Bissig und skurril
LilLil Cutting, eine – rein fiktive – Geschäftsfrau im New York um 1880, ist durch ihre „unweiblichen“ Eigenschaften – Durchsetzungsvermögen, Geschäftssinn, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit – vielen in ...
Lil Cutting, eine – rein fiktive – Geschäftsfrau im New York um 1880, ist durch ihre „unweiblichen“ Eigenschaften – Durchsetzungsvermögen, Geschäftssinn, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit – vielen in der „besseren Gesellschaft“ ein Dorn im Auge, insbesondere ihrem eigenen Sohn, der ebenso untalentiert wie moralisch verkommen ist und nach dem Tod seines Vaters an das Familienvermögen kommen möchte. Mithilfe eines ehemaligen Studienfreundes, der inzwischen Direktor einer psychiatrischen Privatklinik ist, will er seine Mutter, die durch die Trauer um ihren Mann geschwächt ist, für geistesgestört erklären und für den Rest ihres Lebens wegsperren lassen. Doch er unterschätzt Lils Kampfgeist und ihre Freunde…
Der Roman besteht aus zwei Erzählebenen. In der Rahmenhandlung erzählt Sarah, Ururururenkelin Lils und schwer krebskrank, im Jahr 2018 die Geschichte ihrer Ahnin ihrem Hund Miss Brontë (ein literarischer Gruß an die drei britischen Schriftsteller-Schwestern, die alle unter männlichem Pseudonym veröffentlichten?). Die Binnenerzählung um Lil Cutting spielt überwiegend in den Jahren 1880 und 1881.
Der Schreibstil ist sehr ungewöhnlich, und ich musste mich zunächst etwas einfinden. Konnte ich mich mit Miss Brontë als sprechendem Dobermann noch abfinden bzw. dies als eine Illusion Sarahs interpretieren, waren mir die sprechenden Pflanzen dann doch etwas zuviel. Insgesamt wäre etwas weniger Skurillität mehr gewesen, und gelegentlich driftet die Handlung zu sehr ins Alberne. Auch der Sprachduktus vieler Personen, u.a. der Sandbergs, passt für mich nicht ins ausgehende 19. Jahrhundert. Die Figurenzeichnung bleibt mir generell zu sehr im Gut-Böse-Schema verhaftet, mir fehlen Zwischentöne und Ambivalenz (auch wenn Zuspitzungen natürlich zur Satire gehören). Inhaltlich überzeugt mich die Handlung stellenweise nicht, viele Ereignisse folgen zu schnell aufeinander, die aus Gründen der Logik besser über einen größeren Zeitraum verteilt hätten werden sollen, hinzu kommen inhaltliche Ungenauigkeiten (eine Person stirbt 1882 an einer Fischgräte, doch bereits im Frühjahr 1881 wird darauf Bezug genommen). Lils Figur bleibt merkwürdig blass, tritt selbst kaum in Erscheinung und wird vor allem aus der Sicht Dritter beschrieben.
„Lil“ ist eine scharfzüngige und bitterböse Satire auf die verlogene, dekadente Gesellschaft der „Erlauchten Vierhundert“ und wirft ein grelles Licht auf den Antisemitismus, den Rassismus und die Misogynie der damaligen Zeit sowie auf den entwürdigenden Umgang mit psychisch erkrankten oder körperlich beeinträchtigten Menschen. Lils Erlebnisse in der Psychiatrie ließen mich an die Erfahrungen der Mutter im Film „Der fremde Sohn“ denken (gespielt von Angelina Jolie), und die Vorstellung davon, wie viele Frauen unter fadenscheinigen Begründungen psychisch pathologisiert und für immer weggesperrt wurden, ist schwer erträglich. Die Kritik an den wenig wissenschaftlichen und von Willkür geprägten Anfängen der Psychologie und Psychiatrie nimmt im Buch einen großen Raum ein und ist auch historisch belegbar. Zweifelhaft hingegen ist Sarahs pauschale Kritik an psychiatrischen Einrichtungen und Ärzt*innen der Gegenwart. Auch heute gibt es sicher noch immer schwarze Schafe und schwerwiegende Fehldiagnosen (wie in anderen Fachrichtungen auch), doch das undifferenzierte Abqualifizieren einer gesamten Fachrichtung erscheint mir nicht gerechtfertigt und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.