstand gegenüber Vorablesen dazu verpflichtet gefühlt.
Der Autor weiß hervorragend zu formulieren. Hätte er nur eine Geschichte geschaffen, die den Leser interessiert, mit Figuren, die plastisch sind und einen nicht kalt lassen. Im Grunde wirkt das Ganze beinahe wie eine Dokumentation, vor allem, weil es fast gar keine direkte Rede gibt. Taucht sie doch einmal auf, erscheint sie in kursiver Schrift ohne Anführungszeichen, als wäre schon das allein irgendwie künstlerisch.
Zunächst dachte ich, wenigstens gibt es hier schöne Metaphern, als der Autor vom „Atem des Meeres“ sprach. Leider atmet hier aber einfach alles: der Holzfußboden, der Regen rinnt in Atemzügen hinab usw. Das wirkt schon nach kurzer Zeit redundant und einfach nur nervig, fast wie eine Art Tick. Selbst der Atem des Meeres taucht später wieder auf. Auf mich wirkte dieses Selbstzitat unfreiwillig komisch.
Hauptprotagonistin ist Annemie, unehelich geboren, von ihrer Mutter in Pflegschaft gegeben. Dennoch wird sie von ihren Zieheltern innig geliebt und gut behandelt. Sie wächst zusammen mit dem Pflegekind Jonathan auf. Als sie das Haus ihrer Pflegeeltern verlässt, landet sie zunächst im Armenhaus und dann bei einem Experimenteur, der ihr betrunken gemeinsam mit einem weiteren Mann eines Nachts Gewalt antut. Dennoch zieht sie erst weiter, als der Experimenteur sie hinauswirft. Eine weitere Leidenszeit beginnt, denn Annemie ist schwanger. Das ungewollte Kind stirbt jedoch nach einer Weile. Später begegnet sie Jonathan wieder. Die beiden werden ein Paar. Seltsamerweise gibt es einen reichen Fabrikanten, der Unsummen zahlt, wenn er Kirschen schon im März bekommt. Unter einigen Widrigkeiten bauen Annemie und Jonathan, inzwischen Eltern, zu diesem Zweck ein Gewächshaus und kommen so zu Geld. Das wirkte auf mich etwas an den Haaren herbeigezogen.
Dann bricht ein Krieg aus und Jonathan wird eingezogen. Für mich völlig überraschend, wird Annemie zur Mörderin, als sie dem Experimenteur wiederbegegnet. Sie bringt ihn nicht nur aus Rache um, sondern foltert ihn auch noch vorher. Zu so etwas fähig zu sein, dazu gehört schon einiges. Nichts deutet für mich vorher in Annemies Charakter darauf hin, und mir wurde angesichts dessen klar, wie vollkommen blass und nichtssagend sie bis dahin geblieben war. Dasselbe muss man über Jonathan sagen. Als er als Kriegsflüchtling einen armen Hund umbringt, der sich ihm vorher eng angeschlossen hat, war ich einfach nur angewidert. Jonathan fürchtet, der Hund habe seine Verfolger auf seine Spur gebracht. Dann bringt es aber auch nichts mehr, ihn nun umzubringen. Von da an habe ich Jonathan alles Schlechte gewünscht und mich gefreut, als er zunächst wieder eingefangen wurde. Leider überlebt er dann als einziger doch noch. Meinte der Autor das, als er in der Widmung sagte, er solle ein Märchen schreiben? Bis auf das unrealistische Ende sucht man Märchenmotive leider vergebens. Immerhin war es das einzige Mal, das mich die Figur nicht kaltgelassen hat. Dass der Autor Abscheu gegen Jonathan erregen wollte, glaube ich aber eigentlich nicht.
Noch etwas störte das Lesen erheblich: Der Text hat links einen breiten Rand, rechts fast keinen. Das Taschenbuch ist sehr eng gebunden, es geöffnet zu halten, führte schnell zu verkrampften Händen. Ich habe mit Erstaunen gesehen, dass das Buch eigentlich gerade als gebundene Ausgabe zu einem sehr stolzen Preis herausgebracht wurde. Anscheinend ist das mir übersandte Leseexemplar als Taschenbuch eine Sonderanfertigung.
Ich schreibe sehr ungern negative Rezensionen. Auch lese ich nicht nur Unterhaltungsliteratur, sondern oft mit großem Vergnügen Anspruchsvolles und Klassiker. Dieses Buch hat mich leider in keiner Weise erreicht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.05.2020

Anrührend

Ein Koffer voller Hoffnung
0

Romane, die auf zwei Zeitebenen spielen, in der Gegenwart und irgendwann in der Vergangenheit, sind ja seit längerer Zeit absolut im Trend. Während in der Folge dann meist beide Geschichten relativ ...

Romane, die auf zwei Zeitebenen spielen, in der Gegenwart und irgendwann in der Vergangenheit, sind ja seit längerer Zeit absolut im Trend. Während in der Folge dann meist beide Geschichten relativ oberflächlich bleiben, war dies das erste Buch nach diesem Strickmuster, das mich ganz von sich überzeugen konnte.
Ella Sand ist gebürtige Norwegerin, schreibt aber in New York für Magazine. Ein Tragödie ruft sie zurück nach Bergen in die Heimat: Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ella empfand ihr Elternhaus als lieblos und hatte nur noch wenig Kontakt zu ihnen. Nun gilt es sich um die Beerdigung, die Firma und den Verkauf des Hauses zu kümmern. Doch wer ist die ältere Untermieterin ihrer Eltern, die sich so entschlossen in Ellas Leben drängt und ihr ihre eigene Lebensgeschichte regelrecht aufzwingt? Immer mehr wird Ella in den Sog der Erzählung der Mieterin namens Rakel Teller gezogen und mit ihr der Leser. Rakel wurde als deutschstämmige Jüdin und Ungarn geboren. Um Rakel und ihren Bruder zu retten, verschicken ihre Eltern die Kinder aus Furcht vor den Nazis mit der Nansen-Hilfe nach Norwegen. Nach und nach entfaltet sich ein ganzes Panorama aus Entwurzelung, Tragödien, aber auch auf Seiten Rakels von unbändigem Lebenswillen. Auch aus Norwegen müssen die jüdischstämmigen Kinder weiter fliehen. Rakels Bruder erlebt dies nicht mehr, er fällt einer Lungenkrankheit zum Opfer. Spät begreift Rakel, dass auch ihre Eltern nicht mehr am Leben sind.
Nach dem Krieg kehrt Rakel zurück nach Norwegen und bringt ein uneheliches Kind zur Welt, das sie in ihrer Verzweiflung weggibt. Aus ihrer Ehe mit dem norwegischen Arbeiter Ellef bekommt sie zwei Kinder, Marie und Erik. Doch Rakel bleibt eine Heimatlose und kann sich mit dem Schicksal als Hausfrau nicht abfinden. In ihrer Ehe kriselt es. Aus Angst, Ellef könne ihr bei ihrer Trennung die Kinder nehmen, flieht sie nach New York, um bei ihrer Freundin Hannah aus Kindertagen zu wohnen. Doch Hannah bleibt unauffindbar und Rakel muss sich allein durchschlagen, immer in der Furcht, Ellef könnte sie aufspüren. Dennoch gelingt es ihr, endlich zu studieren, ihren Traum von einer Anstellung als Lehrerin zu erfüllen und eine zweite Liebe zu finden. Doch noch immer gärt ihre Vergangenheit in ihr. Als sie ein Koffer mit seltener jüdischer Literatur und einem Brief eines Mitmieters aus Ungarn erreicht, dem sie als Kind sehr verbunden war, beschließt sie nach Bergen zurückzukehren. Und dort schließt sich der Kreis, denn Ellas Mutter ist das uneheliche Kind, das Rakel einst als junge Frau zur Adoption freigab.
Von Entwurzelung und von der Fähigkeit, niemals aufzugeben, weiterzumachen und neue Wurzeln zu bilden, erzählt dieses Buch auf wirklich anrührende und fesselnde Weise. Obwohl Ellas Geschichte vergleichsweise wenig Raum einnimmt, bleibt auch sie nicht blass, sondern gewinnt echte Konturen. Atmosphärisch dicht wird das Leid der aus ihrer Heimat geflohenen Kinder geschildert und wie diese noch als Erwachsene die Spuren dieser Tragödie in sich tragen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.05.2020

Rabenschatten zum Zweiten

Der Herr des Turmes
0

Besonders gefreut habe ich mich über den Gewinn dieses Romans. Mit dem ersten Teil hatte es damals nicht geklappt, und leider war ich noch nicht dazu gekommen, ihn mir selbst zuzulegen. Aufgrund des Gewinns ...

Besonders gefreut habe ich mich über den Gewinn dieses Romans. Mit dem ersten Teil hatte es damals nicht geklappt, und leider war ich noch nicht dazu gekommen, ihn mir selbst zuzulegen. Aufgrund des Gewinns habe ich ihn mir aber sofort besorgt und hatte nun das Vergnügen, den ersten und den zweiten Teil hintereinander weg zu lesen. Das ist aufgrund der komplexen Handlung wirklich ein Vorteil. Meiner Meinung nach sollte man den ersten Teil jedenfalls auf jeden Fall gelesen haben, denn die Bücher sind nicht in sich abgeschlossen, sondern schließen unmittelbar aneinander an und bauen aufeinander auf. Sonst entgeht dem Leser einfach zu vieles, und das wäre schade.
Im zweiten Band bricht der Autor mit seiner bisherigen Erzählstruktur. Beim "Lied des Blutes" stand ausnahmslos Vaelin al Sorna im Vordergrund, seine Entwicklung vom adligen Kind zum kämpfenden Ordensbruder, in epischer Breite, nur eingebettet in eine kurze Rahmenhandlung um den Chronisten Verniers, dem Vaelin seine Geschichte erzählt.
Nun gibt es vier Handlungsstränge (wenn man die erneute Rahmenhandlung um Verniers nicht mitzählt): Vaelin selbst, sein Ordensbruder Frentis, Prinzessin Lyrna und ein neuer Charakter, Reva, die Tochter des ehemaligen cumbraelischen Herrschers. Diese geänderte Erzählweise hatte aus meiner Sicht Vorteile und Nachteile, wobei die Vorteile für mich stark überwiegen. Einerseits wirkte das Vorgehen für mich wie ein Bruch zum ersten Band und uneinheitlich. Außerdem erinnert das Ganze dadurch plötzlich an "Das Lied von Eis und Feuer" (Game of thrones), und so wunderbar Rabenschatten auch ist, "Das Lied von Eis und Feuer" ist für mich allseits unerreicht. Die Ähnlichkeit wurde größer, als dann auch noch die Eishorde auftauchte...
Andererseits ist die Vervielfältigung der Hauptpersonen ein Gewinn. Nun treten auch Frauen in den Vordergrund, und Vaelin empfand ich im ersten Teil oft einfach als zu gut um wahr zu sein, einfach zu aufopferungsvoll. Überrascht hat mich, wie gern ich nun über Frentis gelesen habe. Im ersten Teil war er noch ein Kind und hat mich oft eher genervt. Nun waren für mich seine Erlebnisse die interessantesten. Er gerät in die Gewalt einer mysteriösen, bis zum Schluss namenlosen Frau, die ihn einfach zu allem zwingen kann, sogar den König der Königslande zu ermorden! Mit dieser Zauberin ist dem Autor eine wirklich facettenreiche böse Person gelungen. Auch Lyrnas Handlungsstrang war für mich sehr spannend. Überhaupt enden viele Kapitel mit einem Cliffhanger, und die Geschichte springt zunächst zu einem weiteren Protagonisten. Überraschenderweise geriet der beinahe übermächtige Vaelin dabei zunehmend in den Hintergrund, seine Abenteuer waren einfach blasser trotz oder gerade wegen seiner Ernennung zum titelgebenden Herrn des Nordturmes. Reva hat mich auch nicht so gefesselt. Die plötzliche Einführung dieses Charakters als gleichwertige Hauptperson und ihre Suche nach dem Schwert ihres Vaters habe ich als ziemlich gezwungen erlebt. Aber ich denke, hier werden die Geschmäcker der Leser sehr verschieden sein. Sicher ist für jeden Fantasyfan etwas dabei. Der Anteil der dunklen Gaben im Buch nimmt auch deutlich zu, es wird magischer. Und man fragt sich schon jetzt: Womit wird uns der Autor im dritten Teil überraschen? Ich kann es kaum erwarten.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.05.2020

Hommage an Wiedersehen mit Brideshead

Ein anderes Paradies
0

Kaum gewonnen, war das Buch schon in der Post. Innerhalb von zwei Tagen hatte ich es dann verschlungen. Ich mochte es kaum aus der Hand legen, und die Seiten flogen nur so dahin.
Die Abbildung des Buchumschlages ...

Kaum gewonnen, war das Buch schon in der Post. Innerhalb von zwei Tagen hatte ich es dann verschlungen. Ich mochte es kaum aus der Hand legen, und die Seiten flogen nur so dahin.
Die Abbildung des Buchumschlages hatte ich zunächst noch etwas unscheinbar gefunden, aber das Original kann sich dann doch wirklich sehen lassen. Es ist in sehr sanften Tönen gehalten, das Mädchen mit dem abgewandten Blick wirkt wie auf der Durchreise in ihrem eigenem Leben. Vor allem der pastellige Türkiston hat es mir angetan, aber auch die gemalte Muschel, die sich zu Beginn der Kapitel wiederfindet sowie in der Handlung, da ein Teil am Meer spielt und die Hauptprotagonistin Muscheln als Erinnerungsstücke sammelt.
Das Ganze beginnt mit einem vorangestellten Kommentar aus "Wiedersehen mit Brideshead" von Evelyn Waugh, das ich schon in meiner Jugend geliebt habe. Seltsam, als Kind habe ich Bücher für Erwachsene gelesen, und nun, Jahrzehnte später, liebe ich Jugendbücher! Und tatsächlich kann man "Ein anderes Paradies" als Nacherzählung von "Wiedersehen mit Brideshead" für Jugendliche betrachten. Die Ähnlichkeiten sind so frappierend, dass es unmöglich ein Abkupfern sein kann. Der Roman ist wohl als eine echte Hommage gedacht. Ich habe daher eine Weile geschwankt, ob ich nicht doch nur vier statt fünf Sterne vergeben kann, denn natürlich ist "Wiedersehen mit Brideshead" ein echter Klassiker der englischen Literatur, mit dem das Jugendbuch im direkten Vergleich nicht mithalten könnte. Aber "Ein anderes Paradies" hat mir soviel Freude bereitet, dass ich beschlossen habe, es von seinem literarischen Vorbild losgelöst zu bewerten. Und wird jemand außer mir bei Vorablesen die überdeutliche Vorlage erkennen? Ich bin gespannt!

Statt Charles Ryder im Original haben wir es hier mit Charlotte Ryder, genannt Charlie, als Protagonistin zu tun. Auch sie lernt die reichen Geschwister Julia und Sebastian kennen, und verliebt sich anders als Charles dann natürlich in Sebastian und nicht in Julia. Zwangsläufig sind die Rollen im Vergleich zu "Widersehen mit Brideshead" also vertauscht. Julia ist ein sehr unsteter Charakter, voller Leben, sehr eigen, aber auch von tiefer Melancholie umschattet. Sie war bei einem Autounfall dabei, der ihre ältere Schwester und deren Freund das Leben kostete. Das hier nicht alles so ablief wie geschildert, ahnt der Leser schon früh. Julias Familie ist froh über den guten Einfluss, den Charlotte auf Julia hat, und stellt sie nahezu unter ihre Aufsicht. Bald sind die beiden unzertrennlich, im Internat und im Strandhaus von Julias Eltern. Als sich Sebastian von seiner Freundin trennt, wird aus Sebastian und Charlotte unabwenbar ein Paar. Immer tiefer wird Charlotte in die Welt der wohlhabenden und einflussreichen Buchanans gesogen und vergisst beinahe, ihren eigenen Weg zu gehen, der sie eigentlich auf eine Kunsthochschule führen soll. Als die Wahrheit über den Unfall ans Licht kommt, zerfällt jedoch ihre Freundschaft zu Julia wie ein Kartenhaus, und auch ihre Liebe zu Sebastian ist mehr als gefährdet...
Das Buch hat mich regelrecht in seinen Bann gezogen und war viel zu schnell vorbei, zumal das Ende auch etwas plötzlich kam. Die Geschichte ist sehr dialoglastig, was sie noch lebendiger wirken lässt und das Erzähltempo weiter gesteigert hat. Sie ist sehr modern aufgebaut und enthält am Ende der Kapitel häufig den Austauch von Kurznachrichten oder Emails, was sehr frisch wirkt. Durch die den einzelnen Teilen vorangestellten klassischen lateinischen Zitate entsteht aber auch ein gewisser Tiefgang. Ein wirklich gelungene Mischung! Ich habe das Buch einfach genossen. Wieder einmal ein sehr guter Roman aus dem Carlsen Verlag!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere