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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.06.2017

Das Streben nach Perfektion

Die nachhaltige Pflege von Holzböden
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Nein, keine Angst, hinter dem Titel versteckt sich keine Gebrauchsanweisung aus dem Baumarkt – auch wenn Holzböden in dem Debütroman von Will Wiles tatsächlich eine große Rolle spielen. Doch es geht auch ...

Nein, keine Angst, hinter dem Titel versteckt sich keine Gebrauchsanweisung aus dem Baumarkt – auch wenn Holzböden in dem Debütroman von Will Wiles tatsächlich eine große Rolle spielen. Doch es geht auch noch um so viel mehr.

Alles fängt damit an, dass der Ich-Erzähler in eine osteuropäische Stadt reist, um für ein paar Tage auf die Wohnung und die Katzen seines Studienfreundes Oskar aufzupassen. Dieser weilt derweil in Kalifornien, um seine Scheidung zu regeln. Was sich so harmlos anhört, steuert aber bald auf eine Katastrophe zu. Kaum betritt der Erzähler Oskars exquisit eingerichtete Wohnung, fallen ihm schon die unzähligen Notizzettel überall auf. Oskar, immer schon sehr pedantisch, hat in allen Ecken Anweisungen für seinen Wohnungshüter hinterlassen, damit auch ja nichts schief geht. Besonders der kostbare und überempfindliche Holzboden aus französischer Eiche darf keinen Schaden nehmen. Nur dumm, dass der Erzähler das absolute Gegenteil von Oskar ist – nämlich sehr chaotisch. Und so kommt, was kommen muss. Der Erzähler stolpert von einem Schlamassel ins nächste. Fast hat man schon Mitleid mit dem Protagonisten, wenn man ihn dabei beobachtet, wie er versucht, seine Missgeschicke auszubügeln und alles nur noch schlimmer macht. Auch wenn sich das jetzt alles stark nach Slapstick anhört, ist es das aber auf keinen Fall. Im Gegenteil: der Roman steckt zwar voller rabenschwarzem, britischem Humor, der kommt allerdings eher versteckt daher. Generell ist der Roman sogar recht ruhig. Wer also Comedy á la Mr. Bean erwartet, wird wohl eher enttäuscht sein. Was den Leser aber durch die Geschichte gleiten lässt, ist der ausgefeilte, niveauvolle Erzählstil. Und am Ende stellt sich heraus, dass es die ganz Zeit um viel mehr ging als um den Holzboden – nämlich um Freundschaft und das Streben nach Perfektion.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Tango, Schach, Gigolos und die Liebe

Dreimal im Leben
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Es beginnt mit einem glühenden Tango auf einem Kreuzfahrtschiff Richtung Buenos Aires und endet mit einem Schachturnier in Sorrent. Dazwischen entspinnt sich eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, die ...

Es beginnt mit einem glühenden Tango auf einem Kreuzfahrtschiff Richtung Buenos Aires und endet mit einem Schachturnier in Sorrent. Dazwischen entspinnt sich eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, die alle Zeit zu überdauern scheint. Arturo Pérez-Reverte hat mit seinem Roman „Dreimal im Leben“ einen wunderschönen, sehnsuchtsvollen Roman geschaffen, der einen in die abenteuerliche Welt der Liebe, der Leidenschaft, der Gigolos und des Verbrechens entführt.

Die beiden Protagonisten heißen Max und Mecha. Als sie sich das erste Mal begegnen, schreiben wir das Jahr 1928. Er, gutaussehend, charmant, heißblütig, arbeitet als Eintänzer auf einem Ozeandampfer. Sie, jung, elegant, betörend schön, ist die Frau eines berühmten Komponisten. Der Tango bringt die beiden zusammen. In Buenos Aires angekommen soll Max dem Ehepaar den unverfälschten, ursprünglichen Tango zeigen und so landet das Trio in einer anrüchigen Bar. Doch diese Nacht ändert alles. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg laufen sich Max und Mecha unter völlig anderen Umständen in Nizza über den Weg. Doch es müssen nochmal fast 40 Jahre vergehen, ehe die Geschichte der beiden bei der Schachweltmeisterschaft in Sorrent ein Ende nimmt.

Pérez-Reverte erzählt sehr elegant, atmosphärisch und bildgewaltig. Man spürt regelrecht die Kraft der Musik und gerade die Szenen in der etwas zwielichtigen Bar in Buenos Aires sind sehr stimmungsvoll beschrieben. Sehr gelungen fand ich auch die Charaktere, die doch sehr außergewöhnlich und – für eine Liebesgeschichte – auch etwas ungewöhnlich waren. Max der undurchsichtige Gigolo, der es faustdick hinter den Ohren hat, ein Gentleman, aber auch ein Gauner. Mecha, die abgebrühte Schöne, die einerseits so verletzlich wirkt, sich aber nicht verletzen lässt. Nebenbei erfährt man auch noch einiges über die Geschichte des Tangos und Schach. Ein toller Roman voller wehmütiger Nostalgie, sinnlich und melancholisch.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Der Untergang einer scheinbar perfekten Familie

Die Geschichte der Baltimores
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Nach seinem erfolgreichen Erstlingsroman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ hat der Schweizer Autor Joel Dicker nun seinen zweiten Roman „Die Geschichte der Baltimores“ vorgelegt. Diesmal weniger ...

Nach seinem erfolgreichen Erstlingsroman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ hat der Schweizer Autor Joel Dicker nun seinen zweiten Roman „Die Geschichte der Baltimores“ vorgelegt. Diesmal weniger ein Krimi, sondern eher ein Familiendrama. Trotzdem zeigen sich Parallelen zum Erstlingswerk – wer also von „Harry Quebert“ begeistert war, wird es auch von diesem Roman sein. Die Parallelen beginnen schon damit, dass Dicker den gleichen Erzähler wählt: Marcus Goldman, ein junger, aufstrebender New Yorker Schriftsteller. Diesmal nur klärt er keinen Mordfall auf, sondern wird von der eigenen Vergangenheit eingeholt und versucht hinter ein dunkles Familiengeheimnis zu kommen.

Marcus hat sich nach Florida zurückgezogen, um eigentlich in Ruhe an seinem neuen Roman schreiben zu können. Aber eine zufällige Begegnung mit seiner Jugendliebe Alexandra lässt die Schatten der Vergangenheit wieder auferstehen und katapultiert Marcus wieder zurück in seine Kindheit und Jugend. Eine Zeit, als er sich für sein mittelständisches Elternhaus in Montclair schämt und nichts sehnlichster wünscht, als zur Familie seines Onkels in Blatimore zu gehören – eine scheinbar perfekte Familie: erfolgreich, wohlhabend, sympathisch. Jede Ferien verbringt Marcus bei seinem Onkel; sein Cousin Hillel und dessen Adoptivbruder Woody werden seine besten Freunde. Doch eines Tages geschieht eine Katastrophe, durch die die heile Welt zerbricht. Erst jetzt, Jahre später, findet Marcus heraus, was wirklich der Auslöser des ganzen Elends war.

Wie schon in seinem Erstling, beweist Dicker auch in seinem zweiten Roman sein Erzähltalent: Mit Hilfe von Rück-, Vorblenden und Cliffhangern baut er eine so immense Spannung auf, dass sich das Familiendrama stellenweise wie ein Thriller liest. Ich war gleich vom ersten Satz an in der Geschichte drin und bin nur so durch die Seiten geflogen. Trotz der verschiedenen Zeitebenen und Nebenstränge verliert Dicker nie den roten Faden und man kann der Handlung gut folgen. Diese Art des Erzählens vertuscht auch ein bisschen die Schwächen des Romans: so waren mir einige Handlungsstränge und Begebenheit doch zu arg konstruiert – wie etwa das Wiedersehen zwischen Marcus und Alexandra. Auch wenn Dicker schon bemüht ist, die Hintergründe für das Handeln seiner Figuren zu erklären, gibt es doch Begebenheiten, die mir am Ende fast zu oberflächlich abgehandelt wurden, wo mir etwas mehr Tiefe gefehlt hat – beispielsweise bei der Geschichte zwischen Saul und Patrick. Relativ gut gelungen wiederum sind Dicker seine Charaktere, sie sind tatsächlich sehr komplex, gefangen zwischen Gefühlen wie Eifersucht, Bewunderung, Hass, Neid und Liebe.

Im Großen und Ganzen ist Dickers Rezept aber aufgegangen: Er hat einen wunderbar spannenden und kurzweiligen Unterhaltungsroman geschaffen und was will man mehr?

Veröffentlicht am 04.06.2017

Nah an der Grenze zum Nackenbeißer

Flamme von Jamaika
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Rote Blütenblätter, ein halbnacktes Paar in leidenschaftlicher Umarmung – so präsentiert sich das Buchcover von „Flamme von Jamaika“ und gibt auch schon gleich mal einen Vorgeschmack auf das, was einen ...

Rote Blütenblätter, ein halbnacktes Paar in leidenschaftlicher Umarmung – so präsentiert sich das Buchcover von „Flamme von Jamaika“ und gibt auch schon gleich mal einen Vorgeschmack auf das, was einen im Buch erwartet. Denn der historische Roman von Martina André bewegt sich schon sehr nah an der Grenze zum Nackenbeißer: Wir schreiben das Jahr 1831 und treffen auf die deutsche Kaufmannstochter Helena Huvstedt, sehr hübsch, sehr blond, sehr naiv. Ihr Vater ist auf der Suche nach einem geeigneten Ehemann für sie und die Wahl fällt auf Edward Blake, einziger Erbe eines reichen Plantagebesitzers auf Jamaika. Weil Edward äußerst attraktiv ist und weis, wie man junge, unerfahrene Mädchen bezirzt, verfällt ihm Helena sofort und kann es gar nicht mehr erwarten, die Schiffsreise auf die Karibikinsel anzutreten, um dort seine Frau zu werden. Auf Jamaika angekommen, merkt Helena aber schon bald, dass Edward eigentlich ein ziemlicher Gewalttäter und Egoist ist. Vor allem, wie er mit seinen Sklaven umgeht, macht Helena fassungslos. Als sie versucht, zu fliehen, gerät sie in die Fänge einer Rebellenorganisation. Denn auf der Insel geht es gerade ziemlich rund: Jamaika steht kurz vor einem Sklavenaufstand. Auch Rebellenanführer Jess ist natürlich ein Bild von einem Mann, muskelbepackt, langhaarig, geheimnisvoll und auch noch gebildet – ein echter Revoluzzer eben. Und wie soll man es auch anders erwarten: Helena und Jess verlieben sich unsterblich ineinander. Wer also zu diesem Roman greift, muss sich schon auf eine große Portion Drama und Leidenschaft gefasst machen.

Ein weiteres Nackenbeißer-Indiz: Die Charaktere sind extrem schwarz/weiß gezeichnet: Entweder sind sie die größten Scheusale oder Engel auf Erden. Zwischendurch geizt die Autorin nicht mit Sexszenen, bei denen sie sprachlich fast schon ins pornöse abdriftet.

Man wird es ahnen: So ganz mein Fall war diese Liebesschmonzette nicht. Dennoch muss ich zugeben, dass mich der Roman gerade am Anfang doch auch auf gewisse Weise unterhalten hat. Historische Grundlage für den Roman ist der Weihnachtsaufstand der Sklaven auf Jamaika im Jahr 1831 unter der Führung von Samuel Sharpe. Über diesen Freiheitskampf der Sklaven erfährt man einiges und generell bringt Martina André die Lebensumstände der Sklaven und auch die Grausamkeit der Sklavenhalterei recht gut rüber. Ränkespiele, Voodoo-Zaubereien und eben die leidenschaftliche Liebegeschichte machen die Geschichte zeitweise recht spannend und man beginnt irgendwann schon ein bisschen mit Helena und Jess mit zu fiebern. Zum Ende hin waren mir die an den Haaren herbeigezogenen und telenovelaartigen Wendungen sowie das ewige Liebesgeturtle dann aber doch etwas zu viel des Guten und ich hab die letzten Seiten dann nur noch überflogen. Im Großen und Ganzen ist dieser Roman nichts, was ich nochmal lesen würde. Wer auf der Suche nach einer spannenden Schmonzette ist, die vor exotischer Kulisse spielt, kann mal einen Blick auf diesen Roman werfen.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Portrait einer amerikanischen Kleinstadt

Heartland
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Bashford – ein fiktiver Ort im mittleren Westen der USA. Ein Ort, den man aber trotzdem mühelos überall in den ländlichen Gegenden der USA finden könnte: Ca. 50.000 Einwohner, ein eher unterklassiges College, ...

Bashford – ein fiktiver Ort im mittleren Westen der USA. Ein Ort, den man aber trotzdem mühelos überall in den ländlichen Gegenden der USA finden könnte: Ca. 50.000 Einwohner, ein eher unterklassiges College, ein Wal-Mart-Supercenter und drei McDonalds. Kultur- und Freizeitmöglichkeiten sucht man vergebens. Es gibt ein Villenviertel, in dem die wenigen Reichen der Stadt wohnen, die klassischen Einfamilienhaus-Siedlungen des Mittelstands und den Trailerpark, in dem die unterste Schicht der Gesellschaft haust. Und es gibt den einen großen Arbeitgeber, bei dem die halbe Region beschäftigt ist. In Joey Goebels fiktivem Bashford ist das die Westway Zigarettenfabrik. Die Unternehmerfamilie Mapother ist somit die reichste und einflussreichste Familie im gesamten Umkreis der Stadt. Eines fehlt dem Mapother-Clan aber noch: Ein Sitz im Kongress. Den soll Stammhalter John holen. Doch John ist auch der typische reiche Unternehmersohn, dem vor allem der Zugang zu den unteren Gesellschaftsschichten fehlt – die ja immerhin der Großteil der Wähler sind. Diese zu fangen, dabei soll ihm sein kleiner Bruder Blue Gene helfen. Blue Gene, die Hauptfigur des Romans, hat vor vier Jahren den Kontakt zu seiner Familie vollständig abgebrochen, lebt freiwillig im Trailerpark und verdient sein Geld mit Flohmarktverkäufen. Eher unfreiwillig lässt sich Blue Gene breit schlagen, seinem Bruder beim Wahlkampf zu helfen – dabei macht er eine große Wandlung durch und deckt ein tief vergrabenes Familiengeheimnis auf.

„Heartland“ nur auf ein Genre zu reduzieren wird schwer – Goebel hat zum einen ein gelungenes, scharf beobachtetes Portrait einer typischen Kleinstadt im mittleren Westen vorgelegt. Genauso ist „Heartland“ aber auch eine spannend erzählte Familiensaga, Gesellschaftskritik und politisches Lehrstück mit utopischen Zügen. Richtig gut fängt der Roman die Probleme der amerikanischen „Working Poor“ ein – wie es sich lebt, ohne Krankenversicherung; warum man sich trotz Arbeit keine Wohnung und kein anständiges Essen leisten kann. Auch über die Tricks im Wahlkampf und das Wahlverhalten der Amerikaner erfährt der Leser einiges. Die Charaktere sind extrem gut ausgearbeitet und bleiben im Gedächtnis hängen, weil sie auch sehr außergewöhnlich sind. Am Ende gelingt es Goebel aus der Perspektive der Provinz die Probleme und Politik eines ganzen Landes zu charakterisieren.

Zugegeben, der über 700 Seiten starke Roman hat ein paar unnötige Längen – gerade einige Dialoge drehen sich manchmal etwas im Kreis und so wirkt die Geschichte am Ende etwas überladen. Aus diesem Grund hat mir „Heartland“ nicht ganz so gut gefallen, wie Goebels Romane „Vincent“ und „Ich gegen Osborne“. Trotzdem hab ich den Roman gern gelesen und kann ihn nur weiterempfehlen – gerade auch im Hinblick auf die vergangene Präsidentschaftswahl in den USA. Ein kluges, ernstes Buch.