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Veröffentlicht am 10.12.2019

Sehr enttäuschend

Glück am Morgen
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Die im Klappentext erwähnte Thematik des Buches ist ausgesprochen interessant: "Das erste Jahr der jungen Ehe von Annie und Carl ist nicht leicht - ständig fehlt es an Geld, obwohl Carl neben seinem Jurastudium ...

Die im Klappentext erwähnte Thematik des Buches ist ausgesprochen interessant: "Das erste Jahr der jungen Ehe von Annie und Carl ist nicht leicht - ständig fehlt es an Geld, obwohl Carl neben seinem Jurastudium noch mehrere Jobs hat." Ich war gespannt darauf, wie die jungen Leute mit dieser Situation zurechtkommen und freute mich dann auch, als ich beim Lesen festsstellte, daß das Buch Ende der 1920er spielt und hoffentlich Einblicke in das Leben der Zeit gegeben würden.

Leider aber ist die Umsetzung gleich aus mehreren Gründen meines Erachtens völlig mißlungen. Der Hauptgrund ist der ausgesprochen schlechte Schreibstil. Ich konnte es kaum glauben, daß diese Autorin renommierte Preise gewonnen hat, denn das Buch liest sich, als ob es ein Schulmädchen verfaßt hätte. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein so schlecht geschriebenes Buch gelesen habe.

Auch bei der Schilderung der Beziehung zwischen Carl und Annie wurde meistens zielsicher am Interessanten vorbei geschrieben. Das Buch beginnt mit ihrer Hochzeit und ich war von der Banalität der Dialoge bereits überrascht, habe es aber über gemächlicher Einführung verbucht. Allerdings ändert sich das Ganze nicht. Annie und Carl führen zum Großteil absolut uninteressante Dialoge, die nicht dadurch besser werden, daß die beiden sich in fast jedem Satz zwanghaft mit Vornamen ansprechen.
Ein Auszug:
"Hast du schon mal so viele Pee-wees gesehen, Carl?"
"Das sind Beanies."
"In Brooklyn heißen die Pee-wees."
"Ich bin aber nicht in Brooklyn."
"Aber trotzdem bist du noch Brooklyner."
"Das müssen ja nicht alle wissen, Annie."
"Das ist jetzt nicht dein Ernst, Carl."
"Ach, wir können sie doch einfach Beanies nennen, Annie."
Das ist keine unrühmliche Ausnahme, sondern Carl und Annie sprechen fast ständig so miteinander. Irgendwann merkt man auch, daß ihre begrenzte Themenauswahl sich immer wiederholt und wir lesen Varianten des Banalen immer und immer wieder.

Die Charaktere sind nicht gut gezeichnet. Annie ist manchmal erschreckend einfältig, an manchen Stellen ist es kaum glaubhaft. Dazu ist sie noch völlig distanzlos und launisch. Das macht die Szenen mit ihr unangenehm zu lesen. Carl ist farblos. Er lernt viel, er arbeitet viel und er wird ab und an etwas grob. Mehr erfahren wir nicht. Was diese beiden aneinander finden, erfahren wir auch nicht, meistens scheinen sie genervt voneinander. Manche Szenen sollen uns vermitteln, wie sehr sie einander lieben, aber man kann es nicht nachempfinden und versteht es auch nicht. Überhaupt ergeben die Beziehungen zwischen den Charakteren nur selten Sinn.

Interessante Aspekte, wie eben Carls finanzielle Nöte oder das gespannte Verhältnis zu den jeweiligen Eltern, werden leider kaum behandelt, stattdessen versinkt die Geschichte größtenteils in Banalitäten. Zudem kommt Carl ein glücklicher Zufall nach dem anderen zu Hilfe und sobald ein wenig Geld im Haus ist, wird es (vor allem von Annie) mit vollen Händen hastig ausgegeben, was der finanziellen Thematik Dringlichkeit und Glaubwürdigkeit nimmt.

Annie, wie gesagt von ausgesprochener Einfältigkeit und dazu mit gerade mal grundlegender Schulbildung, schreibt gerne, insbesondere Theaterstücke. Ihre ersten Versuche sind schmerzhaft schlecht, was verständlich ist - sie konnte es bislang nicht lernen. Nun reicht aber ihr Interesse an der Thematik aus, kostenlose Gasthörerin bei entsprechenden Vorlesungen zu werden und dort braucht sie nur ein paar Monate, um zu den drei Besten der Klasse zu zählen. Das ist völlig unglaubwürdig (auch wenn das Buch wohl autobiographische Züge hat) und wird noch unglaubwürdiger, als wir Annies spätere Schreibversuche zu lesen bekommen und sie immer noch schmerzhaft schlecht sind.

So las ich hier also ein schlecht geschriebenes Buch mit unsympathischen, teils überzeichneten Charakteren, dessen teils interessante Themen entweder unzureichend oder unglaubwürdig behandelt wurden. "Glück am Morgen" ist leider die Enttäuschung des Jahres für mich. Die zwei Sterne gibt es für einige informative Schilderungen von Stadt- und Universitätsleben und für durchblitzende Momente, in denen man von Carls Situation gerührt ist und merkt, daß hier eine gute Geschichte hätte drinstecken können.

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  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.12.2019

Bildgewaltiges Epos mit mitreißenden Charakteren

Das weiße Gold der Hanse
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In „Das Weisse Gold der Hanse“ führt uns Ruben Laurin auf bildgewaltige Weise ins 13. Jahrhundert und läßt uns an zahlreichen aufregenden Ereignissen teilhaben. Ich habe diesen Roman genossen. Schade ist ...

In „Das Weisse Gold der Hanse“ führt uns Ruben Laurin auf bildgewaltige Weise ins 13. Jahrhundert und läßt uns an zahlreichen aufregenden Ereignissen teilhaben. Ich habe diesen Roman genossen. Schade ist es, daß der Verlag dem Buch sowohl einen unpassenden Titel wie auch einen leicht irreführenden Klappentext verpaßt hat, so daß ich mich (mal wieder) fragte, ob die für diese Dinge verantwortlichen Verlagsmitarbeiter die betreffenden Bücher überhaupt vorher gelesen haben. Dafür ist die Ausstattung des Buches lobenswert, es ist eine Namensliste enthalten (auf der historische Personen gekennzeichnet sind), eine Landkarte, die häufig gute Dienste bot, eine Zeittafel und (hinten im Buch) ein Glossar. So ist man bestens gerüstet.

In zwei Handlungssträngen tauchen wir also in eine andere Zeit ein. Der größte Teil des Buches ist der Geschichte des Jungen Moses gewidmet, den wir von 1231 bis 1243 durch eine turbulente Kindheit und Jugend begleiten. Der zweite Handlungsstrang findet zwischen 1275 und 1286 statt und berichtet uns von dem (historisch verbürgten) Ratsherrn Bertram Morneweg und dem Bau des von ihm gestifteten Hospitals „Haus des Erbarmens“. Wie diese zwei Handlungsstränge zusammenhängen, findet man im Laufe des Buches heraus. Der „Ratsherr“-Strang ist vom Tempo her weitaus gemächlicher als der „Moses“-Strang, verweilt oft zu sehr in Details, verliert sich ein wenig in verschiedenen kleinen Geschehnissen. Es war viel Interessantes hier, aber er hätte für meinen Geschmack weitaus straffer sein und einige der kleineren Begebenheiten auslassen können. Dafür ist aber der „Moses“-Strang fast immer in ausgezeichnetem Erzähltempo gehalten. Nur im Mittelteil gibt es ein paar (kleinere) Längen und am Ende einen für meinen Geschmack übertriebenen Showdown. Ich war beeindruckt, wie lebhaft und eindringlich Ruben Laurin das Geschehen schildert. Ich sah alles vor mir, konnte ganz in der Geschichte versinken. Farbige Details reichern alles an und herrlich lebensechte Figuren berühren. Überhaupt sind die Charaktere eine weitere Freude des Buches. Sie sind vielschichtig, wir begegnen wohlhabenden Kaufleuten, Fürsten und skrupellosen Kirchenmännern ebenso wie einer jungen Frau, die durch ein Pogrom ihre Familie verlor und zur Sklavin wurde, einem etwas wunderlichen alten Herrn mit hinreißend schwäbischer Mundart und aufrechten Mönchen. Manche Charaktere entfalten erst im Laufe der Geschichte ihre ganze Größe, andere entwickeln dunkle Seiten. Kalt läßt einen fast niemand. Auch die Beziehungen zwischen den Charakteren sind ausgezeichnet geschildert und sind einfach echt, lebensnah. Nur in einem Fall konnte ich die plötzliche und ausgesprochen hingebungsvolle Zuneigung eines Mädchens für jemanden nicht nachvollziehen, sie wird auch nie hinreichend begründet. In einem anderen Fall war mir eine lebensverändernde monumentale Entscheidung ebenfalls nicht einleuchtend und ermangelte der Begründung. Angesichts der sonstigen Detailfreude und sorgfältigen Zeichnung von Charakteren und Beziehungen fand ich das sehr schade, aber es waren nur kleine Punkte in einem erfreulichen Ganzen. Ein Sonderlob gibt es dafür, daß wir hier keine kitschige Liebesgeschichte lesen müssen.

Der Schreibstil ist eingängig und erfreulich. Kleine Wermutstropfen waren nur die gelegentliche Neigung zu Wiederholungen und der Erklärungen des Offensichtlichen, aber auch hier waren es Einzelfälle, überwiegend war der Stil eine Freude. Ausgesprochen beeindruckend ist die historische Recherche, die dem Buch zugrunde liegt. Ich war begeistert und oft überrascht von den vielen historischen Details, die hier eingearbeitet wurden und kann mir gar nicht vorstellen, wie viel Arbeit da drinsteckt. Ich habe selten so viel aus einem historischen Roman gelernt und dies auch noch auf unterhaltsame Weise. Es wird eine solche Vielzahl an Themen behandelt und alles zeigt absolut akribische Recherche.

Das Ende ist stimmig und hat mir gut gefallen. Das Wesentliche der Geschichte wurde detailreich erzählt, das Nachfolgende wird angedeutet und zusammengefaßt. Ganz am Ende schließt sich der Kreis fast symbolhaft. Das ist gut gelungen und ließ mich zufrieden und ein wenig wehmütig zurück.


Veröffentlicht am 28.11.2019

Ungewöhnliche Reise durch Nürnbergs Geschichte

Dürer und die Fratze des Teufels
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"Dürer und die Fratze des Teufels" ist ein Buch mit einem ungewöhnlichen Thema: tatsächliche historische Personen, die zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert in Nürnberg lebten, werden hier in 20 Kurzgeschichten ...

"Dürer und die Fratze des Teufels" ist ein Buch mit einem ungewöhnlichen Thema: tatsächliche historische Personen, die zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert in Nürnberg lebten, werden hier in 20 Kurzgeschichten mit - bis auf einen Fall - fiktiven Verbrechen verbunden. Da der Hauptteil der Geschichten im 15. Jahrhundert liegt, begegnen uns einige Personen mehrfach, auch Orte oder Bauwerke kommen immer wieder vor, was uns auf angenehme Weise in dieses Nürnberg eintauchen läßt. Stadt und Leute werden einem durch das Buch hindurch immer vertrauter.

Das Titelbild ist gut gelungen, es zeigt im Hintergrund die Frauenkirche am Hauptmarkt - der Hauptmarkt ist einer der Orte, die uns im Buch immer wieder begegnen. Davor dann Dürer; farbig, aber von den Farbtönen her zum Hintergrund passend, so daß es harmoniert. Kleine Zeichen wie ein Blutsfleck oder Kratzer in einer Türe zeigen das Kriminalfallmotiv gut an. Die Schrift ist ebenfalls sehr ansprechend und paßt zum Thema und der im Buch behandelten Zeit.

Jeder Geschichte ist eine Kurzbiographie der historischen Person nachgestellt, die hier der Fokus ist. Das ist eine gute Kombination, manchmal ist auch die Inspiration für die Geschichte in dieser Kurzbiographie erwähnt. Ein wenig irritiert war ich, daß die Kurzbiographie Albrecht Dürers und die Kurzbiographie Agnes' Dürers sich widersprechende Aussagen enthalten. Manche der Biographien sind arg knapp geraten, aber überwiegend sind sie informativ und reichern die Fiktion der Geschichten mit Fakten an. Ich habe hier einiges gelernt.

Die Geschichten sind von der Qualität unterschiedlich und im Gesamten war ich doch ein wenig enttäuscht, wie viele Geschichten für meinen Geschmack stilistisch und/oder inhaltlich zu wünschen übrig ließen - es waren einige dabei, die ich nur mit 2 Sternen bewertet hätte. Hier war es oft so, daß die Dialoge gestelzt und unnatürlich wirkten oder Hintergrundfakten ungeschickt eingebaut wurden. Zwei Geschichten haben für mich inhaltlich keinen Sinn ergeben und in einer - eigentlich recht guten - Geschichte ist ein dicker Logikfehler. Ein Thema wurde gleich in zwei Geschichten verwendet, die teilweise inhaltlich fast gleich sind.
Dem stehen aber auch einige ausgezeichnete Geschichten gegenüber, die sich angenehm lesen, unerwartete Wendungen bieten, historische Fakten elegant einflechten und uns Interessantes über Bauwerke oder Wahrzeichen vermitteln. Hier stachen für mich besonders "Der Nachtgiger", "Die Entführung der Reichskrone" und "Feuerzungen" heraus. Eine erfrischend originelle Idee macht "Ein feiger Anschlag" ebenfalls zu einer flotten Lesefreude. Insgesamt sind die 20 Geschichten also ein sehr durchwachsenes Vergnügen, was ich schade finde. Der Logikfehler, die widersprüchlichen Informationen und so manch gestelzter Dialog hätte vermieden werden können. Wenn ich jeder Geschichte eine Einzelsternebewertung gebe und daraus den Durchschnitt ziehe, ergeben sich 3,3 Sterne.

Da die Idee gut ist, die Gestaltung ansprechend und ich viel gelernt habe, vergebe ich 3,5 Sterne.

Veröffentlicht am 24.11.2019

Spröder Stil, nicht immer gelungene Themengewichtung

Der deutsche Adel
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Den deutschen Adel auf knapp über 120 Seiten zusammenzufassen, ist natürlich keine leichte Aufgabe, wie die Autoren es auch ganz richtig im Vorwort erwähnen. Ich habe aus der C.H. Beck Wissen-Reihe einige ...

Den deutschen Adel auf knapp über 120 Seiten zusammenzufassen, ist natürlich keine leichte Aufgabe, wie die Autoren es auch ganz richtig im Vorwort erwähnen. Ich habe aus der C.H. Beck Wissen-Reihe einige Bücher gelesen, deren Autoren stets versuchen müssen, komplexe Sachverhalte sinnvoll zu komprimieren. Manchmal gelingt das (wie im Buch zu Ostpreußens Geschichte) ganz hervorragend. Hier hat mir die Umsetzung nicht so ganz zugesagt.

Die Gewichtung der Themen war nicht immer nach meinem Geschmack. So wird recht viel Raum der Frage gewidmet, was eigentlich Adel ist, was deutschen Adel ausmacht - das hätte wesentlich knapper abgehandelt werden können. Auch dass die durchaus komplexe und teils problematische Rolle des Adels in der Weimarer Republik und des deutschen Reiches kaum mehr Raum bekam, als das Thema des Adels zur Nachkriegszeit, fand ich nicht gelungen. Hinzu kommt noch, daß das letzterwähnte Kapitel sich mehr populären Medien und allgemeinen Fragen widmet und wenig relevante Informationen bietet.

Auch innerhalb der Kapitel habe ich mich oft gewundert, welchen Raum manche Themen bekamen und wie kurz andere behandelt wurden. Manche wohl eher allgemein bekannte Dinge werden erklärt, während an anderen Stellen erhebliches - gerade historisches - Hintergrundwissen vorausgesetzt wird. Überhaupt ist der Text nicht gerade zugänglich. Er wirkt trocken, spröde, lädt nie zum Weiterlesen ein. Oft werden absätzelang Zahlen rezitiert und detailliert berichtet, wie der Prozentsatz der Adeligen in einer Institution, Industrie, etc. sich entwickelt. Das hätte eine Tabelle übersichtlich und platzsparend darstellen können. Auch sind manche Zahlen ohne Vergleichsgrößen nicht aussagekräftig. Wenn erwähnt wird, daß irgendwann im 18. Jahrhundert ein Kaufpreis von xy für etwas fällig war, dann kann man mit dieser Information zur etwas anfangen, wenn man weiß, wie zB das durchschnittliche Monatseinkommen war, was Brot im Verhältnis kostete, etc.

Positiv zu vermerken ist, daß recht viele Themen behandelt werden und man durchaus einiges erfährt. Ab und an bekommen wir konkrete Beispiele von Familien oder Personen, ein paar Abbildungen sind vorhanden und manches wird recht gut in Relation gesetzt. Die regionalen Unterschiede werden gut dargestellt. Als absolute Grundlage ist dieses Buch nutzbar, aber ein zugänglicherer Schreibstil (auch hier: siehe das C.H. Beck-Buch über Ostpreußen) und eine bessere Gewichtung der Themen hätte viel bewirkt.

Veröffentlicht am 11.11.2019

Wundervoll geschriebene und ergreifende Geschichte

Mittagsstunde
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Nachdem ich in "Altes Land" bereits den Schreibstil Dörte Hansens so bemerkenswert fand, auch wenn es für mich dann an Charakteren und Geschichte haperte, bin ich von "Mittagsstunde" restlos begeistert. ...

Nachdem ich in "Altes Land" bereits den Schreibstil Dörte Hansens so bemerkenswert fand, auch wenn es für mich dann an Charakteren und Geschichte haperte, bin ich von "Mittagsstunde" restlos begeistert.

Wieder geht es um ein norddeutsches Dorf und auch hier erzählt die Autorin auf verschiedenen Zeitebenen. Man muß in jedes Kapitel ein wenig reinlesen, bevor man weiß, in welcher Zeitebene man gerade ist. Das funktioniert aber ausgezeichnet und mir hat es Spaß gemacht, zu sehen, wo (bzw: wann) wir uns nun befinden, wer hier im Fokus stehen wird. Durch ihre klare Art zu schreiben läßt Dörte Hansen trotz vieler Charaktere und verschiedener Zeitebenen keine Verwirrung entstehen. Durch die Blicke in verschiedene Zeiten füllen sich auch nach und nach Lücken, klären sich einige Fragen, wird unser Bild im vollständiger. Leider bleibt das Schicksal einer wesentlichen Person des Buches dann völlig offen, was ich doch ein wenig störend fand, es erschien mir zu nebenbei abgehandelt.

Der Schreibstil ist wieder ein Vergnügen, meines Erachtens noch besser als bei "Altes Land". Hier wird Sprache schnörkellos und doch ganz bildhaft, auf hohem Niveau verwandt. Hohe Sprachkunst ohne irgendetwas Prätentiöses. "Marret Feddersen schien hinter einer Wand aus Glas zu leben (...) und manchmal war das Glas auch noch beschlagen" - das ist nur einer dieser Sätze, die wundervoll und knapp so viel aussagen. Ich bin in diese Sprache eingetaucht.

Auch die Charaktere sind meisterhaft gezeichnet. Der rote Faden im Dorf Brinkebüll und im Buch ist die Familie Feddersen, von denen wir drei Generationen kennenlernen. Besonders anrührend fand ich Sönke, der auch im hohen Alter von über 90 noch seelisch von seiner jahrzehntelang zurückliegenden Zeit in russischer Gefangenschaft gekennzeichnet ist, der auch nach seiner Rückkehr in sein Heimatdorf viele Bürden tragen mußte. Er tut dies schweigsam, wie überhaupt in Brinkebüll nichts zerredet wird. Sönkes Gedanken zu Schuld und Sühne, zur Anständigkeit, sein wortknappes Sich-Annehmen des unehelichen Kindes seines offiziellen Tochter und auch die ebenfalls wortkarge Hingabe an seine Ehefrau Ella - das alles ist zutiefst berührend, manchmal herzzerbrechend traurig. Wir erleben ihn in einer Zeitebene in der Mitte seines Lebens, in einer anderen Zeitebene, die in der Gegenwart spielt, als alten Mann, der geistig rege ist, dessen Körper ihn aber zunehmend im Stich läßt. Die Szenen, in denen Sönkes Enkel Ingwer sich um Sönke und dessen Frau Ella kümmert, zeigen ganz eindringlich, wie schmerzhaft das Alter werden kann, was es an Würde, Unabhängigkeit und Freiheit nehmen kann und wie es auch auf die jüngere Generation wirkt.

Dies sind nur einige der vielen Themen, die uns in "Mittagsstunde" begegnen. Es gibt kaum dramatische, rasante Geschehnisse, das Buch ist eher eine Milieustudie eines kleinen Dorfes und sich ändernder Zeiten. Es geht vorwiegend um die kleinen Dinge, die Charakterentwicklungen, die kleinen Umwälzungen, die manchmal zu großen Umwälzungen führen. Man wird als Leser Teil dieses Brinkebüll-Mikrokosmos, in dem Dinge auf ihre eigene Art geregelt werden. Ich fand diesen Blick in eine mir fremde Welt ganz faszinierend und zudem ausgezeichnet dargestellt.

Ingwer Feddersen, Sönkes Enkel, ist ein wenig ein Bindeglied zwischen modernem Stadtleben und dem traditionellen Dorfleben. Er ist als einziger der Charaktere ein wenig farblos und die sich mit ihm beschäftigenden Passagen haben ab und an Längen, sind nicht immer so fesselnd, aber auch hier gab es viel Interessantes. Die Schilderung seines seit über 20 Jahren bestehenden WG-Lebens, in dem seine beiden Mitbewohner mit großer Krampfhaftigkeit am Unverkrampftsein festhalten und sich von ihrem großbürgerlichen Hintergrund trotz aller Versuche genauso wenig trennen können wie Ingwer von Brinkebüll, ist herrlich gelungen.

So erfreut "Mittagsstunde" mit einer sorgfältig konzipierten Geschichte, in der sich Zeitebenen, Charaktere, Themen und Lebenswelten zu einem ungemein unterhaltsamen Ganzen zusammenfinden. Das ist manchmal herrlich komisch und manchmal zu Tränen rührend. Eines der drei besten Bücher, die ich dieses Jahr lesen durfte!