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Veröffentlicht am 08.11.2024

Ein hochherrschaftliches Weihnachtsfest voll bissigen Humors und Situationskomik

Schöne Bescherung auf Compton Bobbin
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"Schöne Bescherung auf Compton Bobbin" von Nancy Mitford erschien erstmals 1932 (Originaltitel Christmas Pudding); in deutscher Übersetzung wurde der Roman nun erstmals bei Schöffling & Co. (HC, geb., ...

"Schöne Bescherung auf Compton Bobbin" von Nancy Mitford erschien erstmals 1932 (Originaltitel Christmas Pudding); in deutscher Übersetzung wurde der Roman nun erstmals bei Schöffling & Co. (HC, geb., 233 S.) 2024 in Übersetzung aus dem Englischen von Vera Regul veröffentlicht. Da ich eine andere Buchreihe über die Mitford-Schwestern gelesen habe, war hier mein Interesse geweckt. Nancy Mitford (1904-1973) war die älteste von 6 Schwestern, die der Ehe des 2. Baron Redesdale und Sydney Bowles entstammte. Im Gegensatz zu einigen ihrer berühmten Schwestern stand sie dem Faschismus kritisch gegenüber und stellte sich in den Dienst ihres Landes, was sie mir um einiges sympathischer erscheinen lässt als z.B. Unity Mitford, die als Hitler-Anhängerin galt und sich in dessen Umfeld gerne aufhielt.


Der Gesellschaftsroman von Nancy Mitford, der um die Weihnachtszeit und an den Weihnachtstagen vermutlich Ende der 20er Jahre spielt, nimmt den Leser mit in die schönen Cotswolds, wo Amabelle Fortescue, Ex-Kurtisane und Freundin von Paul Fotheringay, Walter und Sally Montheath, Jerome Field, Michael Lewes (um nur einige zu nennen) ein Cottage namens Mulberry Farm anmietet, um die Weihnachtszeit und den Beginn des Neuen Jahres dort mit ihren Freunden zu verbringen. Das Haus ist in der Nähe von Compton Bobbin gelegen, in dem Lady Bobbin, Mutter von Roderick (Bobby) und Philadelphia Bobbin, das Regiment nach dem Tod ihres Mannes führt. Sie liebt einzig ihre Hundemeute, ist tieftraurig, dass sie wegen einer Maul- und Klauenseuche nicht wie gewohnt zur Jagd gehen kann und schart wie an jedem Weihnachtsfest den Clan der Bobbins um sich, um die Feiertage möglichst fröhlich mit ihnen zu verbringen (was allerdings nicht immer gelingt, was an den zusammengewürfelten, unterschiedlichen Gästen liegen mag). Da sie jedoch die Kosten in einem gewissen Rahmen halten muss, entfallen das Feuerwerk an Silvester und der Champagner: Stattdessen gibt es Bier und Cidre (bis auf die Ausnahme eines kleinen erwählten Kreises, die sich auch in Bobbys Zimmer diverser Cocktails erfreuen können; was auch gerne in Anspruch genommen wird. So nimmt man mit dem Bobbin Clan und im Cottage bei Amabelle Fortescue an den Bräuchen an den Weihnachtstagen teil: Lady Bobbin liebt alle südenglischen und auch deutschen Bräuche, die immer in Anwendung kommen; bei Amabelle geht es lustig zu, denn hier treffen sich (zu Spielen und Gesprächen mit diversen Drinks) Bobby und sein "Hauslehrer" Paul Fotheringay alias Paul Fisher:


Dieser hat sein Début veröffentlicht, das auch vielgelobt wird - allerdings ganz anders, als der Autor sich dies vorstellte: Sein Werk (Kuriose Kapriolen) war durchaus ernst gedacht, wird jedoch als Schmunzellektüre bei den LeserInnen verbucht, was Paul sehr kränkt. Als Amabelle ihm rät, eine Biografie zu schreiben, fragt er bei Lady Bobbin an, da er die Tagebücher der Vorfahrin und Dichterin Lady Maria Bobbin lesen wolle (über sie gab es bis dato sehr wenig). Da dieses Ansinnen jedoch nicht auf Gegenliebe stößt, müssen sich Amabelle, Bobby und Paul etwas anderes ausdenken....


Wovon Lady Bobbin nicht die geringste Ahnung hat und so nehmen viele skurrile und mit sehr britischem Humor versehene Begegnungen zu Weihnachten ihren (oft unvorhergesehenen) Lauf: Wir erleben Paul zu Pferd, lauschen manchem Heiratsantrag und sind erstaunt, dass eine der HauptprotagonistInnen selbst letztendlich (nochmal) ans Heiraten denkt. Diese lustigen Episoden bringen immer wieder in den Dialogen einen sehr humorvollen, aber auch hinterfragenden Kontext, der den Leser schmunzeln lässt. Manches fand ich einfach nur köstlich zu lesen und sehr authentisch für die englische Welt der Adligen um diese Zeit, die langsam dem Untergang geweiht war; anderes machte mich auch betroffen, da die Dekadenz so mancher Zeitgenossen nicht zu übersehen bzw. zu überlesen war. Der Ton Nancy Mitfords und ihr Schreibstil gefielen mir sehr, da zwischen den Zeilen eine kritische Autorin nie zu vermissen war und vieles bewusst noch etwas überzeichnet dargestellt wurde.

Fazit:

Scharfzüngig und entlarvend nimmt Nancy Mitford, selbst diesem gesellschaftlichen Stand angehörend, die britische Upper Class der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit Hilfe des "Bobbin Clans", die sich zu jedem Weihnachtsfest auf Compton Bobbin trifft, gekonnt auf die Schippe; an bissigem Humor und einer köstlichen Portion Situationskomik fehlte es ihr nicht. Voller Lokalkolorit und historischer Authentizität, einigen schrägen (wenn auch adeligen) Charakteren gereicht der Roman besonders in der kommenden Advents- und Weihnachtszeit mit einem Augenzwinkern zu meinen persönlichen Empfehlungen. 4*


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Veröffentlicht am 27.10.2024

Mittelalterliche Geschichte - lebendig erzählt!

Am Fluss der Zeiten
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Bei dem historischen Roman der Erfolgsautorin Ulrike Renk "Am Fluss der Zeiten" handelt es sich um den gelungenen Auftakt einer Trilogie, die auf einem authentischen Zweig der eigenen Familiengeschichte ...

Bei dem historischen Roman der Erfolgsautorin Ulrike Renk "Am Fluss der Zeiten" handelt es sich um den gelungenen Auftakt einer Trilogie, die auf einem authentischen Zweig der eigenen Familiengeschichte der Autorin basiert. Wie immer überzeugt Ulrike Renk mit akribisch recherchierten historischen Fakten, die sie in die Geschichte einer Bauernfamilie (Hof Kalmule) sehr bildhaft, auch detailliert darstellt und einwebt, so dass man das Gefühl hat, man sitzt mit am Tisch des Kalmulehofs und erlebt Freud und Leid zur damaligen Zeit der Familienmitglieder (Heinrich und Gesa, Elzes Eltern; ihre Brüder Drees, der den Hof einst erben wird und 'aufsitzt', Claes, den sympathischen Bruder, der das Müllerhandwerk erlernen wird und ihrer Tante Stine, die Schwester des Vaters, die nach einer sehr schweren Dienstzeit in Münster auf dem Hof aufgenommen wird und Elze mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte, ebenso wie ihre Mutter Gesa).


Nähe Lüdinghausen, Hof Kalmule, 1551:

"Elze wächst mit ihren Geschwistern als Eigenbehörige auf dem großen Hof Kalmule auf. Die harte Arbeit auf den Feldern ist ihr Alltag. Doch ihr Leben wandelt sich von Grund auf, als sie ihre Familie verlassen muss und ihren Pflichtdienst als Küchenmagd in der Stadt Münster antritt. Eines Tages wird sie jedoch mit einer Magd der Herren von Oer getauscht und muss zukünftig auf der Wasserburg Kakesbeck leben, auf der ein Fluch liegt. Dort trifft sie auch Jacob wieder. Aber um den Müllerssohn ranken sich geheimnisvolle Gerüchte. Soll sie diesen Glauben schenken? Und wird Elze nun Teil der alten Prophezeiung werden, um den Fluch der Familie vor Ort zu brechen?" (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


Vor dem Hintergrund des Spanisch-Niederländischen und des 30jährigen Krieges gibt Ulrike Renk hier einen historisch fundierten und unterhaltsamen Einblick in das Leben einer eigenbehörigen Bauernfamilie: Man begleitet Elze, die Hauptprotagonistin nach Haus Senden (das eine excellente Küche hat, wofür Berta, die dortige sympathische Köchin sorgt), von wo sie nach Münster ins Haus von Jobst von der Recke gebracht wird, wo sie ihren Dienst als Magd für ein Jahr verrichten soll. Durch einen Tausch, den eine dortige Dienstmagd geschickt einfädelte, um Drees, den Bruder von Elze zu heiraten und als Bäuerin 'aufzusitzen', wird sie jedoch zur Burg Kakesbeck geschickt, auf der ein Fluch, liegen soll.


Man erfährt von der Schwerstarbeit auf den Feldern von Hof Kalmule, dem einfachen Leben der Bauern zu jener Zeit, die als Eigenbehörige wie Leibeigene des jeweiligen Amtsmanns (des Domkapitel Münster) behandelt wurden oder eines Burgherrn (Herren von Oer) Frondienst leisten mussten; Spanndienste u.a. gehörten ebenfalls zu den Pflichten der Bauern, die Pferde besaßen sowie Abgaben, die zu bestimmten Zeiten zu entrichten waren. Hier fand ich die aufgezeigten Unterschiede zwischen freien Bauern und Eigenbehörigen sehr interessant, die mir neu waren. Auch wusste ich nichts über das Jahr der Täufer in Münster, deren Körbe, in denen man sie richtete, noch heute an einer Kirche hängen.


Die Autorin schafft es, die Zeit Mitte des 16. Jhd. wieder aufleben zu lassen, indem sie sehr bildhafte Schilderungen der Geschicke der Bauernfamilie erzählt; sehr interessant auch die politischen Veränderungen durch nahende kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Herzog Heinrich und Bischof Franz: Wie zu allen Zeiten war beiden daran gelegen, ihre Pfründe zu sichern...

Auch Kirchengeschichte der Stadt Münster, die für Elze voller neuer Eindrücke und Gerüche gewesen sein mussten, fließt in den Roman mit ein; klar erkennbar ist, wie sehr die Bauern unter der Knechtschaft von Kirche und Obrigkeit litten und dieser ausgesetzt waren. Die verlangten Abgaben in Form von Naturalien (Hühner, Schweine, Getreide, Butter) überstiegen - je nach Ernteerträgen - oft die Möglichkeiten der Bauern, die trotz Schwerstarbeit dann kaum über den Winter kamen und zeitweise hungern mussten.

Zu dieser Zeit herrschte Aberglaube in der Bevölkerung (Fluch auf Burg Kakesbeck) und Vorbehalte gegenüber Müllern, die für das Volk 'mit dem Teufel paktierten'. Dass dieser Stand (dem ich selbst wohl entstamme ;) einen solch' schlechten Ruf hatte, war mir bisher unbekannt. Umso mehr freut man sich mit Jacob, dem sympathischen Müllerssohn, dass Elze ihm längst ihr Herz schenkte und nichts auf diese Vorbehalte gibt. Was auch zu dem Bild passt, das man sich von Elze machen konnte: Sie ist mutig, tapfer, klug (des Lesens und Schreibens kundig, was für eine Bauerntochter etwas Besonderes war) und geht ihren Weg, auch wenn er einmal holprig ist. So hat der Roman einen hoffnungsvollen Schluss, bei dem man jedoch gleichzeitig befürchtet, dass das Herannahen eines Krieges Elzes weiteres Leben ebenso bestimmen wird (und das von Jacob) und vieles schwierig machen wird. Sehr zu denken (aktuell betrachtet, in Zeiten schlimmer kriegerischer Auseinandersetzungen) gibt einem in diesem Zusammenhang ein Zitat von Stine, Elzes Tante:


"Der nächste Krieg könnte das Ende der Welt bedeuten. Nicht der Teufel wird das Ende bringen, es sind die Menschen, die im Kampf zu Teufeln werden." (Zitat S. 138)


Fazit:


Ein sehr interessanter, bildhaft erzählter Roman, der Mitte des 16. Jhd. in Münster und Umgebung verortet ist, in dem man ein kluges, sympathisches Bauernmädchen, Elze und ihre Familie begleitet, wobei man viel Historie und etwas Kirchengeschichte in dieser unruhigen Zeit erfährt. Der Fokus liegt auf dem Leben der einfachen Bauern, was ihn sehr lesenswert und ab der Romanhälfte auch spannend macht. Auf die Nachfolgebände bin ich bereits jetzt sehr gespannt und empfehle den Auftakt sehr gerne weiter!

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Veröffentlicht am 27.10.2024

Auge um Auge, Zahn um Zahn - 7. Fall für Jackson Lamb und die Slow Horses

Slough House
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Durch Zufall (und dank "vorablesen") bin ich vor Jahren auf Band 1 dieser inzwischen 7 Bände umfassenden und ins Deutsche von Stefanie Schäfer übersetzte Reihe gestoßen; seither gehört Mick Herron mit ...

Durch Zufall (und dank "vorablesen") bin ich vor Jahren auf Band 1 dieser inzwischen 7 Bände umfassenden und ins Deutsche von Stefanie Schäfer übersetzte Reihe gestoßen; seither gehört Mick Herron mit seinen genialen Fällen um die "Abservierten", die Slow Horses und durch seine Figurenzeichnung und extrem spannende Spionagehandlungen zu meinen absoluten, ureigenen Lieblings-(spionage)krimi-Autoren aus GB!

Es besteht in jedem Band ein realer Bezug zu den realen Vorkommnissen in der Welt der Geheimdienste, die (meist, es sei denn, es geht wie hier auch mal recht brutal und gewalttätig zu) höchstvergnüglich und mit satirischen Seitenhieben köstlich pointiert zu lesen sind. Im vorliegenden Fall besteht ein Bezug zu dem Nervengift Nowitschok, auf Skripal, einen russischen Geheimagenten und seine Tochter wurde 2018 ein Giftanschlag verübt, der diesem Buch gewissermaßen eine gar nicht unreale Charakteristik gibt und durchaus Parallelen aufweist.


Roddy Ho, IT-Experte mit Ninja-Fähigkeiten und ein Slow Horse, entdeckt, dass sowohl das Slough House als auch die Slow Horses selbst aus der Datenbank des Regent's Park entfernt worden sind - was ihn in Alarmbereitschaft versetzt. Frühere Slow Horses wie Kay White und Struan Loan finden ein tragisches Ende, normale Todesfälle? Zufall oder Schicksal? Da die Agenten wie Catherine Standish, Shirley Dander, Lech Wicinczki, River Cartwright, Roddy Ho und Louisa Guy inclusive dem Leiter des Slough House, Jackson Lamb (wie immer auffallendes Sozialverhalten; er trinkt, rülpst und furzt gerne in Anwesenheit seiner 'Pappkameraden') zwar irgendwann in ihrem Leben einen Fehler machten und degradiert wurden, im wahrsten Sinne des Wortes vom MI5 abserviert wurden, heißt dies noch lange nicht, dass man es hier nicht mit fähigen Agenten zu tun hat: Sie bemerken sehr wohl, wenn sie beschattet werden, wissen sich auch zu wehren und da neuerdings ein Paar (Mann und Frau) in Missionarstracht umherzieht, bevor ein früheres Slow Horse den Tod findet, entwickeln manche fast eine Paranoia. Dem sonst sehr gleichgültigen Lamb ist dies nicht egal. Er mag es nicht, wenn seine Joe's die Straße pflastern (auch die von früher) und muss letztendlich einen Aktivierungsbefehl ausgeben, der aus drei Worten besteht: "Blakes Grab. Unverzüglich". Ein Safe House wird gefunden, in den die Agenten erstmal (mit indischem to go-Essen reichlich versorgt) untertauchen können. Doch dies geschieht natürlich nicht, bevor Lamb mit der Direktorin des MI5 - Diana Taverner - für Eingeweihte Lady Di - ein Machtwörtchen gesprochen hat.


Doch bis es dazu kommt, erfahren wir in mehreren Erzählsträngen sehr gekonnt und wie gewohnt höchst spannend von den Hintergründen der Welt der Geheimdienste: In Russland wurde eine mutmaßliche beteiligte Frau ermordet, die zuvor am Giftanschlag in GB mitwirkte; dies bringt Putin zum Zähneknirschen und er schickt seinerseits seine Söldner (selbst einst dem KGB entsprungen) nach England, um Rache zu üben. All dies geschieht, während Peter Judd und Diana Taverner (er kein großes Tier mehr, aber dennoch mächtig) wie üblich die Strippen hinter den Kulissen ziehen und Sorge tragen, dass - zumindest nach außen hin - alles hübsch 'sauber' aussieht. Allerdings kann man bei diesen Machenschaften nicht davon ausgehen, dass auf irgendeiner Seite Wert auf Menschenleben gelegt wird: Hier gibt es durchaus Kollateralschäden; wie z.B. André - eigentlich Andrej und russischer Staatsbürger, der ein Buch über Putin schreiben wollte, in GB lebt (mit Reece Nesmith zusammen, ebenso kleinwüchsig wie er), aber lange in Moskau lebte: Reece erhält die Nachricht, er sei dort verstorben und ist völlig am Boden über diese Nachricht. Weiß er doch, dass sein Freund (der schon eine Menge Fakten gesammelt hatte) ausgeschaltet worden war. Neugierig geworden, sucht Lamb ihn auf.


Auch erleben wir Medienmogule, die durch Macht und viel Geld in der oberen Liga mitspielen wollen. Selbst mitbestimmen wollen, was nicht im Sinne einer Diana Taverner oder eines Peter Judd liegt; die jedoch auf Sponsoren angewiesen sind, um den Geheimdienst am Laufen zu halten. Wir sind auch kurz im Archiv bei dem Dinosaurier auf Rädern in Form von Molly Doran, der übel mitgespielt und Informationen entrissen wurden, die sie gar nicht preisgeben wollte. Wer hat diese Informationen in die falschen Hände kommen lassen und ist für Morde auf britischem Boden verantwortlich? Wer ist hinter den Slow Horses, hinter Sid Baker, die wie durch ein Wunder wieder auftauchte und sich im Haus des O.B. versteckt, her und will sie umbringen? Im letzten Drittel dieses genialen Spionagethrillers steigt die Spannung ins Unermessliche und Herron lässt die Fäden wie üblich gekonnt und mit markigen Sprüchen zusammenlaufen. Allerdings geschieht etwas, womit sicher niemand rechnete und das man als Cliffhanger bezeichnen kann: Ich hoffe, Frau Schäfer's deutsche Übersetzung lässt nicht lange auf sich warten, da ich mit den Slow Horses mitfiebere (und bete, da es um einen meiner Lieblings 'Joes' geht).


Mick Herron nimmt pointiert, mit triefendem Sarkasmus und tollen Wortspielen und mit Seitenhieben auf Politik, Medien und Wirtschaft die Machenschaften der Mächtigen auf's Korn; auch die der Geheimdienste, der Verbündeten, der Strippenzieher und der Geldgeber. Er lüftet einen imaginären Vorhang, hinter dem es ganz genau so (oder sehr ähnlich) zugehen könnte und der den Blick eines Gemeinsterblichen hinter diese Kulisse im Allgemeinen zu vereiteln sucht. Die (verdienten) Seitenhiebe und die schrägen Charaktere der Slow Horses, besonders Jackson Lamb's, setzen dem ganzen die Krone auf (wenn es z.B. darum geht, dass einem Medienmogul klar wird, dass ein Ex-Politiker im Grunde nur einen "Königsmacher" sucht - und die Beteiligten beim letzten Mal noch Gehröcke trugen).


Ein Lesevergnügen der 'besonderen Art'; daher meine absolute Empfehlung (in chronologischer Reihenfolge) und volle Punktezahl! 5* (und Vorfreude auf den 8. Fall für die Slow Horses!)

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Veröffentlicht am 04.10.2024

Eine zweite Heimat

Und dahinter das Meer
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"Und dahinter das Meer" von Laura Spence-Ash, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann, erschien (HC, geb., 364 Seiten) 2024 im mareverlag, Hamburg. Es handelt sich um ein sehr lesenswertes ...

"Und dahinter das Meer" von Laura Spence-Ash, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann, erschien (HC, geb., 364 Seiten) 2024 im mareverlag, Hamburg. Es handelt sich um ein sehr lesenswertes Début der Autorin, die spät zum Schreiben fand ("alles hat seine Zeit", wie sie im Vorsatz zum Leseexemplar treffend bemerkt), das die Geschichte zweier Familien in Kriegs- und Nachkriegszeiten in Amerika (Boston) und England (London) auf sehr einfühlsame, emotionale Weise erzählt, die durch das Verschickungskind Beatrix (11), das sicherheitshalber 1940 von ihren Eltern Millie und Reginald Thompson zu den Gregorys nach Boston geschickt wird, miteinander verbunden sind.


In drei Teilen wird die Familiengeschichte, die auch ein Stück Zeitgeschichte ist und die Jahre 1940 bis 1977 umfasst, dargestellt: Wir erleben die Ankunft des Schiffes von Bea, wie sie fortan bei Nancy und Ethan Gregory und ihren beiden Söhnen William und Gerald genannt wird und die 5 Jahre von Bea in der Gastfamilie, die das Kriegsende markiert und die Rückkehr zu Millie Thompson von Beginn an vorsieht.


Nancy Gregory oder "Mrs. G." ist eine wunderbare Frau und Mutter, die sich sehnlichst eine Tochter wünschte. Dass Beatrix die Lücke füllen würde und auch ein Gleichgewicht in der Familie mit zwei sehr gegensätzlichen Jungs darstellen wird, hätte niemand vorhersagen können. Man spürt die Angst Beatrix vor der neuen Situation, aber auch die Herzlichkeit, in der alle sie in der Familie aufnehmen. So dauert es nicht lange, bis sie ein "zweites Zuhause" hat und sich mehr und mehr zu William hingezogen fühlt. Dieser wirkt im Roman etwas rastlos, getrieben und immer auf der Suche: Als sich beide im Teenageralter näherkommen, muss Beatrix zurück nach England. An Gerald, dem ruhigeren der beiden Brüder, ist diese Nähe zwischen William und Beatrix (die er auch sehr mag) nicht verborgen geblieben. Wird Beatrix den Kontakt zu der Familie Gregory halten? Werden alle an die wunderschönen Sommer auf der Insel in Maine, wo alle ausnahmslos sehr glücklich waren, zurückdenken?


Diesen Fragen widmet sich dieser Roman, der in der ersten Hälfte sehr detailliert die inneren und äußeren Welten der Gregory's und Thompsons beleuchtet. Die Emotionen und die Zerrissenheit von Beatrix gehen dabei sehr zu Herzen, da man sich in ein Mädchen von 11 Jahren, die alleine in die Fremde geschickt wird, vorstellen kann. Man freut sich aber auch mit Bea, wie gut sie sich bei der warmherzigen Familie Gregory einleben kann und wundert sich weniger, dass ihr früheres Leben in London (in Amerika war alles größer) nach und nach verblasst. Auch Unsicherheiten da sind, was sie der Mutter schreiben soll - und was lieber nicht. Sie spielt eine Art Vermittlerrolle zwischen dem anfangs 9jährigen Gerald und dem 13jährigen William, der alles andere als nach Harvard (wie sein Vater und sein Großvater) will, sondern grundsätzlich ganz weit weg; Bea ist nach und nach ein Teil der Familie, die sie ebenso liebt wie dies bei allen Familienangehörigen der Fall ist. Wir erleben Thanksgiving, Weihnachten und die unvergesslichen Sommer in Maine mit Beatrix, wo besonders Mrs. G. unglaublich glücklich ist. Aber auch die Schattenseiten; der Tod des Vaters in England, der Eintritt Amerikas in den zweiten Weltkrieg, der Angriff auf Pearl Harbor, lässt die Autorin nicht aus. So ist dieser vorwiegend zu nennende Familienroman auch ein Stück Zeitgeschichte, die besonders Amerika in Kriegs- und Nachkriegsjahren gesellschaftlich nachzeichnet. So interessiert sich eine Romanfigur besonders für die Kennedy's und man erlebt, wie John F. Präsident wird - und liest von seiner Ermordung. Der Roman ist einerseits sehr emotional und berührend, andererseits aber auch sehr tiefgründig; so geht es auch um "Ängste, die greifbar werden, wenn ein Land sich im Krieg befindet" (Zitat S. 76). So geht es auch um Briefe, die geschrieben, jedoch nie abgeschickt werden und um die Entfremdung zwischen Beatrix und Millie, ihrer Mutter in England: Lange wird es dauern, bis diese begreift, dass Mrs. G. in Boston ein großes Herz hat und ihre Tochter ebenso liebt wie sie selbst es tut. Noch länger, bis ihre Vorbehalte und ihre Eifersucht besiegt sind und beide sich annähern werden.


Es werden auf sehr einfühlsame Weise zwischenmenschliche Beziehungen nachgezeichnet, die sich durch die Ausgangssituation entwickeln - und auch die Folgen dieser Zeit für einige Romanfiguren, die sehr authentisch wirken. Ist die erste Hälfte des Romans etwas sehr detailliert, etwas langatmig und fast ausufernd, so entschädigt die zweite Romanhälfte umso mehr: Bewegt folgt man den Bildern aus der Vergangenheit der Gregorys, die immer wieder auftauchen durch spätere Besuche von Beatrix, die sehr emotional, menschlich und bewegend anmuten, was den Wert dieses Romans meiner Meinung nach am meisten unterstreicht: Er zeigt, wenn auch beispielhaft in der Darstellung der Thompsons in England und der Gregory's in Boston sehr bildhaft, wie sehr Familien durch Kriege auseinandergerissen werden können. So dauerte es Jahre, bis "die Mauern zwischen Millie und Beatrix nach und nach abgeräumt werden konnten" (Zitat S. 338). Lediglich das Erzähltempo hätte ich mir etwas ausgefeilter, ausgeglichener gewünscht (z.B. die Rückreise von Bea nach 5 Jahren in Boston ist etwas kurz geraten), hier sehe ich noch Potential.


Ein sehr lesenswerter Roman, den ich sehr gerne weiterempfehle, da er anhand der emotional feinfühligen, warmherzigen Beschreibung der Gefühlswelten zweier Familien in Kriegs- und Nachkriegszeiten auch historische und zeitgeschichtliche Ereignisse dokumentiert, die oftmals ein Nachspiel im Leben haben. Menschen aber auch lernen können, "über sich selbst hinauszuwachsen" und ihrem Herzen zu folgen. Auf der Shortlist des Buchpreises der Unabhängigen Buchhandlungen in Deutschland stehend, wünsche ich Laura Spence-Ash und ihrem Roman sehr viel Glück!


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Veröffentlicht am 16.09.2024

Seltsame Sally Diamond - außergewöhnliches Leseerlebnis!

Seltsame Sally Diamond
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Von der irischen Autorin Liz Nugent, deren Buch (Genre Psycho-Thriller) "Seltsame Sally Diamond" in deutscher Übersetzung von Kathrin Ranzum im Steidl-Verlag (2024, HC, 336 S.) veröffentlicht wurde, hatte ...

Von der irischen Autorin Liz Nugent, deren Buch (Genre Psycho-Thriller) "Seltsame Sally Diamond" in deutscher Übersetzung von Kathrin Ranzum im Steidl-Verlag (2024, HC, 336 S.) veröffentlicht wurde, hatte ich zuvor noch nichts gelesen. Dies wird sich höchstwahrscheinlich seit diesem außergewöhnlichen Lesegenuss aber fortan ändern!


"Als Ihr Adoptivvater stirbt, tut Sally Diamond genau das, was er ihr aufgetragen hatte und entsorgt seine Leiche mit dem Müll. Ein Fehler, denn plötzlich interessieren sich alle für die seltsame Frau, die am liebsten für sich bleibt: Polizei, Nachbarn, Medien - und eine unheimliche Stimme aus der Vergangenheit, von der sie nichts mehr weiß. Während sie nach und nach von den schrecklichen Geheimnissen ihrer frühen Kindheit erfährt, nähert sich Sally zum ersten Mal vorsichtig der Welt. Sie übt sich in Vertrauen, schließt Freundschaften, trifft große Entscheidungen und lernt, dass Menschen nicht immer meinen, was sie sagen und nicht immer sind, wer sie vorgeben zu sein.


Ein Buch, das unter die Haut geht, düster, hoch spannend und ergreifend - und mit einer Hauptfigur, die so entwaffnend ehrlich, liebenswert und einzigartig ist, dass man sie nicht vergisst." (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


Ein sehr außergewöhnliches Buch, eine tolle Autorin, die hier einen unnachahmlichen Sog entwickelt hat, der auch mich gefangen nahm...


Sally Diamond (ihr Geburtsname lautet anders, sie wurde adoptiert), lebt bei ihren Adoptiveltern sehr zurückgezogen. Beide sind Psychiater und Thomas Diamond, inzwischen hochbetagt, äußert sich Sally gegenüber so, dass sie ihn nach dessen Tod in der Tonne (hinter dem Haus) verbrennen soll. So äschert sie ihn weisungsgemäß ein, ohne die Folgen zu bedenken...

Denn dass, was Sally gut kann, sind grundsätzlich Anweisungen zu befolgen. So liebt sie z.B. Rezepte, die sie hervorragend nachkocht und spielt leidenschaftlich gerne Klavier (was sie sehr beruhigt). Denn: Sie ist "sozial defizitär"; zeitlebens hat Thomas Diamond sie von PsychologInnen ferngehalten (ausser von sich selbst) und die ausgeprägte Sozialphobie Sallys wachsen lassen (was ebenfalls nach dessen Tod Folgen haben sollte). Wäre da nicht Dr. Angela Caffrey, der Sally vertraut und die früher mit ihrer verstorbenen Adoptivmutter zusammenarbeitete, dieser nahestand und um Sally's "anderssein" wusste.


Bereits in der Schule separierte sich Sally selbst, nahm an keinen gemeinschaftlichen Ausflügen teil und ging direkt nach Hause. Nur ein stotterndes Mädchen, ebenso gemieden wie Sally von den MitschülerInnen, sah in ihr nicht "die seltsame Sally", sondern nur, dass sie eben anders war als die anderen.


Weshalb war dies so? Dieser Frage geht dieses Buch so subtil nach, dass man immer wieder Gänsehaut bekommt und einem zuweilen der Atem stockt, wenn man sich vor Augen führt, was Sally bis zu ihrem 4. Lebensjahr erlebt haben mag....


So verfolgt man aufmerksam, in kurzen Kapiteln, die hochspannend und oft dramatisch, aber auch mit außergewöhnlichem psychologischem Feinschliff beschrieben sind, die Lebensstationen von Sally nach dem Tod von Thomas, der ihr vieles "lebenspraktische" nicht beigebracht hatte. Man freut sich mit ihr über ihre Fortschritte und bedauert es, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt.


Durch das Auftauchen ihres Bruders Peter bzw. Steve, von dem sie lange nichts wusste und dessen schwierigen Lebensweg der Roman im zweiten Erzählstrang beschreibt, und dem Herausfinden von Tatsachen, was mit ihrer Mutter Denise geschehen ist, wird sie lange Zeit psychisch sehr herausgefordert, nimmt jedoch auch Hilfe in Form von therapeutischen Sitzungen an und will lernen, "zwischen den Zeilen zu lesen", was die Menschen wirklich meinen (lange dachte man, sie könne gar nicht sprechen; auch hier ist sie anfangs hilflos und überfordert).


Auf die Details gehe ich bewusst nicht ein an dieser Stelle, da ich damit spoilern würde und diesem Buch viele LeserInnen wünsche, die es mit ebenso stockendem Atem lesen möchten, wie ich es tat. Auch nicht auf die Hintergründe, denn diese sind grausam und oftmals unmenschlich, jedoch durch den Stil der Autorin durchaus lesbar und erkenntnisreich: Ein Psycho-Horror-Roman mit Krimielementen, der es wahrlich in sich hat!


Fazit:


Verstörend, faszinierend, außergewöhnlich und auch brillant mit psychologischer Finesse entführt Liz Nugent (ihr Name sollte man sich merken!) ihre Leserschaft in tiefste menschliche Abgründe, wo zuweilen dennoch Gutes und auch die Hoffnung durchblitzt. Mehr von Liz Nugent gibt es im Steidl-Verlag, dem ich sehr dafür danke, sich für irische AutorInnen einzusetzen, ganz besonderen Dank in diesem Zusammenhang an Claudia Glenewinkel! Ein ganz außergewöhnliches, absolut empfehlenswertes Leseerlebnis - und Roman! 5*

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