Frank Goldammer, Autor aus Dresden, greift mit diesem Roman ein Thema auf, das nach wie vor durch die Gazetten geistert: staatlich sanktionierter Kindesraub durch die Behörden der DDR. Diese, den leiblichen Eltern entzogenen Kinder, werden in Heimen oder regimetreuen Familien zu „ordentlichen“ Bürgern erzogen. Solche und ähnliche Geschichten sind aus Nazi-Deutschland belegt.
Doch zurück zum vorliegenden Buch, das die Leser durch mehrere Handlungsstränge und Zeitebenen führt:
Ricarda Raspe unverheiratete Tochter eines angesehen Gynäkologen, bringt 1973 in der Dresdner Universitätsklinik ihr Kind zur Welt. Der Vater ist zwar bei der Entbindung dabei, kann aber das Neugeborene nicht retten. Den damaligen Gepflogenheiten entsprechend wird das tote Baby sofort entfernt. Die ohnehin geschwächten Mütter dürfen sich von ihren toten Kindern nicht verabschieden. Das sorgt natürlich für Verunsicherung, ob hier alles mit rechten Dingen zugegangen sein mag.
Thomas Rust junger Volkspolizist, dessen Frau Heike wegen vorzeitiger Wehen, in derselben Klinik liegt, beobachtet just an diesem Tag ein Auto mit Berliner Kennzeichen. Nach einem Gespräch mit Ricardas Freund, hat es seine eigenen Gedanken. Er kennt die Gerüchte, die unter der Hand, von politisch motivierten Kindesentzug, von Zwangsadoptionen und von Babyhandel, wispern. Rust lassen seine Beobachtungen keine Ruhe und beginnt heimlich zu ermitteln. Dabei stößt er auf eine Menge Ungereimtheiten und gerät selbst in den Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit.
Jahre ziehen ins Land, Ricarda hat den Verlust ihres erstgeborenen Kindes nach wie vor nicht verarbeitet. Die Suche nach der Wahrheit ist zu einer Obsession geworden, die nicht nur ihre Ehe und Freundschaften zerstört hat. Der Fall der Berliner Mauer und die anschließende Wende lassen Ricarda neuen Mut fassen und ihre Akte der Stasi einsehen.
Gleichzeitig wird in einem anderen Handlungsstrang das Schicksal von Claudia Behling erzählt, die knapp vor dem Mauerfall 1989 beim illegalen Grenzübertritt zwischen Österreich und Ungarn erwischt wird. Aus Wut über möglich Repressalien schleudert ihr die Mutter „Du bist nicht unser Kind, du bist adoptiert!“ entgegen.
Claudia macht sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter, die erst 2018 mit einer Überraschung enden wird.
Meine Meinung:
Frank Goldammer gelingt es hervorragend die beklemmende Stimmung in der DDR heraufzubeschwören. Niemand kann sich sicher sein, von einem Nachbarn, einem Freund oder Arbeitskollegen nicht dich bespitzelt zu werden. Die IMs, also die Informanten der Stasi sind allgegenwärtig. Die Gründe, warum hinter einem hergeschnüffelt wird, sind vielfältig. Sei es um eine Vergünstigung wie eine neue Wohnung oder ein Auto oder ein paar Lebensmittel mehr zu bekommen oder, weil man selbst durch irgendetwas erpressbar ist.
Doch auch nach 1989 ist nicht alles Liebe-Wonne-Waschtrog. Investoren aus dem Westen kaufen die maroden Staatsbetriebe auf, die ehemaligen DDR-Bürger werden zu Hilfsarbeitern und Menschen zweiter Klasse degradiert. Natürlich schaffen es einige Wendehälse wieder zu Vermögen und Ansehen zu kommen.
Frank Goldammer beschreibt diese Zeit so:
„Die DDR war verschwunden und mit ihr auch alles Vertraute und Bekannte. Sie waren jetzt frei. Doch das Wort Freiheit hatte schnell einen faden Beigeschmack bekommen. Unter all den neuen Düften lag ein fauliger Geruch.“
Als Österreicherin kann ich natürlich nicht aus eignem Erleben berichten, aber diese Sätze klingen plausibel.
Sehr gut kommt der Spießrutenlauf, dem Ricarda ausgesetzt ist, heraus. Niemand hat Geduld mit ihr. Im Gegenteil, sie muss auf der Hut sein, nicht als psychische Kranke in eine Klinik gesteckt zu werden. Sie gilt als Querulantin, verliert Arbeit und Freunde. Sie hat aber keine handfesten Beweise und wird von einem windigen Reporter ausgenützt.
Die Lebensgeschichte von Claudia ist leider nicht ganz so ausführlich erzählt. Sie steht einfach 2018 vor Ricardas Tür. Gemeinsam gelingt es den beiden, auch unter Mithilfe des damaligen Vopos Rust, ihre Vergangenheit aufzurollen.
Der Roman ist ein beredtes Zeugnis einer Ära, der man im Nachhinein alles mögliche Schlechte andichtet. Ob es diesen staatlichen Kindesentzug und damit einhergehende Zwangsadoptionen in der DDR wirklich gegeben hat, ist nach wie vor nicht beweisen oder widerlegt. Während der Nazi-Zeit gab es tausende solcher Fälle. (siehe u.a. „Raubkind“ oder „L364“ von Dorothee Schmitz-Köster).
Allein die Möglichkeit, dass der allumfassende DDR-Staat hier so in Familien eingegriffen haben könnte, macht betroffen.
Fazit:
Ein sehr emotionales Thema, fesselnd erzählt. Gerne gebe ich hierfür 5 Sterne.