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Veröffentlicht am 20.12.2017

Demaskierung einer vollkommenen Gesellschaft

Dann schlaf auch du
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anhand einer perfekt scheinenden Familie und ihrem ebenso einwandfreien Kindermädchen. So jedenfalls erscheinen Myriam und Paul mit ihren Kindern Mila und Adam sowie auch Louise, die bei ihnen angestellt ...

anhand einer perfekt scheinenden Familie und ihrem ebenso einwandfreien Kindermädchen. So jedenfalls erscheinen Myriam und Paul mit ihren Kindern Mila und Adam sowie auch Louise, die bei ihnen angestellt wird, ganz zu Beginn.

Ganz zu Beginn? Nein, stopp, das kann nicht sein, steht doch gleich zu Beginn, an erster Stelle, der Mord an den beiden noch kleinen Kindern. Und es kann eigentlich nur Louise gewesen sein. Aber was steckt dahinter?

Das ist das Wesentliche an diesem Roman, die Enthüllung der Wahrheit, die Demaskierung einer als perfekt erscheinenden Welt: Ein junges Paar mit kleinen Kindern schlägt sich herum mit Luxusproblemen. Wo wohl ist die perfekte Nounou, das perfekte Kindermädchen zu finden. Und: Oh, Wunder, sie finden sie mit Louise. Diese hat nicht nur die Kinder, sondern auch den Haushalt schnell im Griff, so schnell, dass das beruflich erfolgreiche Paar selbst im Urlaub nicht auf sie verzichten will.

Aber es gibt ein Dahinter: bei allen Akteuren, vor allem jedoch bei Louise. Und das hat mit ihrer sozialen Situation, ihrer Stellung in der Gesellschaft zu tun. Falsch, eigentlich mit dem gesamten sozialen Gefüge wie es hier im Roman präsentiert wird: Wer weiß was über wen, wen interessiert was, wer sorgt sich um wen? Welche Rechte hat eine Haushaltsangestellte, also eine Dienstbotin in Bezug auf ihr eigenes Leben, ihre Sorgen und Nöte? Wen darf sie mit so etwas belästigen?

Ein Angriff auf das soziale Gefüge in Frankreich, in Europa eigentlich, wenn auch ein leiser. Aber er erfolgt mit voller Kraft, mit einer solchen Wucht wie ihn ein Roman überhaupt bieten kann.

Ein ungewöhnliches Buch mit einem gewaltigen Nachhall - und eines, das mir dauerhaft Bauchschmerzen bereitet, denn allzuviel Hoffnung transportiert es nicht!

Veröffentlicht am 20.12.2017

Frank Lehmann in Berlin

Wiener Straße
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Wir treffen auf Herrn Lehmann - inzwischen eher als Frank unterwegs und die bereits bekannten Berliner Konsorten im Jahr 1980. So richtig chronologisch geht sein Autor Sven Regener nicht mit ihm und den ...

Wir treffen auf Herrn Lehmann - inzwischen eher als Frank unterwegs und die bereits bekannten Berliner Konsorten im Jahr 1980. So richtig chronologisch geht sein Autor Sven Regener nicht mit ihm und den anderen Gesellen um - muss ja auch nicht.

Was mich vielmehr stört: die Luft ist momentan so ziemlich raus bei den Jungs und Mädels in Berlin, die diesmal in eine neue WG ziehen - rausgeschmissen bei Erwin Kächele, um Freundin und Kind (in naher Zukunft zu erwarten) Platz zu machen, hat dieser immerhin genug Verantwortungsbewusstsein, um ein neues Heim parat zu stellen für die 4er-WG bestehend aus Herrn Frank Lehmann, den Extemkünstlern Karl Schmidt und H.R. Ledigt (ich liebe diesen Namen) sowie der nervigen Chrissie, die ich wirklich nicht brauchen kann in diesen Büchern, auch wenn sie quasi meine Altersgenossin ist. Aber hätte ich sie in echt gekannt, ich hätte sie gehasst, so viel ist klar!

Wobei mich das beim Lesen überhaupt nicht stört, ich muss nicht jeden in den Büchern mögen. Aber während ich "Herr Lehmann" überaus unterhaltsam und "Neue Vahr Süd" sogar genial fand, dümpelt es hier gemächlich vor sich hin, vor allem aufgrund der ganzen Wiederholungen in Bezug auf Jobsuche und -verteilung in Erwins Kneipe. Ich weiß selbst noch allzugut, wie realistisch das damals war - Jobs waren wie auch "richtige" Stellen äußerst dünn gesät, aber dennoch: diese ständige Thematisierung nervt ziemlich.

Auch wenn ich Herrn Lehmann und Konsorten mag und sie niemals richtig schlecht beurteilen werde, muss ich diesmal ein paar Abstriche machen. Aber soweit, die Lektüre nicht zu empfehlen, gehe ich nicht - niemals! Herr Lehmann ist immer einen Blick (oder auch mehrere) wert.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Die tragischen Wege einer deutschen Familie

Die Affekte
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Eine deutsche Familie in Südamerika: in den 1950ern gab es viele solche, entweder hatten sie sich bereits in den 1930ern abgesetzt oder aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg - klare Hinweise auf die jeweilige ...

Eine deutsche Familie in Südamerika: in den 1950ern gab es viele solche, entweder hatten sie sich bereits in den 1930ern abgesetzt oder aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg - klare Hinweise auf die jeweilige Abstammung bzw. Gesinnung. Familie Ertl gehört zur zweiten Kategorie: Vater Hans war ein erfolgreicher, für seine Zeit extrem innovativer Kameramann, der im Dritten Reich unglaubliche Erfolge feierte, bspw. im Olympia-Film von Leni Riefenstahl. Auch wenn er selbst nicht sehr politisch dachte, wirkten diese Erfolge natürlich nach und er fand keinen Platz im Nachkriegsdeutschland. Also Bolivien - mit der ganzen Familie.

Jahrzehnte später entwickelte sich seine Tochter Monika zu einer linksradikalen Guerillakämpferin, die ein tragisches Ende nahm.

Es sind Wege einer deutschen Familie, die hier geschildert werden, mehrere, weil diese Familie auseinanderdriftet, keinen Zusammenhalt mehr hat und unterschiedliche Lebensrichtungen einschlägt. Gewiss, Vater Hans und die älteste Tochter Monika sind sicher die hauptsächlichen Protagonisten, doch dieser kurze, dennoch extrem gehaltvolle und eindringliche Roman lebt vor allem davon, dass unterschiedliche Sichtweisen geschildert werden, so auch die der jüngeren Töchter Heidi und Trixi. Und diese betreffen nicht nur Hans und Monika, sondern auch die Wahrnehmung der anderen Familienmitglieder und geben Einblick in das Gefüge.

Hasbún hat sich einiges an dichterischer Freiheit bewahrt, wozu er ja auch jedes Recht hat - die Rolle von dem in Bolivien als Klaus Altmann lebenden Klaus Barbie bei Monika Ertls Tod bleibt bspw. völlig außen vor.

Meiner Ansicht nach ist dieser Roman überhaupt nichts für Leser, die nicht an Geschichte interessiert sind und nicht in den Hintergrund des Romans eintauchen wollen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, was sie von diesem Roman haben sollten - in solchen Fällen sind und bleiben diese Schilderungen böhmische bzw. bolivianische Dörfer für den Leser.

Schwere Kost also? Eigentlich nicht, finde ich, denn der junge Autor schreibt leichtfüßig und wortgewandt, es macht Spaß, ihm zu folgen, auch wenn die Materie an sich natürlich keine einfache ist.

Ein kleines Buch, das großen Gewinn für seine Leser bringen kann, aber nicht muss. Definitiv kein Buch für jedermann. Ich empfehle es von Herzen weiter, allerdings mit den erwähnten Einschränkungen.

Veröffentlicht am 20.12.2017

Der Mensch hinter der Tat

Ich schreibe Ihnen im Dunkeln
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Der Mensch hinter der wahren Tat, dem Mord am ehemaligen Verlobten: das ist Pauline Dubuisson. Ein Mord im Affekt war es, einer, der von einer schon vorher geschundenen und mißhandelten Frau begangen wurde, ...

Der Mensch hinter der wahren Tat, dem Mord am ehemaligen Verlobten: das ist Pauline Dubuisson. Ein Mord im Affekt war es, einer, der von einer schon vorher geschundenen und mißhandelten Frau begangen wurde, einer, der nach dem Ende der deutschen Besetzung Frankreichs, also dem Ende von Vichy-Frankreich, die Haare geschoren wurden. Was das heißt, weiß jeder, der sich zumindest ein wenig mit dem historischen Hintergrund, den Zusammenhängen, beschäftigt hat. Nichts Gutes jedenfalls, ganz und gar nicht.

Der Autor Jean-Luc Seigle gibt Pauline Dubuisson eine Stimme: sie ist die Erzählerin in diesem Buch, sie schildert ihre Sicht der Dinge. Selbstverständlich eine fiktive Sicht: Pauline hat bereits Anfang der 1960er Jahre das Zeitliche gesegnet, einer der vielen Selbstmordversuche war irgendwann erfolgreich.

Ein trauriges, ein ungerechtes Ende. Das arbeitet Jean-Luc Seigle ganz klar heraus und noch mehr: auf eine gewisse Art und Weise gibt er Pauline Dubuisson ihre Würde wieder. Es ist keine Rehabilitation, die hier stattfindet, das liegt nicht in der Absicht des Autors, denn er verurteilt Pauline Dubuisson gar nicht erst. Er zeigt sie als Menschen, dem tiefste Ungerechtigkeit widerfahren ist, schon früh - ja, und dann ergab eines das andere.

Dabei bleibt er - da er ja Pauline sprechen lässt, gewissermaßen außen vor, er lässt nicht andere urteilen. Im Gegenteil, er erklärt sich mit Pauline in der Hinsicht solidarisch, dass er sie berichten lässt, sie ihre Geschichte erzählen lässt. Eine Geschichte, die schmerzhaft ist für den Leser, so war es jedenfalls bei mir. Denn es ist die Geschichte eines unglücklichen Menschen, die hier geschildert wird, ein Leben, das nicht glücklich enden kann.

Jean-Luc Seigle schreibt sich einen Wolf, könnte man sagen: kraftvoll und stimmgewaltig auf eine stille Art und Weise ist das Buch, das ich dennoch nicht gern gelesen habe. Die Gründe dafür können sie oben lesen. Selbstverständlich empfehle ich es dennoch aus ganzem Herzen. Wenn auch nicht jedem: wenn sie sich auf diese Lektüre einlassen, benötigen Sie richtig, richtig viel Kraft. Aber dies ist ein Wagnis, das sich lohnen könnte!
Autor: Jean-Luc Seigle

Veröffentlicht am 20.12.2017

Island-Krimi mit allem Zipp und Zapp

Kalter Trost
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Wer sich mal einen richtig saftigen isländischen Krimi mit allem Zipp und Zapp gönnen will, der sollte es mit "Kalter Trost" von Quentin Bates probieren: Zipp und Zapp bedeutet in diesem Fall: Spannung, ...

Wer sich mal einen richtig saftigen isländischen Krimi mit allem Zipp und Zapp gönnen will, der sollte es mit "Kalter Trost" von Quentin Bates probieren: Zipp und Zapp bedeutet in diesem Fall: Spannung, Originalität, eine individuelle und vor allem sehr sympathische Ermittlerin, nämlich die Kommissarin Gunhildur, genannt Gunna, die eingebettet ist in ein ebenfalls sympathisches Umfeld. Aber was vor allem hervorzuheben ist: obwohl dies hier ein richtiger Krimi mit Mord und Totschlag ist und jede Menge kriminelle Energie freigesetzt wird, kommt der Humor nicht zu kurz und zwar durchgehend.

Gunna ist gerade aus einer Kleinstadt nach Reykjavik versetzt worden, als eine ehemals bekannte Schlagersängerin ermordet wird und obendrein ein stadtbekannter Häftling, der einen Mord zu büßen hat, aus dem Gefängnis ausbricht. Die Witwe und alleinerziehende Mutter stürzt sich in die Arbeit und hat nicht nur mit widerspenstigen Zeugen und Verdächtigen, sondern zum Teil auch mit problematischen Kollegen zu kämpfen.

Ein wenig hat mich die Masse der Charaktere und natürlich der dazugehörigen isländischen Namen überwältigt und irritiert und ich hätte mir ein Personenverzeichnis gewünscht, aber das war wirklich der einzige Kritikpunkt und hat meiner Begeisterung keinen Abbruch getan.

Der Autor ist Brite mit langjähriger "isländischer Vergangenheit" - er kennt seine zweite Heimat wie seine Westentasche und das spürt der Leser. Und mehr noch, auch die Hauptperson Gunnhildur zeichnet Bates sowohl souverän als auch einfühlsam. Kurzum: wüsste man es nicht besser, man würde weder merken, dass Quentin Bates kein Isländer, noch dass er keine Frau ist, so sehr ist er in seinen Themen zu Hause.

Ein Gewinn nicht nur für die skandinavische, sondern für die gesamte europäische Krimiszene - mindestens! Allen Krimifreunden, die nicht (nur) skandinavischen Schwermut, sondern (auch) nordeuropäische Leichtigkeit schätzen, wärmstens empfohlen!