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Veröffentlicht am 02.07.2024

Beklemmend

VIEWS
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Die erste Hälfte dieses Buchs habe ich verschlungen. Danach konnte ich nur noch kleine Häppchen von ein, zwei Kapiteln lesen, bevor ich eine Pause brauchte. Marc-Uwe Kling hat einen Richtung Thriller gehenden ...

Die erste Hälfte dieses Buchs habe ich verschlungen. Danach konnte ich nur noch kleine Häppchen von ein, zwei Kapiteln lesen, bevor ich eine Pause brauchte. Marc-Uwe Kling hat einen Richtung Thriller gehenden Roman vorgelegt, der mir als Science-Fiction oder Dystopie deutlich besser gefallen hätte. Dummerweise wirkt er aber realitätsnah sowie gut recherchiert und hat mich dadurch erst so richtig gegruselt. In einem Bericht zur Preview des Buches habe ich gelesen, dass der Autor der Känguru-Chroniken befürchtet hatte, die Realität könnte „Views“ noch vor der Veröffentlichung einholen. Man will es sich nicht vorstellen.

Und worum geht’s? Ein 16-jähriges Mädchen wird vermisst und taucht in einem verstörenden Video als Opfer mutmaßlicher Flüchtlinge wieder auf. Die Empörungsmaschinerie läuft an und gewinnt immer mehr an Fahrt. Während die polizeilichen Ermittlungen erfolglos bleiben, formiert sich eine Art Bürgerwehr, die Jagd auf die Täter machen will. Yasira Saad, Leiterin der zuständigen Soko beim BKA, steht unter immensem Druck. Und dann tauchen weitere Videos auf …

Mehr lässt sich an dieser Stelle kaum erzählen, ohne zu spoilern, und letzteres will ich auf keinen Fall – mich hat „Views“ nämlich mehrmals kalt erwischt, was den beklemmenden Gesamteindruck noch verstärkt hat. Marc-Uwe Kling führt hier gnadenlos vor Augen, wie fragil alles sein kann – das Leben an sich, der zivilisatorische Anstrich, der Rechtsstaat, die Demokratie … keine leichte Lektüre, obwohl sich „Views“ locker-flockig runterliest: kurze Kapitel und eine knackig erzählte Geschichte, die immer verstörendere Züge annimmt, bis hin zum für mich sehr unerwarteten Ende. Jetzt schwanke ich zwischen dem Wunsch nach einem schönen Feelgood-Roman – und dem nach einer Fortsetzung.

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Veröffentlicht am 23.06.2024

Charakterstudien

Long Island
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Irland, Anfang der 1970er Jahre. Eilis reist nach langer Zeit das erste Mal zurück in ihr Heimatstädtchen Enniscorthy. Vor fast 20 Jahren hat sie es verlassen, um mit ihrem Mann Tony auf Long Island zusammenzuleben. ...

Irland, Anfang der 1970er Jahre. Eilis reist nach langer Zeit das erste Mal zurück in ihr Heimatstädtchen Enniscorthy. Vor fast 20 Jahren hat sie es verlassen, um mit ihrem Mann Tony auf Long Island zusammenzuleben. Sie haben die zwei inzwischen fast erwachsenen Kinder Rosella und Larry bekommen und wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Tonys Eltern und den Familien seiner Brüder, wobei Eilis in dem italienischstämmigen Clan eine Exotin geblieben ist.
Nun ist etwas vorgefallen und Eilis braucht Abstand und reist zu ihrer Mutter. Doch nicht nur die lebt noch in Enniscorthy, auch Jim, der örtliche Pub-Besitzer, mit dem EIilis bei ihrem letzten Besuch eine Liaison hatte, ist noch vor Ort und hat ihre überstürzte Abreise zu einem Mann, von dessen Existenz er nicht mal wusste, nie komplett verwunden …

Es könnte der Beginn einer großen Liebesgeschichte über zweite Chancen und neues Glück sein – oder? In diese Kategorie passt „Long Island“ allerdings nur sehr bedingt. Vor allem geht es um drei Menschen – Eilis‘ Jugendfreundin Nancy ist auch noch eine wichtige Figur – die ihre Zukunft nochmal neu in die Hand nehmen wollen. Sie alle sind in unterschiedlichen Lebenssituationen und müssen herausfinden, was ihnen wichtig ist und welchen Preis sie dafür bereit sind zu bezahlen. Ihr Gefühlsleben ist widersprüchlich, ihre Entscheidungen sind komplex und die Folgen ihres Handelns eventuell unumkehrbar.

Autor Colm Tóibin, der selbst in Enniscorthy geboren wurde, schildert lakonisch, wie es seinen Hauptfiguren einen Sommer lang ergeht. Und obwohl keiner der drei ein totaler Sympathieträger ist, hat mich dieser grandios geschriebene Roman nicht mehr losgelassen. Der Autor schafft es, das Innenleben seiner Protagonistinnen so interessant zu erzählen, dass er die Handlung vermeintlich ruhig dahinplätschern lassen kann. Er hat ein ausgeprägtes Gespür für seine Charaktere, deren verschiedene Facetten erst nach und nach zum Vorschein kommen – auf dem Präsentierteller wird hier nichts geliefert, offen kommuniziert auch viel zu wenig. Und so müssen sich die Figuren einiges selbst zusammenreimen – ein Schicksal, dass sie mit den Romanleserinnen teilen. Vermutlich hat mich gerade das so gefesselt.

Bedauert habe ich, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, „Brooklyn“ vorab zu lesen oder zumindest den Film zu schauen. In dieser Vorgeschichte schildert Tóibín Eilis‘ Auswanderung und ihren ersten Sommer mit Jim. Um die Figuren schneller einordnen zu können, ist die Lektüre sicher hilfreich – außerdem macht „Long Island“ dann vermutlich noch mehr Spaß. Doch auch so hat mir das Buch sehr gefallen und ich habe die Hoffnung, dass Tóibín nochmal von Eilis, Jim und Nancy hören lassen könnte. Auserzählt ist diese Geschichte noch nicht.

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Veröffentlicht am 03.06.2024

Tod einer Kritikerin

Mord stand nicht im Drehbuch
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Der Titel dieses Buches hat mich gleich an einen gemütlichen, britischen Sonntagnachmittagskrimi erinnert. Doch gemütlich fühlt sich der Ich-Erzähler ganz und gar nicht, er steht nämlich unter Mordverdacht. ...

Der Titel dieses Buches hat mich gleich an einen gemütlichen, britischen Sonntagnachmittagskrimi erinnert. Doch gemütlich fühlt sich der Ich-Erzähler ganz und gar nicht, er steht nämlich unter Mordverdacht. Eine berüchtigte Theaterkritikerin hat sein gerade erstmals in London aufgeführtes Stück „Mindgame“ gnadenlos verrissen und wird am Morgen danach in ihrem Haus ermordet. Alle Indizien scheinen gegen Anthony Horowitz zu sprechen – den Protagonisten, der den Namen des echten Autors trägt und untrennbar mit ihm verschmilzt. Jetzt kann nur noch Privatdetektiv Daniel Hawthorne helfen, dem Horowitz allerdings gerade die Zusammenarbeit aufgekündigt hat. Es sieht nicht gut aus für den Erdenker von Alex Rider …

„Mord stand nicht im Drehbuch“ ist der vierte Titel, in dem Anthony Horowitz über Anthony Horowitz schreibt bzw. so charmant wie gewitzt den Eindruck erweckt, seine Krimis wären autobiografisch. Die ersten beiden kenne ich noch nicht, aber den dritten „Wenn Worte töten“ habe ich sehr begeistert gelesen. Eventuell dazu beigetragen hat die Tatsache, dass der Handlungsort ein Literaturfestival ist und es immer wieder um den Literaturbetrieb geht. Dieser Folgeband hat dagegen die Theaterszene zum Thema. Ich habe etwas länger gebraucht, um damit warm zu werden, doch nach einem ruhigen Einstieg nimmt der Krimi sehr an Fahrt auf und schließlich befragt Hawthorne in bester Hercule-Poirot-Manier den scheinbar überschaubaren Kreis der möglichen Täterinnen und Täter. Dem Hauptverdächtigen Horowitz bleibt dabei wieder die Rolle des im Dunkeln tappenden Sidekicks – zum einen hat mich das amüsiert, zum anderen muss ich gestehen, auch nicht mehr Durchblick gehabt zu haben als die Hauptfigur. Die raffinierte Auflösung ließ dann aber keine Fragen mehr offen. Ein richtig guter, unterhaltsamer Krimi, in dem die nächsten Bände erfreulicherweise bereits angeteasert werden. Ich freue mich darauf!

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Veröffentlicht am 13.05.2024

Buchliebe auf den ersten Blick

Yellowface
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Buchliebe auf den ersten Blick: Das Cover, die Leseprobe, der Farbschnitt mit dem tropfenden Füller – ich wusste sofort, das muss ich lesen. Romane, die den Literaturbetrieb thematisieren, mag ich sowieso, ...

Buchliebe auf den ersten Blick: Das Cover, die Leseprobe, der Farbschnitt mit dem tropfenden Füller – ich wusste sofort, das muss ich lesen. Romane, die den Literaturbetrieb thematisieren, mag ich sowieso, pointiert-Satirisches ebenfalls und wenn dann noch Richtig und Falsch verschwimmen und die Protagonistin Leserinnen und Leser auf ihre mutmaßlich dunkle Seite zieht, finde ich das ziemlich spannend. „Yellowface“ bietet all das und ist darüber hinaus sehr unterhaltsam geschrieben.

Zum Inhalt: June Hayward und Athena Liu, beide 27 Jahre alt, kennen sich seit dem Studium in Yale, das beide mit einem klaren Ziel vor Augen verfolgt haben: Sie wollten erfolgreiche Autorinnen werden. Athena hat es ein paar Jahre später geschafft, June nicht. Zwar hat auch sie einen Verlag gefunden, der ihren Debütroman veröffentlicht hat, doch der Titel fand keine große Aufmerksamkeit und ist mehr oder weniger versandet. Nun hat June eine Schreibblockade und Athena einen Netflix-Deal, auf den sie mit ihrer früheren Kommilitonin anstoßen will. Dass Athena an diesem ausgelassenen Abend das Zeitliche segnet, ist ein tragischer Unfall. Dass June ein unveröffentlichtes Manuskript von ihr einsteckt, eine Kurzschlussreaktion. Dass sie es lektoriert, weiterentwickelt und schließlich als ihres veröffentlicht, ein Coup – aber wird sie tatsächlich damit durchkommen?

Autorin Rebecca F. Kuang ist ein temporeicher, überraschender und extrem origineller Roman gelungen. „Yellowface“ setzt sich amüsant-intelligent und erstaunlich ergebnisoffen mit Themen wie dem Autorendasein, geistigem Eigentum und kultureller Aneignung auseinander. Die Irrungen und Wendungen haben mich vielfach verblüfft und gefesselt. Kurz vorm Finale driftet der Roman dann etwas ab und wird noch eine ganze Ecke abgedrehter als vorher. Das Ende fand ich allerdings wieder sehr stimmig und der Geschichte würdig. Ein cooles Buch und einer meiner zwei Frühjahrs-Favoriten.

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Veröffentlicht am 27.04.2024

Falsches Format für diesen Klassiker

Agatha Christie Classics: Die Tote in der Bibliothek
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„Die Tote in der Bibliothek“ ist ein Klassiker der Queen of Crime – Agatha Christies 31. Krimi, 1942 im englischen Original und 1943 auf Deutsch erschienen. Er wurde verfilmt und als Hörspiel und Hörbuch ...

„Die Tote in der Bibliothek“ ist ein Klassiker der Queen of Crime – Agatha Christies 31. Krimi, 1942 im englischen Original und 1943 auf Deutsch erschienen. Er wurde verfilmt und als Hörspiel und Hörbuch vertont. Jetzt ist er außerdem bei Carlsen als Graphic Novel erschienen, was mich doch neugierig gemacht hat. Das Cover fand ich modern und vielversprechend. Doch wie klappt die bildliche Umsetzung eines kompletten Krimis auf 64 Seiten?

Kurz zum Inhalt: „Die Tote in der Bibliothek“ wird bereits zu Beginn gefunden, im Haus des ehrwürdigen, älteren Colonel Bantry und seiner Frau. Sie liegt morgens vor den Bücherregalen – blond, jung, leicht bekleidet und mausetot. Das Ehepaar hat die Frau noch nie gesehen, doch dass sie in ihrem Haus gefunden wird, macht natürlich keinen guten Eindruck. Außer der Polizei ruft Mrs. Bantry deswegen auch gleich ihre Freundin Jane Marple, die sich – zunächst zum Ärger der Ermittler Chief Constable Melchett und Inspektor Flem – selbst umhört. Bald stellt sich heraus, dass die Tote als Tänzerin in einem Hotel gearbeitet hat und ein älterer Gast ihr so zugetan war, dass er sie in seinem Testament berücksichtigen wollte. Doch seine sonstigen Erben haben wasserdichte Alibis und der Fall wird immer undurchsichtiger …

„Die Tote in der Bibliothek“ ist eine raffinierte Geschichte – wer sie noch nicht kennt, tappt vermutlich lange im Dunkeln. Wenn ich Krimis lese, rätsel ich immer gerne mit; nehme aber an, dass man beim Lesen der Graphic Novel gar nicht dazu kommt. Hier geht alles Schlag auf Schlag, man lernt die Charaktere gar nicht richtig kennen und hat keine Möglichkeit, auf Zwischentöne oder Anspielungen zu achten. Generell geht leider vieles verloren, was die Krimis von Agatha Christie ausmacht. Darüber hinaus wirkt Miss Marple wie eine nervige Besserwisserin, die ständig aus dem Nichts auftaucht und sich einmischt – und sie sieht kein bisschen aus wie Margaret Rutherford! Fair enough, aber die sehe ich einfach vor mir, wenn ich einen Miss-Marple-Krimi lese. Doch auch das Gesamtbild war für mich nicht stimmig. Die Geschichte kann sich nicht so aufbauen wie im Roman, Emotionen bleiben auf der Strecke (außer bei Inspektor Flem, der Ärger und Ungeduld stets freien Lauf lässt – das allerdings in einem Ton, der nicht zu Agatha Christies Krimis passt). Wer „Die Tote in der Bibliothek“ nicht kennt, ist vermutlich nicht so kritisch mit der Graphic Novel und auch mir haben die Illustrationen an sich eigentlich gefallen. Trotzdem tat es mir leid um die Geschichte. Für sie ist es einfach nicht das richtige Format.

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