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Veröffentlicht am 04.06.2017

Schmutzige Phantasien einer Hausfrau

Mädchen für alles
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Die Bücher von Charlotte Roche sind ja bekanntermaßen recht umstritten. Einige feiern sie, gefühlt noch viel mehr hassen sie. In jedem Fall wird jedes Mal ein ziemlicher Wirbel um die Bücher veranstaltet. ...

Die Bücher von Charlotte Roche sind ja bekanntermaßen recht umstritten. Einige feiern sie, gefühlt noch viel mehr hassen sie. In jedem Fall wird jedes Mal ein ziemlicher Wirbel um die Bücher veranstaltet. Ich mache mir da ja gerne immer ein eigens Bild. Ihren ersten Roman „Feuchtgebiete“ wollte und will ich aber nicht lesen, weil ich gerade bei solchen Themen rund um Exkremente und Körperflüssigkeiten doch recht empfindlich bin. „Schoßgebete“ hat mich aus diversen Gründen auch nie so wirklich angesprochen. Der Klappentext zu ihrem dritten Roman „Mädchen für alles“ klang jetzt aber doch recht interessant. Um es gleich mal vorweg zu sagen: Der Roman ist für mich jetzt keine literarische Offenbarung, aber so schlecht und schlimm, wie viele sagen, fand ich den Roman jetzt auch nicht.

Erzählt wird der Roman aus der Sicht von Christine, die im Grunde an einer ausgewachsenen Despression leidet. Sie ist verheiratet und hat eine kleine Tochter – kann aber weder zu Mann noch Kind eine Beziehung aufbauen. Eigentlich bekommt sie gar nichts auf die Reihe. Den lieben langen Tag macht sie kaum etwas anderes als schlafen oder befördert sich mithilfe von Alkohol und Drogen in einen komatösen Zustand. Um sie im Haushalt zu unterstützen stellt ihr Mann eine junge Studentin als Babysitterin und Haushaltshilfe ein. Marie kann nicht nur alles, sondern sieht auch noch super aus. Bevor ihr Mann sie kriegt, denkt Christine, nimmt sie sie doch lieber selber. Und schon bald befinden sich Marie und Christine auf einer unmoralischen Reise mit einem gefährlichen Ziel.

Obwohl Christine doch recht traumwandlerisch durchs Leben geht, sind ihre Gedanken aber keinesfalls einschläfernd. Im Gegenteil: Christines Gedanken sind sogar recht erfrischend und unterhaltsam. Dazwischen hat sie auch immer mal wieder Gewaltphantasien, die aber zum Teil viel zu absurd und übertrieben daher kommen, um sie als wirklich brutal zu bezeichnen. So ähnlich wie bei einem Tarantino-Film eben. Getragen wird die Geschichte auch von ein paar ganz netten, witzigen Ideen: So darf Christine beispielsweise keinen Sport machen, weil ihr Ehmann Leute, die Sport machen, schrecklich findet. Weil sie aber zunimmt, macht Christine heimlich Sport und muss sich dafür, wie bei einem heimlichen Date, aus dem Haus schleichen. Ihre Bauchmuskeln versteckt sie sorgfältig unter ihrem Bauchfett. Ein bisschen versext ist das Buch natürlich auch, aber auch das fand ich im Rahmen und nicht wirklich abstoßend. Es geht halt um das Thema Sex unter Frauen und Kontrollfantasien – alles keine Tabuthemen mehr.

Über die Sprache lässt sich bestimmt streiten. Der Schreibstil ist schon ein bisschen frei Schnauze und eher minimalistisch. Die Sätze sind kurz und generell bedient sich Charlotte Roche dem etwas dümmlichen Jugendsprech, wie wir ihn von Instagram, Youtube und Co. kennen. Das war für mich anfangs zwar gewöhnungsbedürftig, aber nicht so störend, um das Buch deswegen schlechter zu finden. Und um ehrlich zu sein, ist mir so etwas allemal lieber, als die aufgesetzte, pseudorebellische und pseudointellektuelle Sprache, derer sich andere Autoren ähnlicher Werke oft bedienen (z.B. Helene Hegemann in Axolotl Roadkill). Zu der Figur Christine und ihren Gedanken hat die Sprache meiner Meinung recht gut gepasst und sie sehr authentisch gemacht.

In der Summe also ein recht guter, wenn auch spezieller Roman, in dem es im Grunde um unglückliches Mutterdasein geht – ein Thema, das momentan auch noch recht aktuell ist - man denke nur an #regrettingmotherhood.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Nach dem Ende der Welt

Die Straße
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Es ist eine innere Eiseskälte, die einen beschleicht, wenn man dieses Buch am Ende zuklappt. Eine dumpfe Leere. Nein, für weiche Gemüter ist dieser Roman nichts. Cormac McCarthy beschreibt darin eine Welt, ...

Es ist eine innere Eiseskälte, die einen beschleicht, wenn man dieses Buch am Ende zuklappt. Eine dumpfe Leere. Nein, für weiche Gemüter ist dieser Roman nichts. Cormac McCarthy beschreibt darin eine Welt, die es eigentlich nicht mehr gibt. Die Erde ist zerstört, wüst und leer. Was die Erde zerstört hat, verrät McCarthy nicht; wie lange das Unglück zurückliegt, kann man nur anhand einiger Indizien erahnen. In dieser Welt nach dem Ende der Welt wandern ein namenloser Mann und sein namenloser Sohn umher. Bewaffnet mit einem Colt, der nur noch zwei Patronen hat, wollen sie in Richtung Süden. Auf dem Weg dahin nichts als Leere, Angst und Gefahr – und trotzdem auch so viel Hoffnung und Zärtlichkeit und immer wieder der Versuch, in dieser furchtbaren Situation die Menschlichkeit zu bewahren. Gerade dieser Kontrast zwischen der kargen und lebensfeindlichen Umwelt und der zärtlichen Liebe zwischen Vater und Sohn ist McCarthy extrem gut gelungen. Erzählt wird die Geschichte recht monoton. Im Mittelpunkt der Erzählung steht hauptsächlich der tägliche Überlebenskampf der beiden Protagonisten. Ganz selten leuchten kurz ein paar Rückblenden auf, die nur spärlich Hinweise auf die Vergangenheit von Vater und Sohn geben. Viel über die Figuren erfährt man nicht. Es spielt aber ohnehin alles keine Rolle mehr in dieser Welt. „Die Straße“ ist ein ungeheuer finsterer Roman, der aber auch zeigt, wie wichtig es ist, Hoffnung zu haben, auch wenn es offensichtlich keine Hoffnung mehr gibt. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 04.06.2017

Demontage der Wohltätigkeits-Lobby

Greenwash, Inc.
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Oh wie böse – dieser Gedanke manifestiert sich einem schon nach wenigen Seiten ins Gehirn und bleibt dort auch bis zum Schluss hängen. Mit „Greenwash Inc.“ ist Karl Wolfang Flenders ein bemerkenswerter ...

Oh wie böse – dieser Gedanke manifestiert sich einem schon nach wenigen Seiten ins Gehirn und bleibt dort auch bis zum Schluss hängen. Mit „Greenwash Inc.“ ist Karl Wolfang Flenders ein bemerkenswerter Debüt-Roman gelungen: eine zynische, aber auch extrem gute Satire auf die Wohltätigkeitsindustrie, den Nachhaltigkeitstrend und den Bio-Wahn unserer Zeit. Gleichzeitig hinterfragt Flenders die zum Teil fragwürdigen Methoden der PR-Branche.

Protagonist Thomas Hessel ist ein unsympathischer Yuppie aus dem Bilderbuch: Er sieht immer gepflegt und gestylt aus, fährt ein französisches Retro-Rennrad, wetteifert mit Kollegen über sportliche Erfolge und nicht selten pusht er sich mit Koks oder beruhigt sich mit Tranquilizern. Angestellt ist Thomas bei der PR-Agentur Mars & Jung – spezialisiert auf globale Öko-PR und Krisenkommunikation. Thomas Hauptgeschäft sind sogenannte Hope Stories: Geschichten, die er für große Unternehmen in Dritte-Welt-Ländern inszeniert, um deren wohltätiges Engagement in den Medien zu platzieren. Dass es dabei nicht immer mit der Wahrheit zugeht, kann man sich denken.

Beim Lesen schwankt man permanent zwischen Schadenfreude und Entsetzen – so grotesk und bitterböse wird einerseits die Öko-Lobby zerlegt, so erschreckend ist es aber auch zu lesen, mit welcher Skrupellosigkeit Thomas Hessel vorgeht, um die Lügen zu produzieren, die der Konsument gerne hören möchte. Ein intelligenter, spannender Roman.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Ein Blick hinter die Fassade

Am Ende des Schweigens
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Ein idyllischer Urlaub unter Freunden, der zu einem Höllentrip wird: Seit Jahren verbringen drei eng befreundete deutsche Ehepaare samt Kindern ihre gesamten Ferien zusammen auf einem romantischen Landsitz ...

Ein idyllischer Urlaub unter Freunden, der zu einem Höllentrip wird: Seit Jahren verbringen drei eng befreundete deutsche Ehepaare samt Kindern ihre gesamten Ferien zusammen auf einem romantischen Landsitz in Yorkshire. Treibende Kraft der Clique sind die drei Männer Alexander, Tim und Leon, die seit ihrer Schulzeit wie Pech und Schwefel aneinander hängen. Auch in diesen Osterferien finden sich die Familien wieder in dem kleinen Dorf ein – diesmal jedoch mit einem Neuzugang in der Runde: Jessica, die neue Frau an Alexanders Seite. Schon bald merkt Jessica, dass die vermeintliche Harmonie zwischen den Freunden trügt. Und dann wird das idyllische Anwesen Schauplatz eines furchtbaren Verbrechens. Ein Verbrechen, das ein jahrelanges Schweigen beendet. „Am Ende des Schweigens“ ist wieder einmal ein brillanter Roman von Charlotte Link – spannend, unterhaltsam, mit einer logisch durchdachten Geschichte und einer beklemmenden Atmosphäre. Am meisten hat mich wieder einmal fasziniert, wie detailliert und authentisch Charlotte Link ihre Charaktere zeichnet und wie psychologisch dicht sie die Handlung entwirft. Es ist, als würde man tief in die Seelen der Figuren blicken. Einziges Manko der Bücher ist, dass sie unter dem Label „Krimi und Thriller“ laufen. Hartgesottene Thriller-Fans können aber mit großer Wahrscheinlichkeit mit Charlotte Links Büchern nichts anfangen. Für einen echten Thriller sind sie zu langatmig und man ahnt einfach schon viel zu früh, wer der Täter ist. Darauf kommt es aber bei diesen Romanen gar nicht an, es ist viel mehr immer die Frage: „Warum tut ein Mensch so etwas“, die im Vordergrund steht. Jedem, der sich für psychologische Roman interessiert, kann ich „Am Ende des Schweigens“ aber empfehlen.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Zwischen Depression und Witz

Die Zunge Europas
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Eine Woche im Leben eines äußerst frustrierten Gag-Schreibers: „Die Zunge Europas“ ist Heinz Strunks zweites Werk nach seinem Erfolgsroman „Fleisch ist mein Gemüse“. Parallelen zum Erstling sind deutlich ...

Eine Woche im Leben eines äußerst frustrierten Gag-Schreibers: „Die Zunge Europas“ ist Heinz Strunks zweites Werk nach seinem Erfolgsroman „Fleisch ist mein Gemüse“. Parallelen zum Erstling sind deutlich zu erkennen, nur dass aus dem pickeligen Heinzer, der ein deprimierendes Dasein als Tanzkapellenmusikant fristet, der 34 Jahre alte Markus Erdmann geworden ist – ein frustrierter, einsamer, in allen Belangen des Lebens zu kurz gekommener Mann. Markus schreibt ohne große Leidenschaft und ohne großen Erfolg Bühnenprogramme für den Komiker Sven. Jeden Sonntag isst er Mittag bei seinen Großeltern in der Käfersiedlung – der Großvater dement, die Großmutter überfordert und die Beziehung zu Dauerfreundin Sonja dümpelt auch nur noch so vor sich hin. Sieben Tage lang begleitet der Leser nun Markus durch sein trostloses, ereignisloses Dasein. Interessant und lesenswert wird der Roman aufgrund von Markus Erdmanns Gedankengängen. Mit scharfen Augen beobachtet er seine Umgebung und seziert gnadenlos seine gesamte Umwelt – sei es im Café, in den Diskos auf der Hamburger Reeperbahn, im Zug oder vor dem eigenen Fernseher. Ihr Fett weg bekommen vor allem die deutsche Comedy und die aktuellen TV-Formate. Sprachlich finde ich den Roman brillant: diese Mischung aus tiefer Depression und Witz, die genau Beobachtungsgabe, das Spiel mit Formulierungen und die Tiefe zwischen den Zeilen. Ein wirklich intelligentes, unterhaltsames Buch.