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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.10.2016

Absolute Leseempfehlung: Ein einzigartiges Buch wie ein Schlag, voller Herzblut

Hool
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Ich kann Fußball nicht leiden, mag keine Drogen, Hooligans noch weniger – dieses Buch geht um genau dieses Milieu und doch um viel mehr. Es geht um Familie und Freundschaft, um Leidenschaft und Alltagstrott, ...

Ich kann Fußball nicht leiden, mag keine Drogen, Hooligans noch weniger – dieses Buch geht um genau dieses Milieu und doch um viel mehr. Es geht um Familie und Freundschaft, um Leidenschaft und Alltagstrott, Treue, Pflicht, Liebe – Versagen, Angst, Hoffnungslosigkeit. Man könnte jetzt sagen, Fußball und die Hooligans seien nur Vehikel für die Themen, aber das trifft es auch nicht – das Buch hätte weder über einen Golfer noch über einen Boxer geschrieben worden sein können. Ich habe es wie im Rausch verschlungen. Grandios. Mutig – auch vom Verlag, weil man natürlich erst einmal die Hemmschwelle der Leser (Leserinnen!) durchbrechen muss. Einzigartig, oder, um die Werbung zu bemühen: einzig, nicht artig. Hooligans schlagen sich oder vielmehr (bevorzugt, nach Regeln) einander – die Sprache ist (nicht im ganzen Buch) rau. Keine Sprache, die ich (sonst) lesen will – hier passt es. Genau so. Trägt das die Geschichte? Ich hatte Angst vor zu viel Wiederholung rein über die „Matches“, aber: das trägt. Autor Philipp Winkler kann das, kann viel viel mehr: Wer zweifelt, bitte unbedingt bis, sagen wir, S. 118 durchhalten – spätestens da zeigt sich, WAS er alles kann. Poetische Ansätze, Rückblicke, die langsame Entfaltung der GANZEN Geschichte(n) hinter der Geschichte.

Ich-Erzähler Heiko erinnert sich an seine erste Begegnung mit Yvonne, die seine Freundin wurde: “Aber es ging auch mehr um ihr Gesicht. So fucking schön! Ihre Wangen waren richtig glatt, so dass man fürchten müsste abzurutschen, wenn man sie streichelte. Sie liefen zum Mund hin schmaler zu. Ein niedlicher, kurzer Mund. Nicht so breitmaulfroschmäßig wie bei so vielen anderen. Ihre Nase ganz schmal und zart. Kaum Nasenlöcher. Sowieso ist alles an ihr so schmal. Wirkt so zerbrechlich.“ S. 118 Heiko hat Zeit, viel Zeit neben seinem Job im Gym seines Onkels, der ihn in die Szene brachte, neben Hilfsarbeiten beim Füttern spezieller Tiere von Arnim, bei dem er dafür wohnt, und neben seinen Kumpels und gelegentlich auch seiner Familie. Alles ändert sich gerade.
„Dann steige ich in den Polo und fahre zur Midas-Spielo [Spielothek], die erst um sechs Uhr morgens für eine Stunde schließt, um durchgesaugt zu werden.
Ich setze mich an den Tresen, bestelle mir einen Kaffee nach dem anderen, spiele kein einziges Mal, und wenn ich zwischendurch auf meinen Unterarmen einnicke, fühlt es sich danach an, als wäre ein Jahrzehnt vergangen und wir wären alle alt und grau und könnten endlich auf unser Leben zurückblicken und sagen: Wir bereuen nichts.“ S. 147

Es gibt viel Hoffnungslosigkeit – und es gibt die Kumpels. Die Hooligans verabreden sich mit denen anderer Clubs zu „Matches“, außerhalb vom eigentlichen Spiel, ein Schlagabtausch im engeren Sinn nach festen Regeln, gleiche Personenzahl, es wird dokumentiert, ohne „Zivilisten“ – wer am Boden liegt und nicht aufsteht, wird nicht mehr geschlagen, ist aber raus. „Es war so ein affengeiles Gefühl, weiß ich noch ganz genau, wie der Pulk an Hools hinter mir herlief. Ich sah mich die ganze Zeit um und fühlte mich wie der Anführer einer verdammten Horde von Nashörnern oder sowas.“ S. 154 Die anderen, das sind die Polizisten und die Spießer – aber auch die Rechten („Natzen“), die Veranstalter von Tierkämpfen oder die Ultras (etwas gelernt, für mich war das „alles eins“). Aber es läuft einiges schief – manche Familien sind gebeutelt von Schicksalsschlägen, andere geben einfach auf. „Hätten wir. Oder. Hätte ich das Ganze nicht so versaut,…“ S. 193

Es wird geschlagen in dem Buch, aber darum geht es nicht. Die Geschichte selbst landet mit einem harten Einschlag beim Leser, es fließt Blut, aber immer geht es um das Herzblut der Protagonisten, die meist eher niemandes Hauptperson sind, aber doch ehrlicherweise nicht so weit weg sind – außer mir mögen die meisten Deutschen Fußball, die beschriebenen Schicksalsschläge würden jeden aus der Bahn werfen. Vielleicht wirkt das Buch gerade deshalb, weil man das zumindest im Hinterkopf weiß. Unbedingt selbst lesen.

Veröffentlicht am 03.10.2016

Wer „Criminal Minds“ gerne sieht, wird Andrea lieben

Am Abgrund seiner Seele
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Die 23jährige Deutsche Andrea Jahnke studiert im siebten Semester Psychologie an genau dem College in Norwich, an der University of East Anglia, wo seit kurzem ein Serien-Vergewaltiger sein Unwesen treibt. ...

Die 23jährige Deutsche Andrea Jahnke studiert im siebten Semester Psychologie an genau dem College in Norwich, an der University of East Anglia, wo seit kurzem ein Serien-Vergewaltiger sein Unwesen treibt. Sie macht ein Praktikum bei der Polizei, in der Abteilung für Cold Cases – sie spezialisiert sich auf Verhaltenspsychologie und will Profilerin werden. Noch ist das Theorie. Als sie abends auf ihren Freund wartet, wird sie auf Geräusche aufmerksam – und kann den maskierten „Campus Rapist“ bei der brutalen Vergewaltigung der Studentin Caroline stören und verscheuchen.

Studentin Andrea hat den Drang, zu helfen, besonders der verstörten Caroline – dank ihrer bereits bestehenden Kontakte zur Polizei kann sie ihre Versuche des Profiling auch den Ermittlern zur Verfügung stellen. Hier liegt eine der besonderen Stärken des Buches: der Leser kann genau mitverfolgen, wie das funktioniert. Was in der genannten Serie „Criminal Minds“ oft sehr leicht aussieht, wird von Autorin Dicken im Verlaufe des Buches anschaulich erklärt: die Suche nach Zeichen, deren Entschlüsselung, nach Indizien. Der Vergleich mit Statistiken. Das geschieht nicht als trockene „Fakten-Schlacht“: Andrea, selbst Anfängerin, muss noch viel nachlesen; wir folgen ihr quasi abschnittweise bei ihren Erkenntnissen, ihren Erläuterungen.

Das Buch zeigt auch, wie schwierig Profiling ist – nicht nur für den Profiler; auch dessen privates Umfeld muss diese Beschäftigung mit dem abgrundtief Bösen mittragen, mit ertragen können. Da Andrea noch nicht lange mit Greg zusammen ist, stellt sich ihm das schon als Herausforderung dar. Dann wird klar, dass auch Andrea in den Fokus des Täters geraten ist – er hat neue perfide Pläne. Und Greg wird sich einer heftigen Bewährungsprobe gegenüber sehen… und dann gibt es ein neues Opfer aus dem nächsten Umkreis. Unbarmherzig drückt die Autorin da auf’s Gas.

Warnung für entsprechend empfindsame Leser: Die Schilderung der Taten selbst ist detailliert, wenn auch nicht voyeuristisch – Dania Dicken lässt den Leser nicht im Unklaren darüber, wie GENAU es dem Täter um Dominanz geht, um Demütigung, um Kontrolle. Er geht planvoll vor, nimmt den Frauen ihre Selbstbestimmung, greift ihre Identität an. Sie lässt uns teilhaben, wie er sich steigert, „mehr“ benötigt. Die Perspektive wechselt zwischen Andrea, dem Täter und den Frauen in seiner Gewalt. Das hier ist ein ECHTER Psychothriller. Es gibt kaum „Erholung“ für den Leser, auch vom Tempo her nicht, außer in einigen der Kapitel mit Andrea und ihrem neuen Freund Greg - es geht um einen Serienvergewaltiger und Folterer - und die Autorin ist wirklich explizit. Sie weiß, wovon sie schreibt, sie hat Psychologie studiert. Manche Romane zum Thema Sexualsadist deuten mehr/nur an – bei Carla Norton wird z.B. mehr rückblickend geschrieben, mehr anhand der Auswirkungen. Bei Wendy Walker gibt es nur den Polizeibericht. Diese Bücher wirken auf mich eher im Nachhinein verstörend durch „Kopfkino“ – hingegen Dania Dicken setzt den Leser quasi „neben das Opfer“. Wer sich hier tatsächlich noch Fragen stellt wie „hätte diese Frau besser nicht allein unterwegs gewesen sein sollen“,...

Veröffentlicht am 01.10.2016

„Ich hatte jemanden“

Memory Wall
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In Memory Wall kommt ein Gerät zum Einsatz, mit dem demente Menschen ihre Erinnerungen quasi „abzapfen“ und auf Kassetten speichern können, sie oder andere können diese dann abspielen. Die wohlhabende ...

In Memory Wall kommt ein Gerät zum Einsatz, mit dem demente Menschen ihre Erinnerungen quasi „abzapfen“ und auf Kassetten speichern können, sie oder andere können diese dann abspielen. Die wohlhabende Witwe Alma ist dement. Mit der Therapie bei Dr. Amnesty (!) versucht man, beschädigte Neuronen zu lehren, tauglichen Ersatz zu schaffen. „Sie erinnert sich, wie sie sich erinnern soll.“ S. 17 Ihr werden vier Löcher in den rasierten Schädel gebohrt, dort werden bei der Therapie die vier Schrauben eingeführt in die gesetzten Ports. Bei der Behandlung sieht sie Erinnerungsfetzen wie Filmausschnitte, die eigentliche Erinnerung wird auf Kassetten gespeichert. Einige Patienten nutzen wieder und wieder die Kassetten mit den schönen Erinnerungen, an die Hochzeit zum Beispiel. Alma nutzt außerdem die titelgebende „Memory Wall“ in ihrem Hause, gespickt mit den genannten Kassetten, Fotos, Notizen – Erinnerungsstücken.

Alma und ihr verstorbener Mann Harold waren Immobilienmakler, aber als Rentner hatte Harolds Leidenschaft für Fossilien zunehmend Raum eingenommen. Kurz vor seinem Tod hatte er noch einen bedeutenden Fund gemacht und war gestorben, bevor er diesen der Öffentlichkeit mitteilen konnte – so ein vollständiges großes Skelett ist für einen Sammler viel wert, gerne 40, 50 Millionen Rand. „Die Wissenschaft…will immer den Kontext. Aber was ist mit der Schönheit? Was ist mit der Liebe?“ S. 64, so der Hehler für Fossilien.

Jede Nacht bricht Roger Tshoni ein in das Haus Almas; er hat einen Jungen dabei, der quasi als „Abspielgerät“ fungieren soll - so will man Almas Erinnerungen den Fundort entlocken. Alma bemerkt jeden Einbruch, was ihr ihrem Zustand jedoch nichts nützt. „Manchmal droht sie damit, die Polizei zu rufen. Manchmal nennt sie ihn Harold [der Name ihres verstorbenen Mannes], manchmal Schlimmeres: Laufbursche. Kaffer. Schwarzer. Wie in An die Arbeit, Bursche.“ S. 34 Die Handlung des Buches spielt sich ab in Kapstadt, aber in Almas Erinnerungen ist noch das Südafrika der Apartheid.

Welche Realität zählt? Was macht einen Menschen aus? Was bleibt von uns, wenn wir gehen? Autor Anthony Doerr verwebt geschickt die Parallelität von Alma in Folge der zunehmenden Demenz und einem Fossilienfund, schon an sich Symbol für etwas, das war, und der hier auch noch verloren scheint, verloren in den Tiefen von wiederum Almas Erinnerungen, die in einem klaren Moment sagt: „Zu sagen, jemand sei ein glücklicher Mensch oder eine unglücklicher Mensch, ist lächerlich. Wir sind in jeder Stunde tausend verschiedene Menschen.“ S. 72 Dazu kommen noch die wunderbaren weiteren Charaktere wie der Hausdiener Pheko oder das „menschliche Abspielgerät“ Luvo, beide vor die Frage gestellt, wie sie sich angesichts existentieller Bedrohung verhalten. Ein kurzes Buch mit einem langen wundervollen Nachklang.

Auf einer ähnlichen Idee, nicht für Demente, damals sah man das noch nicht als so großes Problem, fußt der Film „Projekt Brainstorm“ mit Natalie Wood (ihr letzter Film, sie ertank während der Dreharbeiten). Hier benötigte man keine implantierten Ports im Kopf, es genügte ein simpler Helm. Im Film wollen Militärs das Gerät missbrauchen. Ich empfehle den wirklich grandiosen Film als Folgewerk nach diesem Buch:
https://www.amazon.de/Brainstorm-Blu-ray/dp/B007NR9WBG/ref=sr11?s=dvd&ie=UTF8&qid=1475250177&sr=1-1&keywords=projekt+brainstorm

Veröffentlicht am 28.09.2016

„Ich wollte inkognito ich sein“

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
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Autor Meyerhoff ist ausgebildeter Schauspieler, in diesem Beruf erfolgreich tätig – und ich las hier mit Genuss etwas, das ich weniger einen klassischen Roman nennen würde – die Erzählung ist autobiographisch. ...

Autor Meyerhoff ist ausgebildeter Schauspieler, in diesem Beruf erfolgreich tätig – und ich las hier mit Genuss etwas, das ich weniger einen klassischen Roman nennen würde – die Erzählung ist autobiographisch. Meyerhoff schreibt von seiner Ausbildung zum Schauspieler in München, während der er, aus Norddeutschland kommend, im Haus seiner Großeltern lebte, und verknüpft diese Erzählung mit Anekdoten über seine Großeltern; meist erfolgt der Wechsel kapitelweise, häufig mit Rückblenden in die Vergangenheit. Dieser Schreibstil wirkt sehr natürlich, fast wie ein Plauderton: Thema soll die Ausbildung sein – ganz natürlich mischen sich damit die Anekdoten. Oder sind die Großeltern das eigentliche Thema?

Man liest hier über das groß- und bildungsbürgerliche Milieu; die Großeltern wohnen nicht, sie residieren eher in München in einer Villa direkt neben dem Nymphenburger Schloss. „Viele Male sah ich von hier, wie Gäste nicht einfach den Weg auf das Haus zugingen und dann, sobald sie es erreichten, klingelten, sondern vor der Tür, den Finger schon auf dem Klingelknopf, innehielten. Es war offensichtlich, dass diesen erstarrten Besuchern klar wurde, dass sie sich mit dem Eintreten in das großelterliche Haus für die nächsten Stunden deren Welt unterzuordnen hatten.“ S. 17 Das Renommée der Großeltern ist groß: Die Großmutter war Schauspielerin und Schauspiellehrerin, der Großvater Philosoph; der Vater Meyerhoffs war Direktor einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, wodurch der Autor und seine zwei Brüder auf dem Anstaltsgelände heranwuchsen. Überschattet wird der Einstieg ins Erwachsenenleben vom vorangegangenen Unfalltod des mittleren Bruders des Autors – der Text stellt klar, dass er der Trauer daheim durch den Wegzug zu entgehen trachtete. „Ich wollte kein Leben, in dem mein Schmerz rücksichtslos jeden Winkel ausleuchtet, ich wollte jugendlichen Leichtsinn.“ S. 32 Tod und Krankheit bleiben, so ist nun einmal das Leben, trotzdem Begleiter, der Autor kommentiert nüchtern, fängt das Kuriose in der Tragik ein.

Der Text ist für mich angenehm, im Plauderton – es gibt viele Stellen, gerade in den Anekdoten über die Großeltern, über die ich, die ich selbst eng mit meinen aufgewachsen bin, schmunzeln oder lächeln kann, so der etwas, hm, höhertourige Getränkekonsum bis hinunter zum Gurgelmittel (mit Enzianschnaps), das letztlich getrunken zur frühmorgendlichen Start-Beschwingtheit führt, oder die ignorierte Schwerhörigkeit. „Der Gipfel der Absurdität war erreicht, wenn ich mit meinem Großvater telefonierte und meine Großmutter von weit weg etwas rief, was er falsch an mich weitergab. Ich hörte meine Großmutter rufen: ‚Herrmann, bitte frag ihn doch, ob er noch Kerzen hat!‘ Und daraufhin sagte mein Großvater zu mir: ‚Ich soll dir sagen, dass sie noch Schmerzen hat!‘ Ich antwortete: ‚Ja, ich glaube oben im Sekretär.‘ Und mein Großvater nach einer Pause mit leicht besorgter Stimme: ‚Junge, wovon sprichst du?‘ S. 52

Auch die Ausbildung an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule bietet wenig Erholung von Skurrilitäten. „Folgender Reim sollte meine Lippen beweglicher machen und mit Blut füllen: ‚Bald balgen sich die beiden blonden Buben, bald bauen prächtige Burgen sie beim Bach, bald baumeln ihre braun gebrannten Beine vom Blätterbau des Birnenbaums heran.‘ Am Ende der Stunde hatte ich das Gefühl, mein vegetatives Nervensystem für immer zerschossen zu haben.“ S. 93 Dazu kommen Aufgaben wie eine Szene aus Effi Briest als Nilpferd darzustellen oder Spaghetti im kochenden Wasser. Gleichzeitig erfährt der Schauspielschüler einen Mangel an echter Nähe bei permanentem Körper- und Blickkontakt. „Nur bei meinen Großeltern schloss sich allabendlich die Lücke und ihre Vertrautheit und Zugewandtheit, ihr aus Hochprozentigem geknüpftes Netz fingen mich sicher auf.“ S. 111 Das Gefühl des Versagens, der Zerrissenheit hält lange an, bis aus dem Schauspieler auch der Autor Meyerhoff wird, zunächst für eine Bühnenadaption von Goethes Werther (daher der Titel des Buches).

Ich habe die Lektüre wirklich genossen – mir bleibt nur ein kleines Manko, das ich aber nicht dem Autor anlasten könnte: Das Buch steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2016, dem Preis, mit dem der „Roman des Jahres“ ausgezeichnet wird. Für die Nominierung ist mir das Werk einfach „zu viel“ Autobiographie und „zu wenig“ Roman. Das tut aber dem Lesevergnügen keinen Abbruch – dazu plaudert Meyerhoff schlicht zu angenehm selbst über die traurigeren Aspekte seines Lebens mit einem leicht selbstironischen Blick auf sich selbst und schlägt damit letztlich eine Brücke zu MEINER geliebten Großmutter: wenn die hinfiel und selbst nicht wieder aufstehen konnte, fing sie stets furchtbar an zu lachen darüber, wie hilflos das wohl aussehen möge. Nicht die schlechteste Einstellung im Leben.

https://de.wikipedia.org/wiki/IngeBirkmann
https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann
Krings
Folgebuch:
natürlich: Theodor Fontane: „Effi Briest“
Frederik Backman: „Britt-Marie war hier“ (S. 113 bei Meyerhoff „Was, überlegte ich, braucht eigentlich mehr Kraft, mehr Mut: etwas durchzuhalten oder etwas abzubrechen?“)

Veröffentlicht am 21.09.2016

Angekommen im Dazwischen

Am Rand
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„Irgendwann …[hat jeder] den Punkt erreicht, wo jedes Leben dem anderen zu gleichen beginnt, jedes ein ähnlich mickriges wird, aber keines mickrig genug, und jedes sowohl zu lang als auch zu kurz.“ S. ...

„Irgendwann …[hat jeder] den Punkt erreicht, wo jedes Leben dem anderen zu gleichen beginnt, jedes ein ähnlich mickriges wird, aber keines mickrig genug, und jedes sowohl zu lang als auch zu kurz.“ S. 7 So erzählt es der Ich-Erzähler dem Leser, spricht ihn häufig direkt an „Eigentlich wollte ich, bevor ich die Wohnung verließ, Sarahs Nachtlicht löschen,
wie ich es tagsüber immer tat, aber das habe ich in der Aufregung vergessen. Ich bitte Sie, schalten Sie das Lichtchen für mich ab. Ein kleiner Schiebeschalter an der rechten Seite, Sie werden ihn finden.“ S. 9f Der Mann, der hier mit mir spricht, heißt Gerold Ebner – das erfahren wir erst auf Seite 20, der Name wird selten wiederholt, er scheint nicht wichtig zu sein. Wir beobachten ihn bei einer Bergtour samt ihrer Vorbereitungen, zielgerichtet, geordnet, ohne Hast – fokussiert. Er besteigt den Bocksberg in Österreich, im Vinschgau – und dort, am Rand zum Abgrund, beginnt er, sein Manuskript zu schreiben. Das, was da stattfindet, ist eine Art schriftgewordener Meditation, ein Geständnis, eine Beichte.

Die Sprache ist bildhaft „Ab einer gewissen Höhe frisst das Weiß des Himmels das Grün von den Berghängen, enden Wiesen und Bäume, nur karge Schotterflächen ziehen sich noch weiter hinauf zu den der Sonne entgegengestreckten Gesteinsglatzen.“ S. 20 Die Geschichte zieht mich in ihren Sog, lässt mich hinterher atemlos zurück – begeistert von der Erzählweise, aber herausgefordert von der Geschichte Gerold Ebners.

Gerold – der Herrscher mit dem Speer, geboren 1969, Sohn einer ehemaligen Prostituierten, die sich für dieses Kind entschieden hatte, danach fromm im Kloster arbeitet. Sie ist Südtirolerin. Wir lesen über die ausgrenzende Siedlung der Landsleute, die es seit dem Pakt zwischen Hitler und Mussolini vielfach in Österreich gibt. Es gibt Bandenkriege unter den Jungs, wilde Mutproben, Freundschaften. Die Jobs, die es für die Jungs von dort gibt, sind selten gesund für sie. Wir lesen von Gerolds Tätigkeit als Schriftsteller, seinem Versagen dabei, den Aushilfsjobs. Wir lesen über den Tod.

Autor Hans Platzgumer platziert so einige Besonderheiten in diesem Roman, wie ein hineingemogeltes alter ego „Hansi Platzgummer“ (laut Wikipedia ist „Johann Platzgummer“ der Geburtsname des Autors), Musiker, in New York als Musiker tätig gewesen (beides wie der Autor). Ein bisschen „meta“, aber noch originell. Wir lesen von Schrödingers Katze und weitere Erörterungen über Physik, alle Kapitel beginnen mit „Hitotsu“, erstens, wie die Grundsätze des häufig bemühten Karate, bei denen alles gleich wichtig ist – aber da sind wir noch nicht im Ansatz am Kern der Geschichte.

Gerold Ebner sitzt auf dem Berg und legt eine Beichte ab. Er stellt zur Diskussion, wann es gerechtfertigt ist, einen anderen Menschen zu töten. Dabei ist Sterbehilfe, eingefordert vom Jugendfreund, nur eines – Ebners Darstellungen des Erstickens eines Menschen erinnern mich irgendwie an den Hitchcock-Film „Torn Curtain“ in ihrer Dauer und Vehemenz (auch wenn dort erwürgt wird). Der Leser bekommt Fragen aufgeworfen zu (unterstütztem) Selbstmord, zu Liebe, Ausbrechen aus Gewohnheiten, Familie. Ein Roman, den man erst einmal sacken lassen muss, wenn klar wird, welche verschiedenen Kulminationspunkte die Andeutungen im Verlauf der Geschichte finden.