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Veröffentlicht am 16.06.2019

Gemächliches Sittengemälde

Der Fall Hildegard von Bingen
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In "Der Fall Hildegard von Bingen" nimmt Edgar Noske die Ereignisse um die Gründung des Klosters Ruprechtsberg durch Hildegard von Bingen und webt sie in eine Mischung aus historischen Fakten und Fiktion ...

In "Der Fall Hildegard von Bingen" nimmt Edgar Noske die Ereignisse um die Gründung des Klosters Ruprechtsberg durch Hildegard von Bingen und webt sie in eine Mischung aus historischen Fakten und Fiktion ein. Klappentext, Titel und Untertitel ("Ein Krimi aus dem Mittelalter") sind irreführend und unpassend. Es ist alles andere als ein Krimi (was auch völlig in Ordnung ist), sondern ein Sittengemälde der geistlichen Welt des 12. Jahrhunderts und ein Roman, der uns Hildegard von Bingen als Mensch nahebringt.

Viel Spannung sollte der Leser deshalb nicht erwarten. Die im Klappentext erwähnten gefundenen sterblichen Überreste sind zwar der Aufhänger für Hildegard von Bingen, aus ihrem Leben zu berichten, aber das "Geheimnis" ist keineswegs so "düster", wie es uns der Klappentext weismachen will. Eine in diesem Zusammenhang gemachte Aussage aus dem Buch faßt es gut zusammen: "Ich muss gestehen, ich war auf ein schlimmeres Geständnis gefasst." Ich auch. Mich hat es zwar nicht gestört, daß der Fokus des Buches ein anderer war, aber solch irreführende Vermarktung ist immer wieder ärgerlich.

Letztlich geht es in der ersten Hälfte des Buches um die Schwierigkeiten, die Hildegard von Bingen hatte, um Erlaubnis und Mittel für ihr eigenes Kloster zu erlangen. Die zweite Hälfte beleuchtet Bau und erste Zeit des Klosters. Die Rahmenbedingungen und der Großteil der Charaktere sind historisch belegt, die Details und diverse Charaktereigenschaften entspringen der dichterischen Freiheit. Edgar Noske hat die historischen Fakten mit einem farbigen, detailfreudig ausgearbeiteten Bild gefüllt, Namen mit Persönlichkeit versehen und so diese Zeit recht gut aufleben lassen. In manchen Fällen (wie bei der Dämonisierung des Abtes Kuno) gerät das Ganze ein wenig zur Karikatur; gelungene humorvolle Einschübe wechseln mit einigen platten Albernheiten. Die Detailfreude ist oft erfreulich, weil sie Geschehen und Umgebung greifbar macht, an anderen Stellen zieht sie die Geschichte zu sehr in die Länge.

Das Erzähltempo bleibt im ganzen Buch insgesamt gemächlich. Der erste Teil ist handlungsreicher und auch spannender. Im zweiten Teil häufen sich leider zu viele irrelevante Alltagsbegebenheiten, langatmige Dialoge, es gibt einige Wiederholungen. Der letzte Teil wirkte mir zu krampfhaft darauf bedacht, noch ein aufregenderes Ende hinzulegen.

Interessant war der Blick in die farbig geschilderte Klosterwelt jener Zeit und die gelungene Einflechtung historischer Gegebenheiten und der Probleme, denen Hildegard von Bingen sich stellen mußte. Auch Hildegard von Bingen hier als Menschen nahegebracht zu bekommen war eine lohnende Leseerfahrung. Hätte das Buch sich auf diese Stärken konzentriert und die Spannung durch straffere Erzählweise, nicht durch künstlich wirkende "Krimi"-Elemente geschaffen, hätte es mir noch wesentlich besser gefallen.

Veröffentlicht am 14.06.2019

Tolstois Zeigefinger

Auferstehung
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Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine ...

Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine Gesellschaftskritik, seine Lehre verkünden. Das tut er auch und zwar leider mit schwer erträglicher Penetranz. Der erhobene Zeigefinger fuchtelt dem Leser die ganze Zeit vor den Augen herum und läßt diesen die Geschichte kaum noch erkennen.

Die Grundgeschichte – inspiriert von einem tatsächlichen Gerichtsfall – ist interessant und berührend. Der Adlige Nechljudow wird als Geschworener mit einer für ihn schon fast vergessenen Jugendsünde konfrontiert und erkennt, welche gravierenden Auswirkungen diese für die junge Katjuscha Maslowa hatte. Er hat sie Jahre zuvor verführt, dann sein komfortables Leben weitergeführt. Katjuscha wurde schwanger, von der Gesellschaft verstoßen, stürzt ab, wird zur Protituierten und steht nun wegen eines vermeintlichen Tötungsdeliktes vor Gericht. Die Geschichte dieser beiden, die unterschiedlichen Gefühle, Lebenswelten und Auswirkungen einer Nacht werden berührend geschildert, Katjuscha ist dem Leser sehr nahe, ist eine beeindruckende Persönlichkeit, deren Seelenleben einen kaum kalt lassen kann. Auch Nechljudows Wandlung vom unschuldigen, ehrlich verliebten Jüngling zu einem jungen Mann, der sich zu leicht von seinem gesellschaftlichen Umfeld korrumpieren läßt und gar nicht richtig versteht, was er Katjuscha antut, liest sich gut, wenn seine Motivationen auch ab und an etwas zu ausführlich erklärt werden.

Beeindruckend ist, wie farbig das Gerichtsverfahren beschrieben wird, mit welch guter und spitzer Beobachtungsgabe Tolstoi seine Charaktere darstellt. Der Einblick ins Justizsystem des zaristischen Russland ist aufschlußreich, umfaßt im weiteren Verlauf des Buches noch Beschreibungen vom Gefängnisalltag, Gefangenentransporten nach Sibirien, Einblicke in die Organisation des Strafvollzuges. Sehr schön aufgezeigt ist ebenfalls, wie sehr menschliche Schwächen juristische Entscheidungen beeinflussen können und wie viel man erreichen konnte, wenn man nur die richtigen Leute kannte. Soweit die Stärken des Buches.

Wie anfangs erwähnt, ging es Tolstoi nicht um das Unterhalten, sondern um seine Botschaft. Er nutzt hier Nechljudow, der durch das Schicksal Katjuschas nicht nur sein eigenes Fehlverhalten erkennt und gutmachen möchte, sondern eine radikale abrupte (und dadurch unglaubwürdige) 180-Grad-Wendung vom gedankenlosen Adligen zum Social Justice Warrior macht. Man bekommt den Eindruck, Nechljudow möchte im Alleingang das Justizsystem verändern, er erinnerte mich ein wenig an die ???-Bücher meiner Kindheit. ("Wir übernehmen jeden Fall!") Uns werden nun zahlreiche, kaum noch auseinanderhaltende Schicksale präsentiert, und Nechljudow will ihnen allen helfen, denn natürlich sind sie alle unschuldig. Der zweite Teil des Buches besteht aus sich sehr ähnlichen Beschreibungen von Nechljudow, der einflußreiche Menschen aufsucht und sie um Intervention zugunsten von Strafgefangenen ersucht. Das ist für den Leser, der mit Namen, äußerlichen Beschreibungen und Fallgeschichten geradezu überschwemmt wird, viel zu viel.

Hinzu kommt, daß Tolstoi, eigentlich ein begnadeter Erzähler, sich hier in plumper schwarz-weiß-Malerei ergeht und dies auch noch mit ungeschickten Erzählmitteln. Das vermittelte Weltbild ist von schmerzhafter Schlichtheit: alle Reichen sind böse, hartherzig, unehrlich und etwas beschränkt. Alle Inhaftierten sind unschuldig. Die Armen sind ehrlich, gutherzig und edel. Etwas Differenzierung hätte Tolstois Botschaft, die im Grunde ja gut und sinnvoll ist, stärker gemacht. So tut er das, was er den Reichen im Buch vorwirft: er ergeht sich in Pauschalurteilen. Das ist anstrengend, verkauft den Leser für dumm und schwächt die Botschaft.

Im dritten Teil widmet sich das Buch wieder etwas mehr der Kerngeschichte zwischen Nechljudow und Katjuscha, wird auch an vereinzelten Stellen ein (klein) wenig differenzierter. Das Ende dieser Geschichte ist gut konzipiert. Das Ende des Buches ist leider zum politisch-religiösen Flugblatt (inklusiver extensiver Bibelzitierung) geworden.

Hätte Tolstoi sich auf seine Kerngeschichte konzentriert, eventuell noch ein oder zwei weitere Nebenschicksale eingebaut, hätte er seine Aussage differenzierter und weniger platt vorgebracht, wäre dies ein bemerkenswertes Buch mit wichtigen Überlegungen zu Justiz, Menschlichkeit, Macht und Gerechtigkeit geworden. So ging es einem leider zum Großteil auf die Nerven.

Veröffentlicht am 11.06.2019

Ob der prollige Stil originell sein oder eine schwache Geschichte überdecken sollte?

Die Hirnkönigin
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Auf den ersten Seiten dachte ich noch „Na ja, schnoddriger Stil, zu schnelle Absatz- und Perpektivwechsel, aber wird schon noch.“ Nun habe ich mich bis Seite 70 durchgekämpft und stelle fest, abgesehen ...

Auf den ersten Seiten dachte ich noch „Na ja, schnoddriger Stil, zu schnelle Absatz- und Perpektivwechsel, aber wird schon noch.“ Nun habe ich mich bis Seite 70 durchgekämpft und stelle fest, abgesehen vom aufgesetzt schnoddrigen Stil wird hier nicht viel geboten. Der Mordfall spielt bislang noch eine ziemliche Nebenrolle und läßt sich ohnehin nicht interessant an.

Hauptsächlich hat der Leser das zweifelhafte Vergnügen, die Journalistin Kyra Berg zu begleiten, die auf diesen 70 Seiten schon einige Leute grundlos angebrüllt hat, ihre Kippen überall herumwirft, kaum einen Satz ohne Beleidigung aussprechen kann, gerne Filmrisse hat und innerhalb von wenigen Tagen zwei Leute tätlich angegriffen hat. Ihre Gedanken beim Geräusch von Flaschen im Glascontainer der Nachbarschaft: „Kyra war noch nicht dahinter gekommen, ob das Balg die Flaschen deshalb so donnerte, weil es auch nicht mitanhören wollte, wie Papi Mami fickte, oder weil es wütend war, dass es nicht zugucken durfte.“ Relevanz für die Geschichte? Keine. Aber voyeuristische Kinder, pardon: Bälger, sind so ein irre origineller Gedanke, nicht wahr?

Auch sonst gibt sich die Autorin redliche Mühe, so oft wie möglich ein Fäkalwort oä einzufügen. Vielleicht will sie so die schwache Geschichte interessanter erscheinen lassen? Der Mordfall läuft wie gesagt so nebenher, weil wir lesen müssen, wie Kyra in der Oper pöbelt, im Restaurant pöbelt, in ihrer Wohnung pöbelt, mit Kollegen pöbelt. Dazu gibt es noch ein paar exaltierte Visionen einer unbekannten Person, eine Prise klassischer Zitate und sinnlose Unterhaltungen.

Auf dem Umschlag steht, das Buch hätte den Deutschen Krimipreis gewonnen. Vielleicht wird es ja noch ganz toll, aber ich habe nicht das geringste Interesse, mir die diversen Ausfälle der nervigen Kyra durchzulesen und darauf zu hoffen, daß dieses verkrampft-gewollte Geschnodder irgendwann lesenswert wird.

Veröffentlicht am 10.06.2019

Eine schillernde Familie in Barcelona

Die Geister schweigen
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Auf Care Santos bin ich durch das wundervolle Buch „Als das Leben vor uns lag“ aufmerksam geworden. Auch in „Die Geister schweigen“ beweist sie ihren angenehmen Schreibstil, ihr flüssiges Erzähltalent. ...

Auf Care Santos bin ich durch das wundervolle Buch „Als das Leben vor uns lag“ aufmerksam geworden. Auch in „Die Geister schweigen“ beweist sie ihren angenehmen Schreibstil, ihr flüssiges Erzähltalent.
Care Santos führt uns hier durch mehrere Jahrzehnte in der Geschichte von Barcelona und der fiktiven Familie Lax. Am Ende der 1880er lernen wir die feudale Welt des spanischen Großbürgertums kennen, die nach dem Ersten Weltkrieg ein wenig bröckelt und vom Spanischen Bürgerkrieg brutal zerstört wird. Ebenso wie die Familie begleitet uns ihr Stadtpalais in Barcelona durch die Geschichte, wird uns immer vertrauter.

Die Geschichte wird auf ständig wechselnden Zeitebenen erzählt – wir beginnen im Jahr 1932, springen im nächsten Kapitel ins Jahr 1889, sind in einem weiteren Kapitel kurz in den 1920er Jahren und so geht es weiter. Es ist wie bei einem Familienalbum, in dem auf Zufall verschiedene Seiten aufgeschlagen werden. Diese Zeitsprünge gelingen Care Santos hervorragend. Es ist nie verwirrend, es webt sich alles ins Gesamtgeschehen. Ein Leitmotiv des Buches sind Gemälde und so kann man die Erzählweise auch sehen: es wird immer ein kleines Stück des Gemäldes ausgemalt, auf wechselnden Stellen der Leinwand, und irgendwann ist das Bild komplett. Eine Zeitleiste und ein Stammbaum vorne im Buch helfen ein wenig bei der Gesamtzuordnung der Geschehnisse, aber ich habe diese kaum gebraucht. Es hat Spaß gemacht, sich der Familie Lax auf diese Weise zu nähern, durch die Jahrzehnte zu springen und ich war immer gespannt, welchem Jahr, welchen Personen wir uns im nächsten Kapitel widmen würden. Briefe, Zeitungsartikel und Bildbeschreibungen aus Ausstellungsstücken runden die Geschichte ab, liefern auch manchmal nützliche historische Informationen.

Leider gibt es auch eine durchaus gravierende Schwäche des Buches: in einer Art Rahmenhandlung kehrt Violeta, vierte Generation der Lax, im Jahre 2010 aus den USA nach Barcelona zurück. Während es zu Anfang noch eine neue Perspektive hineinbringt, das Stadtpalais nun in der Gegenwart zu sehen, sind Violetas Kapitel quälend langweilig. Nach den farbigen zwei ersten Generationen der Familie scheint nicht so viel Persönlichkeit übrig geblieben zu sein. Violetas Vater Modesto kommt nur am Rande vor und interessiert schon nicht sonderlich, aber Violeta ist völlig farblos. Ihre Geschichte erfahren wir hauptsächlich durch zähe Emails, die sie schreibt und erhält, und nach der Intensität der Geschichte zwischen 1889 und 1940, den schillernden vielseitigen Charakteren, ist Violetas persönliches Leben dröge und hält die Geschichte eher auf. Auch die „Geheimnisse“, die sie entdeckt, wurden durch den eigentlichen Roman schon hinreichend (und besser) dargestellt. Man hätte den gesamten 2010-Teil streichen können und das Buch hätte meines Erachtens dadurch erheblich gewonnen und volle fünf Sterne bekommen.

Der Klappentext fängt den wesentlichen Charakter des Buches meiner Meinung nach nicht gut ein. „Was ist mit den Frauen ihrer Familie geschehen?“ wird da gefragt und dunkelste Geheimnisse angedeutet. Um „vier Generationen von Frauen“ soll es gehen. Es gibt genau ein Familiengeheimnis, das sich schnell abzeichnet und das für mich gar nicht der Höhepunkt des Buches war. Ansonsten ist den Frauen der Familie nicht „geschehen“. Und es geht nicht um „vier Generationen von Frauen“, es geht um vier Generationen einer Familie, beziehungsweise in der Essenz um zwei Generationen einer Familie, die eine ganze Reihe faszinierender Persönlichkeiten aufweisen – Frauen und Männer.

Wenn man die überflüssigen 2010-Episoden wegläßt, kann man zum Buch sagen: Die Verwebung der Familie mit der Geschichte Barcelonas ist gut gelungen (wenn auch an manchen Stellen einige historische Details etwas zu krampfhaft hineingenommen wurden und dadurch vereinzelte Szenen langatmig wurden, die Geschichte aufhielten). Man erfährt so viel Interessantes über das Leben der Oberschicht wie auch der Dienstboten, ist sowohl beim sich allmähliche ändernden Alltag wie auch bei den dramatischen geschichtlichen Entwicklungen direkt dabei. Die Familienbeziehungen sind wundervoll dargestellt und vielschichtig. Eine facettenreiche farbenfrohe Familiensaga mit gelungen ungewöhnlicher Erzählweise. Die Charaktere und auch das Haus haben mich berührt, ich habe viel über Barcelona in diesen Jahrzehnten erfahren und Care Santos Schreibstil wieder einmal sehr genossen.

Veröffentlicht am 08.06.2019

Spannend und durchdacht, auch für Nicht-SF-Fans empfehlenswert

Myzel
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Mit „Myzel“ habe ich mich in ein Genre – Science Fiction – gewagt, das normalerweise überhaupt nicht mein Fall ist. Die Buchbeschreibung hatte mich angezogen und ich habe es nicht bereut, hier mal etwas ...

Mit „Myzel“ habe ich mich in ein Genre – Science Fiction – gewagt, das normalerweise überhaupt nicht mein Fall ist. Die Buchbeschreibung hatte mich angezogen und ich habe es nicht bereut, hier mal etwas Neues ausprobiert zu haben!

Es beginnt recht harmlos mit einer Gruppe Studenten, die mit ihrem Professor eine Forschungsexkursion auf die Schwäbische Alb machen. Wie man dem Klappentext schon entnehmen kann, geht es nicht so harmlos weiter. Der Grund für die Exkursion sind unbekannte Kreaturen, die nicht nur die Studenten, sondern bald auch eine brutale Staatsmacht auf den Plan rufen. Wie wir im Buch recht schnell erfahren, befinden wir uns im Jahre 2060 und in Deutschland hat sich eine Menge geändert – es ist ein totalitärer menschenverachtender Staat geworden.

So begeben wir uns eigentlich auf zwei Entdeckungsreisen – die auf der Suche nach Informationen über die Kreaturen und die in eine gar nicht so ferne Zukunft. Beide Reisen sind spannend, vielseitig und machen Spaß. Stefan Lochner benutzt drei verschiedene Erzählperspektiven, so wechseln wir zwischen der Studentengruppe, der ehemaligen Prostituierten Angelique (die mit ihrer direkten Art auch für humorvolle Momente sorgt und mein Lieblingscharakter war) und der polizeilichen Einsatztruppe. Diese Perspektivwechsel sind von Anfang an gut gelungen und verständlich, ermöglichen zudem immer neue Blickwinkel und geben dem Leser – nach und nach – das komplette Bild.

Der Schreibstil ist flüssig, an manchen Stellen allerdings holprig. Es gibt einige Dialoge und Abläufe, die unklar und verwirrend sind, Schliff benötigt hätten. Einige Begriffe werden zu oft verwendet, einige Dinge mehrfach erwähnt/erklärt. Sehr anstrengend fand ich die – für die Geschichte nicht relevante – Eigenschaft aller Charaktere, sich umgehend von allen andersgeschlechtlichen Menschen angezogen zu fühlen. Es gibt so gut wie keine Unterhaltung zwischen einem Mann und einer Frau, ohne flirtende oder zweideutige Bemerkungen, was manchmal etwas Pubertäres hat. Bei den drei Hauptpersonen tritt dies so gehäuft auf, daß es die ansonsten so gute Geschichte leider richtig stört.

Ein erneutes Lektorat wäre nicht nur aus den o.g. stilistischen Gründen, sondern auch zur Fehlerkorrektur nötig, die Fehler sind im höheren zweistelligen Bereich und somit doch sehr oberhalb der Toleranzgrenze.

Das war es aber auch an Kritikpunkten, denen dann viel richtig Gutes gegenübersteht. Der Spannungsbogen ist hervorragend – auf über 370 Seiten durchgehend die Spannung zu halten, ist schon eine bemerkenswerte Leistung. Ich war nie gelangweilt, wollte immer gleich weiterlesen. Dies liegt zum einen an den immer neuen Wendungen und dem guten Erzähltempo. Der andere Grund ist die geschickte Art, in der der Autor Informationen einbaut und vermittelt. Es gibt keine langen erzählerischen Hintergrundabsätze, die die Handlung aufhalten, es kommt nicht zu Info-Dumping und der Autor hat Mut zur Lücke. Manche Dinge sind nicht sofort klar, manches muß man sich aus den Zusammenhängen selbst kombinieren. Das gefällt mir und zeigt Respekt für den Leser, der nicht alles vorgekaut auf einem Tablett serviert haben möchte.

Die Welt von 2060 hat noch genug uns Bekanntes, was gerade für mich als Nicht-SF-Fan sehr angenehm war und dieses Buch auch für Leser zugänglich und empfehlenswert macht, die mit fremden künstlichen Welten nichts anfangen können. Daneben gibt es aber eben auch die gravierenden Änderungen zu heute, die alle plausibel sind und wichtige Themen ansprechen. Überwachung durch den Staat und die Perfektionierung dieser durch Vernetzung und technische Möglichkeiten, die uns heute schon recht bekannt sind. Die Rücksichtslosigkeit einer totalitären Regierung, die ihren Einsatzkräften die Wertlosigkeit des Lebens und den Spaß am Töten einimpft (für die es in der Geschichte und Gegenwart der Menschheit leider nur zu viele Vorbilder gibt). Die Macht des Staates, die so schnell mißbraucht werden und vor der man sich nie komplett sicher wähnen kann. Es ist faszinierend, wie durchdacht dieses 2060-Umfeld entworfen und geschildert wird.

Zu den Kreaturen selbst möchte ich nicht zu viel verraten, das soll man sich im Buch erlesen (und es lohnt sich!). Auch hier stellen sich interessante, auch ethische Fragen und es macht Spaß, immer neue Puzzlestücke zu ihnen zu bekommen.

Das Ende dann hätte besser gar nicht gestaltet sein können. Dieses gut aufgebaute spannende Buch war eine Lesefreude für mich.