Profilbild von StefanieFreigericht

StefanieFreigericht

Lesejury Star
offline

StefanieFreigericht ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit StefanieFreigericht über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.03.2020

Ein einfach schönes All-Age-Buch über lebenslange Freundschaft

Bell und Harry
0

Die Teesdales sind Farmer in einer Gegend, die ihren Namen von Jahren des Bergbaus unter Tage herleitet, von den Minen, die die Region zerlöchert haben wie einen Schweizer Käse: dem „Hohlen Land“, so auch ...

Die Teesdales sind Farmer in einer Gegend, die ihren Namen von Jahren des Bergbaus unter Tage herleitet, von den Minen, die die Region zerlöchert haben wie einen Schweizer Käse: dem „Hohlen Land“, so auch der Originaltitel, „The Hollow Land“, dieses ursprünglich aus dem Jahre 1981 stammenden Buches. Grandad Hewitson vermietet sein altes Haus, „Light Trees“, an Familie Bateman aus dem fernen London, „Freizeitfarmer“, die nicht viel vom Landleben verstehen und deren Lebensstil umgekehrt auch nicht verstanden wird. Wie kann jemand permanent alle Radios am Laufen haben, sich dann aber beschweren darüber, dass nun einmal das Heu dringend vor dem Regen gemacht werden muss?

Fast kommt es darüber zum Zerwürfnis und der Abreise der Batemans, doch die beiden jüngsten Söhne beider Familien, der 8jährige Bell und der jüngere Harry, greifen zu einer List. Die Geschichte begleitet die Jungs beim Heranwachsen in ihren Familien, erzählt von ihren Streichen und den skurrilen Dorfbewohnern. So gelingt es den Batemans nicht, den Schornsteinfeger und Fischer Kendal höflich hinauszukomplimentieren: „Sie wollen doch sicher nach Hause zu ihrer Frau?“ „Ach nein, sie kennt mich ja.“

Irgendwann sind Bell und Harry erwachsen und immer noch befreundet und weiter kommt Harry in den Ferien nach „Light Trees“. Doch die Idylle ist bedroht.

Das kleine feine Buch hat einen Preis gewonnen, als es erschienen war, den „Whitbread Children's Novel prize“, und es ließe sich sicherlich auch von Kindern wunderbar lesen, ist aber vor allem ein herrliches All-Age-Buch. Die hübschen Wiederholungen, wie brav Harry ist beispielsweise, kennt jedes Kind, aber sie lassen auch jeden Erwachsenen schmunzeln. Die besonderen Nachbarn haben mich in ihren Bann gezogen; wunderbar, wie eine untergegangene Welt vor meinem geistigen Auge entstand. Die Erzählung endet 1999, also achtzehn Jahre nach ihrem Erscheinen, in die Zukunft gedacht. Hier liegt vielleicht ihr einziges Manko, in einer imaginierten Zukunft, die so nicht kam, und die dadurch ein wenig befremdete.

Ungeachtet dessen: einfach schön. 5 Sterne.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.03.2020

Unbequem. Erhellend. Mir "fehlen" Erfahrungen des Rassismus

Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche
0

O: Why I’m No Longer Talking To White People About Race
Ich bin eine weiße Frau. Ich habe noch nie Diskriminierung aufgrund meiner Hautfarbe erfahren, auch nicht von Personen mit einer anderen Hautfarbe. ...

O: Why I’m No Longer Talking To White People About Race
Ich bin eine weiße Frau. Ich habe noch nie Diskriminierung aufgrund meiner Hautfarbe erfahren, auch nicht von Personen mit einer anderen Hautfarbe. Vor der Lektüre dieses Buches habe ich darüber nie nachgedacht, es war für mich „normal“. Mit anderen Worten: ich hatte mein Weiß-Sein zur Norm erklärt. Reni Eddo-Lodge erläutert diese Haltung als Bestandteil von „White Privilege, als definiert durch die Abwesenheit der negativen Folgen von Rassismus. Ich hatte vorher zwar natürlich die Einstellung, dass Rassismus schlimm und verachtenswert sei – aber irgendwie nicht mein Problem, außer, wenn ich direkt Zeuge offensichtlicher Handlungen oder Aussagen bin. Dieses Buch hat mich sehr zum Nachdenken herausgefordert.

In sieben Kapiteln, dazu Vor- und Nachwort, erklärt die Autorin die wichtigsten Grundlagen, beginnend mit einem Kapitel über Geschichte. Es ist die britische Geschichte, hier hätte ich mir Ergänzungen zu Deutschland gewünscht – hier gab es keinen Commonwealth, keine derart weitreichende Beteiligung an der Sklaverei (ich suche seither manisch nach einer TV-Dokumentation darüber, wie sehr Großbritannien an der Sklaverei verdiente, die ich vor 1-2 Jahren sah; Tipps willkommen). Die Mechanismen sind dennoch übertragbar, zum Beispiel die genannten Untersuchungen über Bewerbungen, bei denen bei gleicher Qualifikation ein britisch, „weiß klingender“, Name den Job verspricht, jedoch ein „schwarzer Name“ eine Absage; ähnliche Studien gab es hier in Bezug auf türkische Namen. Da reden dann allerdings wir nicht über die Hautfarbe.

Einleuchtend, erhellend, entlarvend fand ich die Kapitel über „White Privilege“, über den strukturellen Rassismus, der dafür sorgt, dass von Beginn an für Weiße leichter ist, Erfolg zu haben, gute Jobs zu bekommen, auf die richtigen Schulen und Universitäten zu gelangen. Wieder, wie bei meiner Einschränkung für Deutschland zu türkischen Namen, fallen mir hier entsprechende Studien ein, in denen auch die Kinder von Arbeitern signifikant benachteiligt wurden. Ungefähr zwischen dieser Stelle (das Thema mit der Hautfarbe und der sozialen Klasse wird später von der Autorin selbst noch aufgegriffen) und dem Feminismusthema konnte ich der Autorin nicht mehr bei allen Argumentationen folgen.

Die Autorin definiert sich sowohl über ihre Haltung und ihren Kampf gegen Rassismus als auch als Feministin. Wenn nun Männer Vorteile haben gegenüber Frauen und Weiße gegenüber allen anderen, ergibt sich, dass schwarze Frauen in der schlechtesten Position sind. Werden dann noch weitere Faktoren hinzugefügt wie alleinerziehend, schlecht ausgebildet usw., verstärkt sich das Bild und, ja, einige der Faktoren bedingen einander (im Sinne von „wer alleinerziehend ist und Schwarz, bekomt eher eine schleche Ausbildung, wer eine schlechte Ausbildung hat, wird eher mehr diskriminiert usw). Ich habe zu Beginn bekannt, nie aufgrund meiner Hautfarbe Diskriminierung erfahren zu haben – bei Sexismus sieht es leider ganz anders aus, von blöden Sprüchen, Anzüglichkeiten, bis zu einer Welle von Entlassungen, die ausschließlich Frauen im „gebärfähigen“ Alter bei einem früheren Arbeitgeber betraf. Letztens habe ich hierzu den Kommentar gelesen, daran werde sich erst wirklich etwas ändern, wenn Männer dafür zu kämpfen beginnen. Ja, hier finden die Aussagen von Eddo-Lodge Eingang in meine Wirklichkeit; es funktioniert nicht, von denen, die von welcher Art der Benachteiligung auch immer betroffenen sind, zu verlangen, daran allein und durch ihre Leistung etwas zu ändern.

An dieser Stelle treffen die Ausführungen auf Analogien im Leben von Frauen, aber auch bespielsweise von Migranten, Behinderten, Alten,… - die Autorin hat es hier geschafft, mich zumindest kurz und teilweise in die Haut anderer zu versetzen, verbaut dann aber gleichzeitig diese Tür, indem sie einen Dreiklang erzeugt aus Frau-farbig-Arbeiterklasse, der die vorrangige Aufmerksamkeit verdiene. Das sie natürlich aus ihrer Sicht schreibt, ist gut und richtig und wichtig, auch ihr Zorn darüber, sich nicht dauernd erklären zu müssen, ist nachvollziehbar, für mich jedoch nicht diese Feminismusdebatte im Thema. Ja, ich kann nur die Benachteiligungen als Frau persönlich nachvollziehen, nicht die wegen der Hautfarbe – anscheinend darf ich aber mein eigenes Thema nicht erwähnen und muss angesichts der größeren Benachteiligung gar verstummen. Hm. Schwierig finde auch ich eine Verknüpfung mit Migration, für mich hat eine Begrenzung oder Öffnung der Zuwanderung an sich nichts mit Rassismus zu tun, es wandern ja auch bei weitem nicht nur Menschen einer bestimmten Hautfarbe ein, erst der Umgang mit Menschen an sich, Migrant oder nicht, legt unabhängig von anderen Themen fest, ob das Rassismus ist.

Ich bin weiß, Deutsche mit deutschen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern und lebe als Zugezogene seit über zehn Jahren in einem kleinen deutschen Ort; man kann es mir anhören, dass ich hier nicht geboren wurde. Seit über zehn Jahren höre ich Fragen, woher ich den „eigentlich“ komme, warum ich hier „gelandet“ bin, womit ich so meinen Lebensunterhalt verdiene. Wenn diese Fragen auch Personen mit einer anderen Hautfarbe gestellt werden, mag ich allein hierin noch keinen Rassismus sehen, vielmehr das Bedürfnis der Menschen nach Zugehörigkeit und Zuordnung. Wer nachfragt, spricht mit den Menschen. Soll heißen: nicht alles ist Rassismus.

Ungeachtet dessen hat mich das Buch überzeugt damit, mir die Augen geöffnet zu haben für Dinge, die mir selbstverständlich erschienen aus weißer Perspektive. So wie ich als Kind sein wollte wie „George“ bei den Fünf Freunden, weil Mädchenfiguren in Büchern zu brav und langweilig waren, nie bestimmen durften, so wollte Reni Eddo-Lodge als Vierjährige weiß sein, so konnten sich viel zu viele die Hermine bei Harry Potter nur als weißes Mädchen vorstellen. Diese Angst wird die Angst vor dem „schwarzen Planeten“ genannt, die Angst der Weißen, selbst in der Minderheit zu sein. Warum denn, wenn doch alles in Ordnung ist?

„Es heißt, die Homophobie des heterosexuellen Mannes wurzelt in der Angst, dass schwule Männer ihn so behandeln könnten, wie er Frauen behandelt. Es ist der gleiche Mechanismus.“
Da bleibt noch viel Arbeit.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 24.03.2020

die, die ohne Alter ist

Muttertag
0

Vorab: ich mag bestimmte Genres nicht. Bei mir kommt alles nicht gut weg, was nicht mehr in der Realität verortbar ist, Fantasy, S/F. Die Ablehnung begann in früher Kindheit bei Alice im Wunderland und ...

Vorab: ich mag bestimmte Genres nicht. Bei mir kommt alles nicht gut weg, was nicht mehr in der Realität verortbar ist, Fantasy, S/F. Die Ablehnung begann in früher Kindheit bei Alice im Wunderland und Pippi Langstrumpf – ein Mädchen kann Pferde heben, ganz bestimmt (es ist ja soooo viel realistischer, dass die von mir geliebten Fünf Freunde Verbrecher jagen, soll hier auch nur meine Präferenzen erklären). Es gibt wenige Ausnahmen, „alternative History“ geht gelegentlich, Dystopien ganz selten. Etwa an der Schwelle trennte ich mich innerlich vom Buch – es wäre vielleicht am ehesten in der Sparte Gothic einzusortieren, neben Frankenstein. Dazu gibt es Anklänge von Verschwörungsthriller, lange Zeit hielt ich es aber nur für „irgendwas mit Spannung“. Andrew Michael Hurley: Loney, das ging so in der Richtung.


Die Hauptfigur scheint mir der sechzehnjährige Philip Steinert zu sein, der wieder einmal mit seiner Mutter Susanne, frisch verheiratete, noch frischer getrennte Rheinberger umziehen „durfte“, zu ihrem Onkel, wie sie immer umziehen, wenn die Vorstellungen der Mutter an der Realität mit neuen Männern, neuen Wohnorten und neuen Jobs zerbrachen. Einziger Lichtblick ist die neue Mitschülerin Caro, doch was hilft das, wenn man plötzlich auf der Flucht ist vor etwas, was man gar nicht so richtig einordnen kann?

Ich habe selten so viel mitgeschrieben, um den Überblick nicht zu verlieren bei den vielen Handlungssträngen. Bemerkenswert, wie der Autor das zusammenführte – wenn ich in andere Rezensionen blicke, war das einigen Lesern zu viel, für mich jedoch glatte 5 Sterne wert, wenn auch zeitaufwendig. Da gibt es jemanden, der den Onkel beobachtet – oder den Neffen? Oder beide? Und ist es wirklich nur eine Gruppe von Beobachtern?
Dazu gibt es den wichtigen Handlungsstrang um das Mädchen, bei dem vor allem irritiert, wann und wo er angelegt ist, wer dort gut und wer böse ist. Bei Morten hatte ich den Handlungsstrang früh als beendet angesehen – siehe da, man sollte immer Geduld haben. Und das war es noch längst nicht.

Das ist alles auch deswegen nicht so einfach, weil etliche Personen unter mehreren Bezeichnungen laufen, Dezember, der Glatzköpfige, der Biber, einige dabei wohl auch mit doppeltem Spiel. Letztlich läuft alles hinein in eine Sektenwelt, ich sollte eher sagen, in etwas okkultes, mystisches, im Übernatürlichen. Mehr kann man nicht erzählen, ohne zu spoilern, es geht um eine alte Geschichte, um Inkompetenz, um Vertuschung, um alte Seilschaften, alte Pläne, die rücksichtslos umgesetzt werden sollen.

Auf dem Weg dahin wurde es mir im letzten Drittel etwas zu langgezogen, dann gefiel mir alles geballt auf mich hereindrängende Übersinnliche ganz und gar nicht. Gut geschrieben aber war es und in sich stimmig, inklusive einem Hammer von Ende, wenn man sich denn mal auf diese Welt (wenn auch widerwillig) einlässt.

3 1/2 Sterne.

  • Einzelne Kategorien
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.03.2020

Reise in die Vergangenheit

Böse Seelen
0

Police Chief Kate Burkholder bekommt mitten im tiefsten Winter eine Anfrage, bei Ermittlungen in der Nähe von New York behilflich zu sein. Eine Amisch-Gemeinde, die noch abgeschlossener lebt als gewöhnlich, ...

Police Chief Kate Burkholder bekommt mitten im tiefsten Winter eine Anfrage, bei Ermittlungen in der Nähe von New York behilflich zu sein. Eine Amisch-Gemeinde, die noch abgeschlossener lebt als gewöhnlich, steht im Fokus des Behördeninteresses. Nach anonymen Anrufen mit verschiedenen Hinweisen zu Vorgängen innerhalb der Gemeinde des charismatischen Bischofs Schrock wurde kürzlich ein junges Mädchen tot aufgefunden, erfroren. An sich noch kein Anlass für Ermittlungen, doch die 15jährige stand unter Einfluss von Schmerzmitteln und muss kürzlich schwanger gewesen sein. Die Polizeichefin Kate hat selbst bis zu ihrem 18. Lebensjahr als Amische gelebt und soll nun undercover ermitteln.

Ich lese diese Reihe sehr sporadisch – begonnen habe ich mit den Bänden 4 und 5, dann pausiert; diesen 8. Band habe ich wieder in kürzester Zeit verschlungen. Die Pause hat gut getan: während parallel die Leser, die innerhalb der Insider-Voting-Challenge https://www.lovelybooks.de/autor/LovelyBooks/LovelyBooks-Spezial-1287744138-w/leserunde/1508005900 die ganze Reihe lesen, wohl teils gewisse Ermüdungserscheinungen haben, hat mir dieser Band sehr gut gefallen. Es gibt nur eine kurze Zusammenfassung zu Kates Hintergrund (die genauen Gründe und Umstände ihres Austritts bei den Amischen werden ausgespart), ihre Beziehung zu Tomasetti ist nicht so dominant thematisiert. Es bleibt meine Kritik der vorigen Bücher: hier geht es um Verbrechen an Amischen mit (leider bislang ausschließlich) Tätern innerhalb dieser Gemeinde. Nun ist man natürlich nicht vor allem Menschlichen gefeit, nur weil man es gerne möchte, aber das erscheint mir dennoch etwas stark überzogen, vor allem die durchgehende soziopathische Ausrichtung der Täter. Durch die Pause zwischen den Lektüren störte mich das aber im Vergleich zu Band 5 herzlich wenig. Auch, dass Kate prinzipiell reichlich etwas abbekommt, scheint Handlungsbestandteil zu sein – immerhin war ihr Verhalten hier wesentlich sicherheitsbewusster. Teils wird etwas dick aufgetragen, so auf S. 59, wenn das Gefühl, die Kollegen nie wiederzusehen, beschrieben wird.

Was für mich als Schwäche bleibt aus der Sicht des Endes: mir bleibt unklar, was die beiden jungen Schneemobil-Fans antrieb, warum sie anscheinend unbehelligt blieben von Eltern, Verwandten? Was passierte eigentlich genau am Ende des Prologs? Warum riskierte(n) der/die Täter, als Opfer über Fremde hinaus zu gehen? Da es mich während der Lektüre jedoch nicht störte und mir diese Punkte erst nach einem Tag einfielen: 4 Sterne.

Nach meiner Meinung: Keine Serie zum „Verschlingen nacheinander“, eher zum sporadischen Lesen, sonst nerven die Wiederholungen/Häufungen. Einstieg an beliebiger Stelle war mir möglich.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.03.2020

Etwas aufgesetzt wirkend, auch sprachlich. Und: was ist der Sinn?

Zwei Brüder
0

„Hier in Frankreich waren wir ein Scheißdreck. Weniger als nichts in einer Gesellschaft, die Gleichheit, Toleranz und Respekt lehrt.“
Der „kleine Bruder“ und der „große Bruder“, wie sie fast die ganze ...

„Hier in Frankreich waren wir ein Scheißdreck. Weniger als nichts in einer Gesellschaft, die Gleichheit, Toleranz und Respekt lehrt.“
Der „kleine Bruder“ und der „große Bruder“, wie sie fast die ganze Zeit über heißen werden, sind die knapp unter 30jährigen Söhne eines Einwanderers aus Syrien, „richtige“ Araber, wie der Vater voller Herablassung über die aus dem Mahgreb sagt. In der alten Heimat, im Bled, hatte er ein Diplom, aber ohne korrektes Französisch konnte er die Familie nur als Taxifahrer ernähren. „…ich schaffe es aber nicht, das zu erklären. Das Leben ist schrecklich, wenn man nicht genug Wörter hat. Die anderen müssen dir zwei Mal so lange zuhören, bis sie dich verstehen. Und teurer ist es auch. Der Therapeut und der Anwalt berechnen dir doppelt so viel, weil du dich mit den Füßen erklärst.“

Der Vater fährt Taxi, der ältere Sohn arbeitet für Uber, was permanente Querelen verursacht. Es fehlt die Mutter, eine Bretonin und somit „echte“ Französin – sie starb früh. Während der Ältere sich ein selbständiges Leben aufbaut mit gelegentlichem Drogenkonsum, ist der Jüngere Krankenpfleger, Idealist, unzufrieden angesichts seiner Träume und Erwartungen. „Um aufrecht zu stehen, muss man ein starkes Rückgrat haben. Und uns haben ein paar Wirbel gefehlt. Jeder von uns hat das auf seine Art ausgeglichen. Ich mit Autos, Kiffe, Shit, Gras und der Kleine mit dem Kopf in den Wolken und der Hand auf dem Koran.“

Doch wie weit geht die Begeisterung des kleinen Bruders, als er sich für eine islamische Hilfsorganisation verpflichtet, um nach Syrien zu gehen? Und vor allem, falls er zurückgekehrt sein sollte, zu welchem Zweck?

Autor Mahir Guven schildert seine Erzählung im Wechsel aus der Sicht der beiden Brüder als Erzähler, ungeschönt, im Slang. Das klingt ein wenig wie Kaya Yanar mit „Was guckst du“ + Flüche. Ehrlich gesagt: es wirkt irgendwann etwas prätentiös. Wie soll ich das erklären – ein Onkel meinte einmal, er möge keine Filme mit Handlung im Mittelalter, in denen es permanent dunkel sei. Man habe ja damals den Vergleich zu moderner Beleuchtung nicht gehabt und somit die eigene Funzel wohl als hell empfunden. Warum sprechen die Söhne also so, beide Eltern waren gebildet, der Vater hat nur kein korrektes Französisch gelernt? Und: wenn sie denn so sprechen, dann wäre es aus ihrer Sicht eine ganz normale Kommunikation – distanziert sie aber komplett von meiner Sprachwelt.

Die Handlung hielt mich bei der Stange, lässt mich aber mit Fragen zurück. Was will uns der Autor sagen? Wer Moslems keine Chance lässt, braucht sich über Radikalisierung nicht zu wundern? Oder soll es uns unsere Vorurteile zur Islamisierung vor Augen führen? Der zweimalige 360-Grad-Hakenschlag jedenfalls lässt am Ende nur Fragen offen. Interessant, aber ein wenig aufgesetzt wirkend. So wie wenn im Buch ein Kind die Hauptfigur ist und irgendwie gar keine kindgerechten Gedanken und Handlungen hat.

3 Sterne. Ich würde ein zweites Buch des Autors mindestens anlesen

  • Einzelne Kategorien
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere