Wundervoll geschriebene und ergreifende Geschichte
Nachdem ich in "Altes Land" bereits den Schreibstil Dörte Hansens so bemerkenswert fand, auch wenn es für mich dann an Charakteren und Geschichte haperte, bin ich von "Mittagsstunde" restlos begeistert. ...
Nachdem ich in "Altes Land" bereits den Schreibstil Dörte Hansens so bemerkenswert fand, auch wenn es für mich dann an Charakteren und Geschichte haperte, bin ich von "Mittagsstunde" restlos begeistert.
Wieder geht es um ein norddeutsches Dorf und auch hier erzählt die Autorin auf verschiedenen Zeitebenen. Man muß in jedes Kapitel ein wenig reinlesen, bevor man weiß, in welcher Zeitebene man gerade ist. Das funktioniert aber ausgezeichnet und mir hat es Spaß gemacht, zu sehen, wo (bzw: wann) wir uns nun befinden, wer hier im Fokus stehen wird. Durch ihre klare Art zu schreiben läßt Dörte Hansen trotz vieler Charaktere und verschiedener Zeitebenen keine Verwirrung entstehen. Durch die Blicke in verschiedene Zeiten füllen sich auch nach und nach Lücken, klären sich einige Fragen, wird unser Bild im vollständiger. Leider bleibt das Schicksal einer wesentlichen Person des Buches dann völlig offen, was ich doch ein wenig störend fand, es erschien mir zu nebenbei abgehandelt.
Der Schreibstil ist wieder ein Vergnügen, meines Erachtens noch besser als bei "Altes Land". Hier wird Sprache schnörkellos und doch ganz bildhaft, auf hohem Niveau verwandt. Hohe Sprachkunst ohne irgendetwas Prätentiöses. "Marret Feddersen schien hinter einer Wand aus Glas zu leben (...) und manchmal war das Glas auch noch beschlagen" - das ist nur einer dieser Sätze, die wundervoll und knapp so viel aussagen. Ich bin in diese Sprache eingetaucht.
Auch die Charaktere sind meisterhaft gezeichnet. Der rote Faden im Dorf Brinkebüll und im Buch ist die Familie Feddersen, von denen wir drei Generationen kennenlernen. Besonders anrührend fand ich Sönke, der auch im hohen Alter von über 90 noch seelisch von seiner jahrzehntelang zurückliegenden Zeit in russischer Gefangenschaft gekennzeichnet ist, der auch nach seiner Rückkehr in sein Heimatdorf viele Bürden tragen mußte. Er tut dies schweigsam, wie überhaupt in Brinkebüll nichts zerredet wird. Sönkes Gedanken zu Schuld und Sühne, zur Anständigkeit, sein wortknappes Sich-Annehmen des unehelichen Kindes seines offiziellen Tochter und auch die ebenfalls wortkarge Hingabe an seine Ehefrau Ella - das alles ist zutiefst berührend, manchmal herzzerbrechend traurig. Wir erleben ihn in einer Zeitebene in der Mitte seines Lebens, in einer anderen Zeitebene, die in der Gegenwart spielt, als alten Mann, der geistig rege ist, dessen Körper ihn aber zunehmend im Stich läßt. Die Szenen, in denen Sönkes Enkel Ingwer sich um Sönke und dessen Frau Ella kümmert, zeigen ganz eindringlich, wie schmerzhaft das Alter werden kann, was es an Würde, Unabhängigkeit und Freiheit nehmen kann und wie es auch auf die jüngere Generation wirkt.
Dies sind nur einige der vielen Themen, die uns in "Mittagsstunde" begegnen. Es gibt kaum dramatische, rasante Geschehnisse, das Buch ist eher eine Milieustudie eines kleinen Dorfes und sich ändernder Zeiten. Es geht vorwiegend um die kleinen Dinge, die Charakterentwicklungen, die kleinen Umwälzungen, die manchmal zu großen Umwälzungen führen. Man wird als Leser Teil dieses Brinkebüll-Mikrokosmos, in dem Dinge auf ihre eigene Art geregelt werden. Ich fand diesen Blick in eine mir fremde Welt ganz faszinierend und zudem ausgezeichnet dargestellt.
Ingwer Feddersen, Sönkes Enkel, ist ein wenig ein Bindeglied zwischen modernem Stadtleben und dem traditionellen Dorfleben. Er ist als einziger der Charaktere ein wenig farblos und die sich mit ihm beschäftigenden Passagen haben ab und an Längen, sind nicht immer so fesselnd, aber auch hier gab es viel Interessantes. Die Schilderung seines seit über 20 Jahren bestehenden WG-Lebens, in dem seine beiden Mitbewohner mit großer Krampfhaftigkeit am Unverkrampftsein festhalten und sich von ihrem großbürgerlichen Hintergrund trotz aller Versuche genauso wenig trennen können wie Ingwer von Brinkebüll, ist herrlich gelungen.
So erfreut "Mittagsstunde" mit einer sorgfältig konzipierten Geschichte, in der sich Zeitebenen, Charaktere, Themen und Lebenswelten zu einem ungemein unterhaltsamen Ganzen zusammenfinden. Das ist manchmal herrlich komisch und manchmal zu Tränen rührend. Eines der drei besten Bücher, die ich dieses Jahr lesen durfte!