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Veröffentlicht am 30.12.2017

Ein Wendehals erster Güte

Als die Tauben verschwanden
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ist der Este Edgar Parts, der das Fähnchen stets nach dem Wind hängt - mal ist er ein aufrechter Este, dann arbeitet er den deutschen nationalsozialistischen Besatzern während des 2. Weltkriegs auf übelste ...

ist der Este Edgar Parts, der das Fähnchen stets nach dem Wind hängt - mal ist er ein aufrechter Este, dann arbeitet er den deutschen nationalsozialistischen Besatzern während des 2. Weltkriegs auf übelste Weise zu, nämlich als Aufseher im KZ, um dann schließlich als aufrechter Genosse dem Sowjetregime zu dienen. Ist das denn so einfach möglich? Nein, natürlich nicht und anders als sein deutscher Seelenverwandter Diederich Heßling - Heinrich Manns Untertan - kommt er auch nicht ganz unbeschadet davon, sondern wird wie so viele seiner Landsleute nach Sibirien verschickt. Aber danach fällt er in seinem Vaterland Estland wieder auf die Füße!

Edgar Parts kennt im wahrsten Sinne des Wortes keine Verwandten - selbst seine durchaus verehrte Ziehmutter wird von ihm ausgenutzt, sein Cousin Roland, ein wahrhaft aufrechter Este, der an seiner Überzeugung verzweifelt und seine Frau Juudit, deren zeitweiliges kleines privates Glück sich als überaus vergänglich erweist, sind für ihn nur Mittel zum Zweck. Und leider hat dieser ausgesprochene Unsympath doch immer wieder den richtigen Riecher und leider auch Erfolg mit seinen unlauteren Methoden, die einzig und allein dazu dienen, ihn heil durchkommen und gut dastehen zu lassen.

Dicht ist die Handlung in diesem klugen und überaus anspruchsvollen Roman, die Autorin Oksanen hat akribisch recherchiert und stellt den Leser vor zahlreiche Fragen. Die Handlung ist sehr akkurat in den jeweiligen zeitlichen Kontext eingebettet, sowohl Figuren als auch Orte, Ereignisse etc. entsprechen dem jeweiligen Zeitgeist, was durchaus mit sich bringt, dass dem Leser vieles fremd ist. Ich betrachte mich eigentlich als nicht ganz unbeleckt, was die Geschichte Estlands betrifft, doch ist die Autorin derart tief in das große Ganze eingetaucht, dass historisch Reales auch in Form von Nebendarstellern und -schauplätzen detailliert eingearbeitet wurde und das betrifft nicht nur die estnische, sondern gleichermaßen die deutsche und sowjetische, ja, man könnte sagen, die europäische Geschichte.

Für mich war dieser Roman außerordentlich bereichernd, da ich das angefügte, in seinen Erläuterungen gelegentlich etwas knapp gehaltene Glossar immer wieder durch eigene Internet-Recherchen ergänzt habe - somit ist mein Bild von den Ereignissen in Nordeuropa während des zweiten Weltkrieges und in den Folgejahren nun um einiges runder. Wer das Angebot der Autorin annimmt und alle Erzählstränge, alle Andeutungen aufgreift, der wird zwar geraume Zeit mit dem Roman zu tun haben, sich aber keinen Augenblick langweilen.

Auch ein Verzeichnis der Hauptfiguren ist angefügt, das aus meiner Sicht jedoch ausgesprochen unvollständig ist und dadurch zumindest bei mir für einige Verwirrung gesorgt hat.

Zuletzt ein Wort zur Sprache - man könnte meinen, dies sei ein rein historischer Roman, doch ist es auch ein poetisches Werk von hohem literarischen Anspruch, der bis in die Übersetzung hineinreicht. Ein Buch, das aufgrund seiner sehr speziellen Thematik sicher nicht für jeden von Interesse ist, das aber denjenigen, die zu den inhaltlichen Wendungen einen Draht haben, sicher sehr viel bringen wird.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Eine haarige Sache

Die Sache mit Norma
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ist es, die Sofi Oksanen diesmal erzählt: das Schicksal Normas, die, gerade erst 30jährig, ihre Mutter Anita durch Freitod verloren hat. Anita arbeitete in einem Haarsalon - einem sehr modernen, der sich ...

ist es, die Sofi Oksanen diesmal erzählt: das Schicksal Normas, die, gerade erst 30jährig, ihre Mutter Anita durch Freitod verloren hat. Anita arbeitete in einem Haarsalon - einem sehr modernen, der sich voll und ganz Echthaar-Extentions verschrieben hat. Wobei ihre Tochter definitiv keine nötig hat: sie hat mehr Haare, als sie gebrauchen kann.

Und die machen ihr nicht nur Freude, sondern bestimmen ihr Leben: nämlich als Indikatoren für Ereignisse, gewissermaßen auch als Droge - und als noch so einiges, aber das offenzulegen, würde bedeuten, Ihnen jetzt schon zu viel vom Geschehen zu verraten!

Ein bisschen was von einem Krimi hat diese Geschichte, die Menschen zusammenbringt, die seit Jahrzehnten miteinander verbunden sind, teilweise, ohne es zu wissen. Norma will auf jeden Fall herausfinden, was ihre Mutter dazu bringen konnte, sich auf die Bahngleise zu stürzen. Aus ihrer Sicht kann es dafür nur einen einzigen Grund geben: nämlich sie, ihre Tochter zu schützen - aber warum, um alles in der Welt? Oder war es Mord? Und wer der Schuldige?

Um dies herauszufinden, begibt sich Norma in den Haarsalon, der von Marion geführt wird, einer Tochter von Anitas Jugendfreundin, die seit Jahren in einer Nervenklinik weilt. Auch deren Sohn sowie Exmann mit zweiter Ehefrau hängen mit drin, also eine Sache unter Freunden? Sind sie Täter oder Opfer?

So plakativ bleibt die Geschichte nicht - so leicht macht die Autorin es uns nicht, hat sie es ja nie gemacht, zumal in dem Buch auch Gewesene auftreten, eine vor allem, Anitas Großmutter Eva, die also Normas Urgroßmutter ist und ihre große Zeit in den 1920ern hatte. Was sie dort zu suchen hat? Es hat alles seinen Sinn, seinen Hintergrund, seine Rechtfertigung: trotz allem Extremen, Überraschenden schwingt bei Oksanen auch immer etwas Rationales mit.

Wobei es ein wenig dauert, bis man darauf kommt: Sofi Oksanen schreibt ungewöhnliche Bücher: das ist mir nach der Lektüre ihres gesamten bisher in deutscher Übersetzung erhältlichen Oeuvres völlig klar, aber "Die Sache mit Norma" sprengt alles bisher Dagewesene - und zwar gewaltig.

Starke, eigenartige und eigenwillige Figuren sind es, die hier agieren, größtenteils Protagonisten einer modernen Welt, die jedoch allesamt etwas Urtümliches , ja Sagenhaftes in sich tragen. Und die den Machenschaften, Problemen, Fragestellungen der Gegenwart, die hier angesprochen werden, einen Hintergrund verleihen.

Anwandlungen ins Märchenhafte hat es bei Oksanen immer wieder mal gegeben, auch wenn sie tief in ihrem Herzen immer Realistin bleibt, eine Autorin nämlich, die das wirklich Wichtige, die großen Fragen des menschlichen Daseins thematisiert und das tut sie auch in diesem Buch. Extrem und eigenwillig wie ihre Figuren ist auch dieser Roman der Autorin, man könnte ihn auch - ohne zu übertreiben - als wahnwitzig bezeichnen. Ganz sicher nicht ein Buch für jedermann, es wird bestimmt polarisieren. Aber wer bisher einen Gewinn aus den Romanen Oksanens gezogen hat, der wird das möglicherweise auch diesmal tun - außer wenn es ihm prioritär um die historische Einbettung gegangen ist. Dennoch - einen Versuch ist es allemal wert!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Oberland = obercool

Oberland
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Teufel, diese Frau - also Tanja Weber - kann schreiben, gar keine Frage! Stimmungen, besonders die eher düsteren kann sie transportieren wie keine andere in der großen weiten deutschen Krimilandschaft!

Der ...

Teufel, diese Frau - also Tanja Weber - kann schreiben, gar keine Frage! Stimmungen, besonders die eher düsteren kann sie transportieren wie keine andere in der großen weiten deutschen Krimilandschaft!

Der Untertitel allerdings ist ein wenig irreführend, denn Postbote Johannes Stifter, frisch aus dem Brandenburgischen ins Bayerische übergewechselt, ermittelt nicht gerade - vielmehr gerät er in Situation, die überaus merkwürdig sind und lässt dies auch an der ein oder anderen Stelle entsprechend fallen. Vor allem das Haus von Gudrun von Rechlin und ihrer Tochter Annette gibt Anlass zu entsprechenden Bemerkungen - verhalten sich doch beide Damen überaus merkwürdig. Außerdem gehen sehr eigentümliche Leute ein - und nur teilweise wieder aus.

Tanja Weber schreibt eindrucksvoll, eher düster, auch wenn bestimmte Situationen bzw. die Darstellung einiger Charaktere durchaus dazu geeignet ist, eine gewisse Erheiterung im Leser hervorzurufen.

Glatte fünf Sterne wären es gewesen, wenn das Ende dann doch nicht ein klein wenig enttäuschend ausgefallen wäre.

Aber insgesamt ist Oberland obercool - nicht nur für Freunde von Regionalkrimis, sondern durchaus auch für Fans anspruchsvoller Kriminalliteratur - und ich freue mich schon auf den nächsten Fall mit dem Postboten Stifter!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Frau Jenner und Herr Wiener

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
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für die Leser Klara und Fred, finden über die Sterbebegleitung zueinander: eine ebenso ungewöhnliche wie extreme Form der Bekanntschaft. Sie, ein ehemaliger Deadhead (Fan der Gruppe Grateful Dead), inzwischen ...

für die Leser Klara und Fred, finden über die Sterbebegleitung zueinander: eine ebenso ungewöhnliche wie extreme Form der Bekanntschaft. Sie, ein ehemaliger Deadhead (Fan der Gruppe Grateful Dead), inzwischen sechzig und sterbenskrank, er ein übergewichtiger alleinerziehender Vater Mitte Vierzig, der seinem Leben einen Sinn geben und sich in der Betreuung sterbenskranker Menschen engagieren will. Klara ist sein erster "Fall" und er stellt sich ebenso idealistisch wie tollpatschig an.

Klara Jenner und Fred Wiener gehen miteinander einen schweren Weg und werden dabei von weiteren Akteuren: Freds Sohn Phil, Klaras Nachbarn Herrn Klaffki und Rena und einer ganzen Herde von Sterbebegleitern flankiert, jeder davon mit einer ganz eigenen Bedeutung für die Geschichte - jede davon ebenso ungewöhnlich wie die Geschichte selbst.

Es geht ums Sterben, aber auch ums (Über)Leben, ums Füreinander-da-sein und um das, was von Bedeutung ist. Dass das für jeden etwas anderes ist und nicht unbedingt immer zusammenpasst, ist klar. So kann Klara beispielsweise viel besser mit Phil, Freds Sohn, als mit ihm selbst und "entdeckt" Freds Qualitäten erst in einer absoluten Extremsituation: so wie Fred zunächst erfolglos Schicksal für Klara spielen wollte, tut dies der Nachbar Herr Klaffki, eine Art Hausmeister, nun seinerseits sehr erfolgreich für Klara und Fred.

Ausgesprochen schwere Kost, diese Geschichte, aber das ist sie allein wegen des Themas, denn sie ist von leichter Hand geschrieben und entbehrt auch nicht einer gehörigen Prise von Humor. Und jede Menge Skurrilität und Morbides ist auch dabei, wie es sich für einen Roman, in dem es ums Sterben geht, gehört.

Besonders genossen habe ich die Charaktere, die die Autorin Susann Pásztor scheinbar - wie den ganzen Roman - nur so aus dem Handgelenk geschüttet und mit einer gehörigen Prise von Originalität versehen hat, jeden einzelnen von ihnen. Meine Lieblinge sind neben dem jugendlichen Dichterfürsten Phil Herr Klaffki und einige Figuren aus der Runde der Sterbebegleiter.

Sterbebegleitung und Hospize - ein immer präsenter werdendes Thema, das in diesem Roman ausgesprochen originell verpackt wird. Vielleicht nicht jedermanns Sache, aber meine auf jeden Fall!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Erdbeerschorsch ist wieder da

ErdbeerSchorsch
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der alte Kumpel von HimbeerToni, früher bekannt als PapaPunk.

So ändern sich die Zeiten: Toni ist nun Hausmann und wird von seiner Lebensgefährtin Ada, die seinen Heiratsantrag ohne Angabe von Gründen ...

der alte Kumpel von HimbeerToni, früher bekannt als PapaPunk.

So ändern sich die Zeiten: Toni ist nun Hausmann und wird von seiner Lebensgefährtin Ada, die seinen Heiratsantrag ohne Angabe von Gründen ausschlägt, dominiert und insgesamt nicht gerade gut behandelt. Erdbeerschorsch bzw. Georg erlebte in den vergangenen Jahren Höhen und Tiefen und trifft nun, gerade mal wieder auf Talfahrt befindlich, auf seine alten Kumpels. Ein heiterer Roman, würde man meinen, ich sage jedoch: er beinhaltet ausreichend tragikomische Elemente, um den Leser in großem Stil nachdenklich zu machen. Bewunderswert, mit welcher Leichtigkeit dies dem Autor gelingt, wobei er parallel dem Leser noch die Möglichkeit gibt, sich in Tonis - denn trotz des irreführenden Buchtitels ist die Hauptfigur immer noch der gute HimbeerToni - Welt einzufinden: Die Kapitel sind mit jeweils wunderbar passenden Songtiteln überschrieben, die den geneigten Leser - schwuppdich - zurück in die 80er, teilweise auch noch weiter zurück katapultieren,dies ist vor allem die Welt des Punk in allen seinen Schattierungen.

In mir hat es wundersame Erinnerungen an alte Zeiten geweckt, in denen das musikalische Spektrum des HimbeerToni auch das meinige war - der Leser erfahrt also auch Inspiration in bezug auf musikalische Erlebnisse.

Kleine Abstriche erlitt meine Begeisterung durch die Tonis Träume und Phantasien bspw. nach seinem Unfall - das war mir dann doch ein wenig zu wirr. Auch auf die - mehr als schlüpfrige - Erläuterung, woher der ErdbeerSchorsch denn nun seinen Namen hat, hätte ich ohne Weiteres verzichten können. Aber es ist halt ein Männerbuch mit allem Zipp und Zapp, allerdings eines, in das auch Frauen durchaus die Nase stecken sollten, erhält man doch auch noch Impulse für neue Lebenswelten und Wohnformen!