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Veröffentlicht am 07.03.2023

Eine Slowburn Enemies-to-Lovers-Romanze mit überraschendem Witz und emotionalem Tiefgang

Das irrationale Vorkommnis der Liebe – Die deutsche Ausgabe von »Love on the Brain«
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Handlung: Nachdem mir "The Love Hypothesis" so gut gefallen hat, habe ich beschlossen, die anderen Bücher von Ali Hazelwood ebenfalls zu lesen. Angefangen habe ich mit "Love on the Brain", welches mich ...

Handlung: Nachdem mir "The Love Hypothesis" so gut gefallen hat, habe ich beschlossen, die anderen Bücher von Ali Hazelwood ebenfalls zu lesen. Angefangen habe ich mit "Love on the Brain", welches mich sogar noch mehr überzeugen konnte als ihr erstes Werk. Genau wie "The Love Hypothesis" besteht auch die Geschichte von Bee und Levi praktisch nur aus Tropes - Haters-to-Lovers, Slowburn, Forced Proximity, Grumpy-and-Sunshine -, welche gepaart mit minimalen Krimielementen und einer geheimen Internetidentität einen insgesamt recht vorhersehbaren Plot ergeben. Wurde ich inhaltlich überrascht? Nicht wirklich. Erzählt die Autorin hier etwas Neues? Muss ich ebenfalls verneinen. Habe ich diese charmant, unterhaltsam und gewitzt erzählte Geschichte trotzdem mit jeder Seite mehr geliebt? Auf jeden Fall! Ali Hazelwood erzählt hier abermals eine Romanze mit überraschendem Witz und emotionalem Tiefgang, in der zwei sozial unbeholfene Wissenschaftler von Feinden, zu Freunden, zu Liebenden werden.

Schreibstil
: Passend zum Titel und Bees Forschungsfeld sind die 25 Kapitel von "Love on the Brain" mit einer Gehirnregion und einer im Kapitel vorkommenden Emotion oder Kognition benannt. Mit 354 Seiten ist die Geschichte etwas länger als "The Love Hypothesis", dennoch bin ich geradezu durch die Seiten geflogen. Denn Ali Hazelwood schreibt frisch, unterhaltsam und versteht es ihr Academia-Setting mit einem charmanten Augenzwinkern auf den Punkt zu bringen. Sehr gut gefallen hat mir auch, dass die Autorin hier auch auf die Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft und die großen und kleinen Problemen, die sich daraus ergeben, eingeht. Besonders gelacht habe ich dabei über die kreativen Begriffe wie WurstFest™, Cockcluster, Meatwave, Brodeo, oder "Dickspolision in the Testosteroven", die sie für rein männerdominierte Arbeitsgruppen ausdenkt. Legendär ist auch das sogenannte Sausage Referencing™, das den nervtötenden Umstand in Worte kleidet, dass die Meinung oder der Beitrag einer Frau erst dann ernst genommen wird, wenn er von einem Mann nochmal wiederholt oder bekräftigt wird. Super fand ich ebenfalls, wie die Autorin durch die von Bee gestartete Champagne #FairGraduateAdmissions auf ihrem Twitter-Account @WhatWouldMarieCurieDo darauf eingeht, wie standardisierte Tests Randgruppen und finanziell schwächere Menschen diskriminiert und von höherer Bildung fernhalten. Neben der treffsicheren Darstellung des Lebens von Frauen in STEM (Science, Technology, Engineering and Maths) ist die Geschichte auch auf anderen Ebenen herrlich nerdig. Dank Ali Hazelwood habe ich nun nicht nur Lust, mal wieder einen Star Wars Rewatch zu machen und eine Katze zu adoptieren, ich kenne nun auch viele witzige Fakten über Marie Curie, Geister und Neurostimulation. Mit Themen wie Industriespionage, finanzielle Unsicherheit, Verlust von Angehörigen, Einsamkeit, sexueller Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz hat die Geschichte durchaus auch ihre etwas düsteren Seiten, welche durch den beschwingten Erzählton jedoch gut ausgeglichen werden.

Figuren:
Aus der Ich-Perspektive von Bee werden die Gefühle, die sich langsam zwischen ihr und Levi entwickeln, sowie die vielen schrägen Situationen, in die die beiden sich hineinmanövrieren, gut nachvollziehbar und greifbar dargestellt. Die beiden sind in ihrer komplementären Gegensätzlichkeit einfach ZUCKER. Während Bee mit ihren Piercings, den bunten Haaren und ihrem miesen parasympathischen Nervensystem, das sie ständig in Ohnmacht fallen lässt, ein absoluter Sonnenschein ist, viel zu viel redet und sich von ihrem Impulsen tragen lässt, ist Levi ein zugeknöpfter, einsilbiger Ingenieur, der seine Gefühle schlecht ausdrücken kann. Zumindest denkt Bee das zunächst. Je näher die beiden sich kennenlernen, desto mehr Gemeinsamkeiten muss sie zwischen sich und ihrer Gradschool-Nemesis erkennen. Und als sie dann feststellt, dass das, was ihn dazu bringt, ihr aus dem Weg zu gehen alles andere ist als Abneigung, sprühen endgültig die Funken... Beide Figuren sind mir total schnell ans Herz gewachsen und schaffen es auch, sich auf den wenigen Seiten glaubhaft weiterzuentwickeln. Mindestens genauso gut wie die beiden liebenswerten Hauptfiguren haben mir auch die Nebenfiguren gefallen. Egal ob die Gothic-Laborassistentin Rocio, die verstörend pinke Kaylee, die Weltenbummlerin Mareike oder die beiden felligen Freunde Schrödinger and Félicette - ich habe sie alle total schnell ins Herz geschlossen, immer wieder glücklich über sie gekichert und mich außerdem über die gelungene, beiläufige Repräsentation von LBGTQIA+ und BIPOC gefreut.


Die Zitate:

"The real villain is love: an unstable isotope, constantly undergoing spontaneous nuclear decay. And it will forever go unpunished."

"Annie used to have a funny theory: we all have a Year Zero around which the calendars of our lives pivot. At some point you meet someone, and they become so important, so metamorphic, that ten, twenty, sixty-five years down the line you look back and realize that you could split your existence in two. Before they showed (BCE), and your Common Era. Your very own Gregorian calendar."

"We're only humans. We're full of ''whys'', drowning in ''whys.'' Every once in a while, we need a bit of ''because'' and if it's not readily available, we make it up."

"Science is reliable in its variability. Science does whatever the fuck it wants. God, I love science."

"I guess this is it—being in love. Truly in love. Lots and lots of horrible, wondrous, violent emotions.”


Das Urteil:


"Love on the Brain" ist eine Slowburn Enemies-to-Lovers-Romanze mit überraschendem Witz und emotionalem Tiefgang, in der zwei sozial unbeholfene Wissenschaftler von Feinden, zu Freunden und schließlich mit vielen Umwegen zu Liebenden werden... Ali Hazelwood schreibt frisch, unterhaltsam, stellt zwei liebenswerte Hauptfiguren vor und versteht es ihr Academia-Setting mit einem charmanten Augenzwinkern auf den Punkt zu bringen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.03.2023

Ein absoluter Geniestreich!

Chaos Walking - Die Zukunft der Welt
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Mit "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist Mitte Januar endlich der dritte Teil der Chaos-Walking-Trilogie von Patrick Ness erschienen, welcher die Geschichte von Todd und Viola zu einem Ende bringt ...

Mit "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist Mitte Januar endlich der dritte Teil der Chaos-Walking-Trilogie von Patrick Ness erschienen, welcher die Geschichte von Todd und Viola zu einem Ende bringt und ein letztes Mal ins dystopische New World führt. Nachdem Lesen bin ich nun genau wie nach den vorherigen Bänden emotional gefangen zwischen Entsetzen und Faszination, Abscheu und Begeisterung und weiß nur, dass das, was auf diesen 608 Seiten passiert KRASS KRASS KRASS ist!

Wem die Handlung, der Autor oder die Namen der Figuren bekannt vorkommen: Patrick Ness´ Trilogie ist schon 2009 unter den Namen "New World - Die Flucht", "New World - Das dunkle Paradies" und "New World - Das brennende Messer" im Ravensburger Buchverlag erschienen. Schon im Januar 2021 ist Band 1 der Reihe erneut bei cbt erschienen und trug ein Filmcover passend zur Verfilmung von Lionsgate mit Tom Holland und Daisy Ridley (HIER geht´s übrigens zur Filmkritik). Band 3 ist nun genau wie Band 2 schon stark an der Originalausgabe orientiert und zeigt den Titel in großen, weißen Buchstaben, welcher sich vom dunklen Hintergrund mit wildem Buchstabengekritzel in einem interessanten Kontrast abhebt. Auch wenn mir sowohl der Kontrast als auch die optisch und haptisch hervorgehobenen Buchstaben des Hintergrund gut gefallen und ich auch den Untertitel "Die Zukunft der Welt" treffend gewählt finde, sind zwei Dinge an der Gestaltung schade. Erstens passt die äußere Gestaltung des zweiten und dritten Teils schlecht zum ersten (wobei die Paperbacks immerhin dieselbe Größe haben). Und zweitens gibt es keinen treffenderen Titel als den Originaltitel "Monsters of Men".

Erster Satz: "Krieg", sagt Bürgermeister Prentiss mit funkelnden Augen. "Endlich ist es soweit."

Dafür gefällt mir die innere Gestaltung dieses Finalbands wieder sehr gut. Genau wie in den vorherigen Bänden ist auch hier der sogenannte "Lärm" der männlichen Bewohner von New World als wildes Gekritzel in unterschiedlichen Schriftarten quer über die Seiten dargestellt und der Wechsel der Erzählperspektiven zwischen den beiden Hauptfiguren Todd und Viola wird ebenfalls durch einen Wechsel der Schriftart deutlich gemacht. Genau wie in Band 1 und 2 hat Patrick Ness seine Handlung darüber hinaus wieder in acht übergeordnete Abschnitte eingeteilt, welche wiederum in 24 Kapitel inklusive eines unnummerierten Prologs und Epilogs unterteilt sind. Zusätzlich erleichtert uns eine kurze "Was bisher geschah"-Zusammenfassung den Einstieg. Anders als zuvor kommt in "Chaoswalking - Die Zukunft der Welt" noch eine dritte Erzählperspektive hinzu, die den Einstieg in jedes der 24 Kapitel darstellt. Dazu später mehr...

Zeitlich knüpft Teil 3 wieder punktgenau an das Ende des zweiten Bandes an und erzählt, was passiert, nachdem Todd und Viola Bürgermeister Prentiss endlich bekämpft haben, nur um ihn angesichts der nahenden Spackle-Armee und des landenden Raumschiffs der Siedler wieder freilassen zu müssen. Eine unbedachte Handlung von Viola, der Kriegswille des Bürgermeisters und die Rachlust der Spackle treffen aufeinander und schon befindet sich New World in einem großen letzten Krieg mit mehreren Fronten, der das Ende des Planeten zu bedeuten scheint...

Todd: "Hier kommt es.
Das Ende
Das Ende von allem
"Oh ja, Todd", sagt der Bürgermeister und reibt sich die Hände. "Oh ja, in der Tat", wiederholt er, und sagt es, als wäre gerade sein allergrößter Traum in Erfüllung gegangen.
"Krieg".


Ich hatte sehr geringe Erwartungen und noch weniger Ideen davon, in welche Richtung sich die Geschichte nach dem offenen Ende von Band 2 weiterentwickeln würde. Dass wir hier von Seite 1 an mitten in einem blutigen Krieg voller Psychospielchen, Populismus, Genozid, Terrorismus und Grausamkeit zu tun bekommen würden, hätte ich aber nicht in tausend Jahren gedacht. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen meiner großen Überraschung kann ich nur meinen Hut vor Patrick Ness ziehen, der hier auf interessante Art und Weise davon erzählt, wie sich scheinbar aus dem Nichts ein Krieg entwickeln und wie eine ganze Zivilisation von den Ideen einzelner gelenkt untergehen kann. Neben den erschreckenden Entgleisungen befasst sich der Autor auch auf eindringliche Art und Weise mit den Themen Gehorsam, Verantwortung, Moral, Macht, Rache, Wiedergutmachung, Frieden, kollektive Traumata, Schuld und Menschlichkeit und legt damit den Finger in eine aufgrund des aktuellen Weltgeschehens offene Wunde. Patrick Ness zeigt hier, dass die Entscheidung jedes einzelnen zählt und dass wir alle die Verantwortung dafür haben zu entscheiden, in was für einer Welt wir leben möchten.

Neben der politischen Message und den vielen schweren Themen überzeugt "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" auch mit einer verrückt hohen Handlungsdichte. Hier passiert auf jeder Seite ALLES und NICHTS ist unmöglich, ein Kampf folgt auf den nächsten, folgt auf den nächsten, folgt auf den nächsten und ich konnte kaum atmen, weil ich Angst hatte, was auf der kommenden Seite passiert. Ich habe selten so sehr mitgelitten, geschwitzt und gehofft, dass nicht doch noch etwas schief geht und die Situation weiter eskaliert. Ich habe selten so oft innehalten müssen, um zu verstehen, was gerade passiert ist. Selten so dringend weiterlesen müssen, um endlich zu erfahren, wie das Ganze ausgehen wird. Allein für den einzigartigen Zustand zwischen Hoffen und Bangen, in den mich die Geschichte versetzt hat, müsste ich schon 5 Sterne geben.

Viola: "Man kann einen Krieg nicht aus persönlichen Gründen führen", widerspreche ich ihm. "Sonst wird man nie die richtigen Entscheidungen treffen."
"Wenn man keine persönlichen Entscheidungen trifft, dann ist man kein Mensch mehr."


Ganz objektiv betrachtet hätte ich schon Band 1 und 2 für den meisterhaften Schreibstil, die originelle Grundidee, die schneidende Gesellschaftskritik, die irrsinnig hohe Spannung und die menschlichen Figuren, die uns selbst den Spiegel vorhalten mindestens 4,5 Sterne geben müssen. Ich habe das jedoch nicht getan, da sie beim Lesen eine Flut an negativen Gefühlen ausgelöst haben, die ich kaum ertragen konnte. "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist ebenso düster und ernst wie die vorherigen Bände, für mich war dieses Finale aber lange nicht so emotional belastend. Aufgrund der zuvor genannten Themen müssen wir auf den über 600 Seiten sehr viel Grausamkeit ertragen. Folter, sexuelle Übergriffe, Verstümmelung, Entwürdigung, Unterdrückung und gezielter Mord - die hier beschriebenen Verbrechen gegenüber Menschen (insbesondere Frauen), aber auch gegenüber der einheimischen Bevölkerung des Planeten, den Spackle ist kaum zu ertragen und unterstreicht erneut, dass "Chaos Walking" trotz des jungen Alters der Hauptfiguren keine wirkliche Kinder- oder Jugendbuchreihe ist! Auch das Leiden der beiden Hauptfiguren trägt zu dringlichen, düsteren, unter die Haut gehenden Atmosphäre der Geschichte bei, welche mich vor allem beim Lesen des zweiten Bandes dazu gebracht hat, das Buch an die Wand werfen zu wollen.

Todd: "Beherrsche deinen Lärm und du beherrschst dich selbst. Und wenn du dich sich selbst beherrschst..."
"Dann beherrschst du die Welt", beende ich seinen Satz. "Ja, ich habe Euch schon beim ersten Mal verstanden. Aber ich will nur mich selbst beherrschen, vielen Dank. Der Rest der Welt interessiert mich nicht."
"Das sagen sie alle. Bis sie die Macht zum ersten Mal gekostet haben."


Nach wie vor wird die Geschichte abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Todd und Viola erzählt. Der Autor nutzt dabei sehr viele direkte Gedanken, die manchmal in langen Satzreihen mit vielen Absätzen oder fließenden Nebensätzen beinahe gedankenstromartig aus den jungen Erzählern herausströmen. Wie beim "Lärm" - der innovativen Grundidee der Geschichte - scheint es hier keinen Filter zu geben, sodass sich die Erzählung sehr erlebnisnah liest. Diese Art der Erzählweise reißt zwar mit, man ist dem was passiert aber auch ausgeliefert. Genauso ist es auch mit dem allgemeinen Sprachstil, der recht derb und direkt ist und sich kaum Zeit für Beschönigungen, Erklärungen oder Beschreibungen nimmt. Gewöhnungsbedürftig ist auch, dass Todd uns LeserInnen an einigen Stellen direkt anspricht, indem er Fragen stellt, sein Verhalten erklärt oder sich rechtfertigt. So ist man schon recht bald in einem Zwiespalt zwischen dem Drang, sich etwas von Handlung und Erzähler zu distanzieren und dem mitreißenden Sog durch die erlebnisnahe Erzählweise. Ich habe lange überlegt, weshalb dieser dritte Band in mir nicht denselben Abscheu und Abwehrmechanismen getriggert hat wie die vorherigen Bände und bin zu dem Schluss gekommen, dass es an der höheren Kontrolle der beiden Figuren über die Handlung liegt. Während Todd und Viola zuvor allen schrecklichen Geschehnissen hilflos ausgeliefert waren, sind sie nun endlich am Zug, gestalten mit und erhalten auch Unterstützung von verschiedenen Seiten.

Viola: "Ich hätte es genauso gemacht, Viola", sagt Todd noch einmal, und ich weiß, dass ist die reine Wahrheit. Aber mir geht ein Gedanke nicht aus dem Kopf, obwohl Todd mich zum Abschied wieder in den Arm nimmt. Wenn wir alles füreinander tun würden, tun wir dann das Rechte? Oder sind wir nicht doch eine Gefahr für alle anderen?"

Ein zweiter Punkt ist, dass die beiden deutlich älter und erwachsener wirken, durch die zu vorigen Geschehnisse gestählt und weiterentwickelt wurden. Auch wenn beide einige furchtbare Dinge tun, die ich ihnen nicht verzeihen kann (und sie selbst sich auch nicht) und ich vor allem Todd an einigen Stellen fast gehasst habe, ist es Patrick Ness´ große Stärke, hinterrücks dafür zu sorgen, dass man die Figuren trotz allem lieben muss. Denn all die Verfehlungen, all die Handlungen, all die Entscheidungen, all die Gefühle sind so menschlich und nachvollziehbar geschildert, dass man sich nie ganz sicher sein kann, dass man in der Situation nicht anders gehandelt hätte. Ich denke, dass jeder von uns davon überzeugt ist (oder zumindest stark hofft), in Situationen großer Ungerechtigkeit oder Grausamkeit nicht einfach nur dazustehen, sondern sich laut für die Wahrheit einzusetzen und NEIN zu sagen. Dadurch dass wir Viola und Todd trotz ihrer Fehler und Schwäche verstehen können, stellt genau diese intrinsische Überzeugung aber in Frage, was natürlich unbequem ist und weh tut - aber eben auch dringend notwendig ist, um uns in der Realität vor Gleichmut und Abstumpfung zu schützen. Somit ist "Chaos Walking" auch ein Buch über Freundschaft, über Liebe und über Entscheidungen. Denn egal in welcher Situation wir uns befinden sind es doch unsere Entscheidungen, die uns zu dem machen, was wir sind.

Todd: "Ich schaue ihm in die Augen, in das Schwarze seiner Augen, in eine Schwärze, die mich verschlingt.
ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH. Das ist alles, was ich noch hören kann."

Neben Todd und Viola stehen nach wie vor die beiden in Band 2 entwickelten Lager rund um den Bürgermeister Prentiss und Mistress Coyles "Antwort" im Vordergrund. In "Chaos Walking - Es gibt immer eine Wahl" wurden ja beide schon als zwei Seiten derselben Medaille enthüllt. Absolute Diktatur und terroristischer Widerstand, beide gefährlich für Land und Menschen. Besonders die Charakterentwicklung des Bürgermeisters, der ja von Anfang an sowohl etwas Wahnsinniges als auch etwas Geniales und Übernatürliches an sich hatte, hat mich hier sehr mitgerissen. Auf berührende Weise wird enthüllt, was hinter seinem wachsenden Wahnsinn und seiner wachsenden Macht steckt, was ihn zum besten Bösewicht aller Zeiten macht.
Mit dem gelandeten Schiff der Siedler kommen außerdem zwei neue Figuren und damit eine neue Partei mit hinzu, die moderne Waffensysteme zur Verfügung stehen hat, aber auch über die Zukunft von 5000 schlafenden neuen Siedlern im Raumschiff entscheiden muss.
Das mit Abstand BESTE an dieser Geschichte ist jedoch die vierte neue Partei und damit auch die zuvor erwähnte neue Erzählperspektive, die hier dazukommt: die Spackle! Zu Beginn eines jeden Kapitels dürfen wir einen Abschnitt aus der Perspektive von 1017 lesen, welcher dank Todd als einziger Spackle den Genozid des Bürgermeisters überlebt hat und seither auf Rache sinnt. Durch ihn bekommen wir einen Einblick in die kollektive Gemeinschaft der Spackle, die sich selbst "das Land" nennt und deren Lärm sich zu einer gemeinsamen Stimme vermischt hat, die durch ihren Anführer, "den Himmel", spricht. Die Beschreibung der Spackle, die klar keine Menschen sind, aber dennoch fühlende und intelligente Wesen, die wie ein einziger Organismus denken, aber dennoch aus Individuen bestehen und zugleich vom Wunsch nach Rache und dem Bedürfnis nach Frieden angetrieben werden, fand ich inspirierend, originell und wahrhaft großartig!!!!

1017: "Das Land zeigt mir den Weg. Aber bei all ihrer Hilfsbereitschaft vernehme ich auch ihre Zweifel. Wer bin ich denn schließlich? Bin ich ein Held? Ein Retter? Oder bin ich ein Gebrochener? Eine Gefahr? Bin ich Anfang oder bin ich Ende? Gehöre ich wirklich zum Land? Wenn ich ehrlich bin, ich weiß es nicht. Und so weisen sie mir den Weg zum Himmel, während ich durch ihre Mitte gehe, und ich fühle mich wie ein Blatt, das auf dem Fluss treibt, in dem Fluss, mit dem Fluss. Aber bin ich auch Teil des Flusses? Und dann senden sie Kunde aus von meinem Kommen. "Der Zurückgekehrte kommt", teilen sie einander mit. "Der Zurückgekehrte kommt." Denn so nennen sie mich: der Zurückgekehrte. Aber ich habe noch einen anderen Namen."

Damit werden in "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" die letzten verbliebenen Fragen und offenen Punkte des Worldbuildings geklärt. Das außerirdische, sehr ursprüngliche, naturbelassene Setting, das an das unkolonialisierte Amerika erinnert, nur dass die Weiten der Landschaft nicht von grasenden Büffeln, sondern von seltsamen Geschöpfen wie die vogelstraußartigen "Cassors" oder laut die "HIER!"-denkenden "Viecher" bewohnt werden und alle Lebewesen durch ihren Lärm sprechen können, war in Band 1 und 2 sowohl ein Quell an Originalität als auch Verwirrung. Wer sind die Spackle? Was ist im ersten großen Krieg passiert? Woher nimmt der Bürgermeister seine Kraft? Was ist sein Plan für die Welt? Weshalb kamen die Siedler ursprünglich nach New World? Was ist in Prentisstown wirklich passiert als Todd noch klein war? Und vor allem: Wie wird die Zukunft dieser Welt aussehen? Wie Patrick Ness es geschafft hat, neben der Charakterentwicklung, den vielen Themen, der Vorstellung einer gänzlich neuen Lebensform und dem unnormal hohen Erzähltempo auch noch all die offenen Fragen befriedigend zu beantworten ist wirklich ein Wunder. Ich ziehe mein Hut in Verehrung vor diesem Autor und packe alle seine weiteren Werke umgehend auf meine Wunschliste!


Fazit:


"Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" überzeugte mich mit einem großartig weiterentwickelten Worldbuilding, einer sinnigen politische Message, pointierten Figuren, einem intensiven Spannungsbogen und originellen Schreibstil. Mit Themen wie Krieg, Gehorsam, Macht, Rache, Wiedergutmachung, kollektivem Traumata, Genozid, Schuld und Menschlichkeit ist die Geschichte über Todd und Viola weiterhin emotional anstrengend und teilweise fast nicht zu ertragen. Mit diesem Finale gelingt Patrick Ness allerdings ein Geniestreich, der für alle emotionalen Unannehmlichkeiten entschuldigt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.03.2023

Ein absoluter Geniestreich!

Chaos Walking - Die Zukunft der Welt
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Mit "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist Mitte Januar endlich der dritte Teil der Chaos-Walking-Trilogie von Patrick Ness erschienen, welcher die Geschichte von Todd und Viola zu einem Ende bringt ...

Mit "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist Mitte Januar endlich der dritte Teil der Chaos-Walking-Trilogie von Patrick Ness erschienen, welcher die Geschichte von Todd und Viola zu einem Ende bringt und ein letztes Mal ins dystopische New World führt. Nachdem Lesen bin ich nun genau wie nach den vorherigen Bänden emotional gefangen zwischen Entsetzen und Faszination, Abscheu und Begeisterung und weiß nur, dass das, was auf diesen 608 Seiten passiert KRASS KRASS KRASS ist!

Wem die Handlung, der Autor oder die Namen der Figuren bekannt vorkommen: Patrick Ness´ Trilogie ist schon 2009 unter den Namen "New World - Die Flucht", "New World - Das dunkle Paradies" und "New World - Das brennende Messer" im Ravensburger Buchverlag erschienen. Schon im Januar 2021 ist Band 1 der Reihe erneut bei cbt erschienen und trug ein Filmcover passend zur Verfilmung von Lionsgate mit Tom Holland und Daisy Ridley (HIER geht´s übrigens zur Filmkritik). Band 3 ist nun genau wie Band 2 schon stark an der Originalausgabe orientiert und zeigt den Titel in großen, weißen Buchstaben, welcher sich vom dunklen Hintergrund mit wildem Buchstabengekritzel in einem interessanten Kontrast abhebt. Auch wenn mir sowohl der Kontrast als auch die optisch und haptisch hervorgehobenen Buchstaben des Hintergrund gut gefallen und ich auch den Untertitel "Die Zukunft der Welt" treffend gewählt finde, sind zwei Dinge an der Gestaltung schade. Erstens passt die äußere Gestaltung des zweiten und dritten Teils schlecht zum ersten (wobei die Paperbacks immerhin dieselbe Größe haben). Und zweitens gibt es keinen treffenderen Titel als den Originaltitel "Monsters of Men".

Erster Satz: "Krieg", sagt Bürgermeister Prentiss mit funkelnden Augen. "Endlich ist es soweit."

Dafür gefällt mir die innere Gestaltung dieses Finalbands wieder sehr gut. Genau wie in den vorherigen Bänden ist auch hier der sogenannte "Lärm" der männlichen Bewohner von New World als wildes Gekritzel in unterschiedlichen Schriftarten quer über die Seiten dargestellt und der Wechsel der Erzählperspektiven zwischen den beiden Hauptfiguren Todd und Viola wird ebenfalls durch einen Wechsel der Schriftart deutlich gemacht. Genau wie in Band 1 und 2 hat Patrick Ness seine Handlung darüber hinaus wieder in acht übergeordnete Abschnitte eingeteilt, welche wiederum in 24 Kapitel inklusive eines unnummerierten Prologs und Epilogs unterteilt sind. Zusätzlich erleichtert uns eine kurze "Was bisher geschah"-Zusammenfassung den Einstieg. Anders als zuvor kommt in "Chaoswalking - Die Zukunft der Welt" noch eine dritte Erzählperspektive hinzu, die den Einstieg in jedes der 24 Kapitel darstellt. Dazu später mehr...

Zeitlich knüpft Teil 3 wieder punktgenau an das Ende des zweiten Bandes an und erzählt, was passiert, nachdem Todd und Viola Bürgermeister Prentiss endlich bekämpft haben, nur um ihn angesichts der nahenden Spackle-Armee und des landenden Raumschiffs der Siedler wieder freilassen zu müssen. Eine unbedachte Handlung von Viola, der Kriegswille des Bürgermeisters und die Rachlust der Spackle treffen aufeinander und schon befindet sich New World in einem großen letzten Krieg mit mehreren Fronten, der das Ende des Planeten zu bedeuten scheint...

Todd: "Hier kommt es.
Das Ende
Das Ende von allem
"Oh ja, Todd", sagt der Bürgermeister und reibt sich die Hände. "Oh ja, in der Tat", wiederholt er, und sagt es, als wäre gerade sein allergrößter Traum in Erfüllung gegangen.
"Krieg".


Ich hatte sehr geringe Erwartungen und noch weniger Ideen davon, in welche Richtung sich die Geschichte nach dem offenen Ende von Band 2 weiterentwickeln würde. Dass wir hier von Seite 1 an mitten in einem blutigen Krieg voller Psychospielchen, Populismus, Genozid, Terrorismus und Grausamkeit zu tun bekommen würden, hätte ich aber nicht in tausend Jahren gedacht. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen meiner großen Überraschung kann ich nur meinen Hut vor Patrick Ness ziehen, der hier auf interessante Art und Weise davon erzählt, wie sich scheinbar aus dem Nichts ein Krieg entwickeln und wie eine ganze Zivilisation von den Ideen einzelner gelenkt untergehen kann. Neben den erschreckenden Entgleisungen befasst sich der Autor auch auf eindringliche Art und Weise mit den Themen Gehorsam, Verantwortung, Moral, Macht, Rache, Wiedergutmachung, Frieden, kollektive Traumata, Schuld und Menschlichkeit und legt damit den Finger in eine aufgrund des aktuellen Weltgeschehens offene Wunde. Patrick Ness zeigt hier, dass die Entscheidung jedes einzelnen zählt und dass wir alle die Verantwortung dafür haben zu entscheiden, in was für einer Welt wir leben möchten.

Neben der politischen Message und den vielen schweren Themen überzeugt "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" auch mit einer verrückt hohen Handlungsdichte. Hier passiert auf jeder Seite ALLES und NICHTS ist unmöglich, ein Kampf folgt auf den nächsten, folgt auf den nächsten, folgt auf den nächsten und ich konnte kaum atmen, weil ich Angst hatte, was auf der kommenden Seite passiert. Ich habe selten so sehr mitgelitten, geschwitzt und gehofft, dass nicht doch noch etwas schief geht und die Situation weiter eskaliert. Ich habe selten so oft innehalten müssen, um zu verstehen, was gerade passiert ist. Selten so dringend weiterlesen müssen, um endlich zu erfahren, wie das Ganze ausgehen wird. Allein für den einzigartigen Zustand zwischen Hoffen und Bangen, in den mich die Geschichte versetzt hat, müsste ich schon 5 Sterne geben.

Viola: "Man kann einen Krieg nicht aus persönlichen Gründen führen", widerspreche ich ihm. "Sonst wird man nie die richtigen Entscheidungen treffen."
"Wenn man keine persönlichen Entscheidungen trifft, dann ist man kein Mensch mehr."


Ganz objektiv betrachtet hätte ich schon Band 1 und 2 für den meisterhaften Schreibstil, die originelle Grundidee, die schneidende Gesellschaftskritik, die irrsinnig hohe Spannung und die menschlichen Figuren, die uns selbst den Spiegel vorhalten mindestens 4,5 Sterne geben müssen. Ich habe das jedoch nicht getan, da sie beim Lesen eine Flut an negativen Gefühlen ausgelöst haben, die ich kaum ertragen konnte. "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist ebenso düster und ernst wie die vorherigen Bände, für mich war dieses Finale aber lange nicht so emotional belastend. Aufgrund der zuvor genannten Themen müssen wir auf den über 600 Seiten sehr viel Grausamkeit ertragen. Folter, sexuelle Übergriffe, Verstümmelung, Entwürdigung, Unterdrückung und gezielter Mord - die hier beschriebenen Verbrechen gegenüber Menschen (insbesondere Frauen), aber auch gegenüber der einheimischen Bevölkerung des Planeten, den Spackle ist kaum zu ertragen und unterstreicht erneut, dass "Chaos Walking" trotz des jungen Alters der Hauptfiguren keine wirkliche Kinder- oder Jugendbuchreihe ist! Auch das Leiden der beiden Hauptfiguren trägt zu dringlichen, düsteren, unter die Haut gehenden Atmosphäre der Geschichte bei, welche mich vor allem beim Lesen des zweiten Bandes dazu gebracht hat, das Buch an die Wand werfen zu wollen.

Todd: "Beherrsche deinen Lärm und du beherrschst dich selbst. Und wenn du dich sich selbst beherrschst..."
"Dann beherrschst du die Welt", beende ich seinen Satz. "Ja, ich habe Euch schon beim ersten Mal verstanden. Aber ich will nur mich selbst beherrschen, vielen Dank. Der Rest der Welt interessiert mich nicht."
"Das sagen sie alle. Bis sie die Macht zum ersten Mal gekostet haben."


Nach wie vor wird die Geschichte abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Todd und Viola erzählt. Der Autor nutzt dabei sehr viele direkte Gedanken, die manchmal in langen Satzreihen mit vielen Absätzen oder fließenden Nebensätzen beinahe gedankenstromartig aus den jungen Erzählern herausströmen. Wie beim "Lärm" - der innovativen Grundidee der Geschichte - scheint es hier keinen Filter zu geben, sodass sich die Erzählung sehr erlebnisnah liest. Diese Art der Erzählweise reißt zwar mit, man ist dem was passiert aber auch ausgeliefert. Genauso ist es auch mit dem allgemeinen Sprachstil, der recht derb und direkt ist und sich kaum Zeit für Beschönigungen, Erklärungen oder Beschreibungen nimmt. Gewöhnungsbedürftig ist auch, dass Todd uns LeserInnen an einigen Stellen direkt anspricht, indem er Fragen stellt, sein Verhalten erklärt oder sich rechtfertigt. So ist man schon recht bald in einem Zwiespalt zwischen dem Drang, sich etwas von Handlung und Erzähler zu distanzieren und dem mitreißenden Sog durch die erlebnisnahe Erzählweise. Ich habe lange überlegt, weshalb dieser dritte Band in mir nicht denselben Abscheu und Abwehrmechanismen getriggert hat wie die vorherigen Bände und bin zu dem Schluss gekommen, dass es an der höheren Kontrolle der beiden Figuren über die Handlung liegt. Während Todd und Viola zuvor allen schrecklichen Geschehnissen hilflos ausgeliefert waren, sind sie nun endlich am Zug, gestalten mit und erhalten auch Unterstützung von verschiedenen Seiten.

Viola: "Ich hätte es genauso gemacht, Viola", sagt Todd noch einmal, und ich weiß, dass ist die reine Wahrheit. Aber mir geht ein Gedanke nicht aus dem Kopf, obwohl Todd mich zum Abschied wieder in den Arm nimmt. Wenn wir alles füreinander tun würden, tun wir dann das Rechte? Oder sind wir nicht doch eine Gefahr für alle anderen?"

Ein zweiter Punkt ist, dass die beiden deutlich älter und erwachsener wirken, durch die zu vorigen Geschehnisse gestählt und weiterentwickelt wurden. Auch wenn beide einige furchtbare Dinge tun, die ich ihnen nicht verzeihen kann (und sie selbst sich auch nicht) und ich vor allem Todd an einigen Stellen fast gehasst habe, ist es Patrick Ness´ große Stärke, hinterrücks dafür zu sorgen, dass man die Figuren trotz allem lieben muss. Denn all die Verfehlungen, all die Handlungen, all die Entscheidungen, all die Gefühle sind so menschlich und nachvollziehbar geschildert, dass man sich nie ganz sicher sein kann, dass man in der Situation nicht anders gehandelt hätte. Ich denke, dass jeder von uns davon überzeugt ist (oder zumindest stark hofft), in Situationen großer Ungerechtigkeit oder Grausamkeit nicht einfach nur dazustehen, sondern sich laut für die Wahrheit einzusetzen und NEIN zu sagen. Dadurch dass wir Viola und Todd trotz ihrer Fehler und Schwäche verstehen können, stellt genau diese intrinsische Überzeugung aber in Frage, was natürlich unbequem ist und weh tut - aber eben auch dringend notwendig ist, um uns in der Realität vor Gleichmut und Abstumpfung zu schützen. Somit ist "Chaos Walking" auch ein Buch über Freundschaft, über Liebe und über Entscheidungen. Denn egal in welcher Situation wir uns befinden sind es doch unsere Entscheidungen, die uns zu dem machen, was wir sind.

Todd: "Ich schaue ihm in die Augen, in das Schwarze seiner Augen, in eine Schwärze, die mich verschlingt.
ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH. Das ist alles, was ich noch hören kann."

Neben Todd und Viola stehen nach wie vor die beiden in Band 2 entwickelten Lager rund um den Bürgermeister Prentiss und Mistress Coyles "Antwort" im Vordergrund. In "Chaos Walking - Es gibt immer eine Wahl" wurden ja beide schon als zwei Seiten derselben Medaille enthüllt. Absolute Diktatur und terroristischer Widerstand, beide gefährlich für Land und Menschen. Besonders die Charakterentwicklung des Bürgermeisters, der ja von Anfang an sowohl etwas Wahnsinniges als auch etwas Geniales und Übernatürliches an sich hatte, hat mich hier sehr mitgerissen. Auf berührende Weise wird enthüllt, was hinter seinem wachsenden Wahnsinn und seiner wachsenden Macht steckt, was ihn zum besten Bösewicht aller Zeiten macht.
Mit dem gelandeten Schiff der Siedler kommen außerdem zwei neue Figuren und damit eine neue Partei mit hinzu, die moderne Waffensysteme zur Verfügung stehen hat, aber auch über die Zukunft von 5000 schlafenden neuen Siedlern im Raumschiff entscheiden muss.
Das mit Abstand BESTE an dieser Geschichte ist jedoch die vierte neue Partei und damit auch die zuvor erwähnte neue Erzählperspektive, die hier dazukommt: die Spackle! Zu Beginn eines jeden Kapitels dürfen wir einen Abschnitt aus der Perspektive von 1017 lesen, welcher dank Todd als einziger Spackle den Genozid des Bürgermeisters überlebt hat und seither auf Rache sinnt. Durch ihn bekommen wir einen Einblick in die kollektive Gemeinschaft der Spackle, die sich selbst "das Land" nennt und deren Lärm sich zu einer gemeinsamen Stimme vermischt hat, die durch ihren Anführer, "den Himmel", spricht. Die Beschreibung der Spackle, die klar keine Menschen sind, aber dennoch fühlende und intelligente Wesen, die wie ein einziger Organismus denken, aber dennoch aus Individuen bestehen und zugleich vom Wunsch nach Rache und dem Bedürfnis nach Frieden angetrieben werden, fand ich inspirierend, originell und wahrhaft großartig!!!!

1017: "Das Land zeigt mir den Weg. Aber bei all ihrer Hilfsbereitschaft vernehme ich auch ihre Zweifel. Wer bin ich denn schließlich? Bin ich ein Held? Ein Retter? Oder bin ich ein Gebrochener? Eine Gefahr? Bin ich Anfang oder bin ich Ende? Gehöre ich wirklich zum Land? Wenn ich ehrlich bin, ich weiß es nicht. Und so weisen sie mir den Weg zum Himmel, während ich durch ihre Mitte gehe, und ich fühle mich wie ein Blatt, das auf dem Fluss treibt, in dem Fluss, mit dem Fluss. Aber bin ich auch Teil des Flusses? Und dann senden sie Kunde aus von meinem Kommen. "Der Zurückgekehrte kommt", teilen sie einander mit. "Der Zurückgekehrte kommt." Denn so nennen sie mich: der Zurückgekehrte. Aber ich habe noch einen anderen Namen."

Damit werden in "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" die letzten verbliebenen Fragen und offenen Punkte des Worldbuildings geklärt. Das außerirdische, sehr ursprüngliche, naturbelassene Setting, das an das unkolonialisierte Amerika erinnert, nur dass die Weiten der Landschaft nicht von grasenden Büffeln, sondern von seltsamen Geschöpfen wie die vogelstraußartigen "Cassors" oder laut die "HIER!"-denkenden "Viecher" bewohnt werden und alle Lebewesen durch ihren Lärm sprechen können, war in Band 1 und 2 sowohl ein Quell an Originalität als auch Verwirrung. Wer sind die Spackle? Was ist im ersten großen Krieg passiert? Woher nimmt der Bürgermeister seine Kraft? Was ist sein Plan für die Welt? Weshalb kamen die Siedler ursprünglich nach New World? Was ist in Prentisstown wirklich passiert als Todd noch klein war? Und vor allem: Wie wird die Zukunft dieser Welt aussehen? Wie Patrick Ness es geschafft hat, neben der Charakterentwicklung, den vielen Themen, der Vorstellung einer gänzlich neuen Lebensform und dem unnormal hohen Erzähltempo auch noch all die offenen Fragen befriedigend zu beantworten ist wirklich ein Wunder. Ich ziehe mein Hut in Verehrung vor diesem Autor und packe alle seine weiteren Werke umgehend auf meine Wunschliste!


Fazit:


"Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" überzeugte mich mit einem großartig weiterentwickelten Worldbuilding, einer sinnigen politische Message, pointierten Figuren, einem intensiven Spannungsbogen und originellen Schreibstil. Mit Themen wie Krieg, Gehorsam, Macht, Rache, Wiedergutmachung, kollektivem Traumata, Genozid, Schuld und Menschlichkeit ist die Geschichte über Todd und Viola weiterhin emotional anstrengend und teilweise fast nicht zu ertragen. Mit diesem Finale gelingt Patrick Ness allerdings ein Geniestreich, der für alle emotionalen Unannehmlichkeiten entschuldigt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.03.2023

Potential ist definitiv da, ob es sich entfaltet wird der nächste Band zeigen.

Ich fürchte mich nicht
0

Handlung: Um die "Shatter Me"-Reihe und insbesondere ein gewisser Aaron Warner kommt man als Mitglied der Bookcommunity auf Bookstagram oder Booktok einfach nicht herum. Mit geringen Erwartungen aber durchaus ...

Handlung: Um die "Shatter Me"-Reihe und insbesondere ein gewisser Aaron Warner kommt man als Mitglied der Bookcommunity auf Bookstagram oder Booktok einfach nicht herum. Mit geringen Erwartungen aber durchaus viel Neugierde habe ich mich gestern deshalb endlich mal mit der Reihe angefangen. Mein erster Eindruck war: völlige Verwirrung. Besonders während der ersten Kapitel hatte ich das Gefühl, in einem späteren Band einer Reihe einzusteigen, deren Auftakt ich verpasst habe, aber auch im weiteren Verlauf der Geschichte meinte ich ständig, wichtige Informationen verpasst zu haben.

Dieses bleibende Gefühl von Verwirrung sorgt auf der einen Seite für Spannung, da man die Geheimnisse der Geschichte ergründen möchte, ist aber mit der Zeit sehr unbefriedigend beim Lesen, da schon bald klar wird, dass das Worldbuilding beinahe nicht vorhanden ist. Bis auf wenige kurze Infodumps und ausgewählte Handlungsorte bekommen wir hier keinen Eindruck von dem dystopischen Setting der Reihe. Statt wie üblich im Alltag der Protagonisten in die Geschichte einzusteigen und anhand dessen, den Zustand und die Rahmenbedingungen der dystopischen Gesellschaft zu erklären, werden wir unvorbereitet in die Erlebniswelt eines 17jährigen Mädchens mit rätselhaften Superkräften in Einzelhaft in einem Irrenhaus am Rande des Nervenzusammenbruchs geworfen. Die 338 Seiten fühlen sich demnach ein bisschen wie ein entrückter, verlängerter Prolog an. Um dieses Gefühl, dass die Geschichte noch nicht so richtig durchgestartet ist, zu zerstreuen, lässt die Autorin immer mal wieder eine spannende Action-Szene einfließen, die aber auch für viel Verwirrung bei mir gesorgt haben.

Neben der verwirrenden Entfaltung der Storyline erscheint auch die grundlegende Idee der Geschichte für mich bisher nicht überzeugend oder besonders originell. Eine Menschheit am Rande des Ruins, ein böses diktatorisches Regime, eine rebellische Untergrundbewegung, ein Mädchen mit Superkräften, das alle als Waffe einsetzen möchten und zwei Männer, die die jeweiligen Seiten des Konflikts verkörpern - das ist der Prototyp des typischen, klischeehaften Dystopie-Plots, was nicht verwunderlich ist, da die Geschichte ursprünglich mitten in der 2010er-Dystopienphase erschienen ist. Inhaltlich überzeugt bin ich also nicht worden, dennoch hat "Shatter Me" bei mir durchaus funktioniert, denn ich habe das englische Hörbuch an einem Tag weggebinged und mir im Anschluss direkt Band 2 heruntergeladen.

Schreibstil:
Dies mag vielleicht an Tahereh Mafis besonderer, experimenteller, außergewöhnlicher und ja, damit auch durchaus gewöhnungsbedürftiger, Art zu schreiben liegen. Sie schreibt beinahe lyrisch, mit einem unwiderstehlichen Rhythmus, vielen Wiederholungen, sehr vielen Metaphern und Wortbildern, sodass manche Stellen ein wenig wie Poetry Slam klingen. Dazu passt auch die sanfte, träumerische Stimme des Originalhörbuchs, die die im Print-Buch als tagebuchartige Notizen festgehaltenen Szenen als Gedankenstrom zum Leben erweckt. Etwas befremdlich ist dabei, dass viele Worte oder ganze Sätze durchgestrichen sind (im Hörbuch durch ein Geräusch eines Stifts auf Papier verwirklicht) und die meisten Wortbilder keinen Sinn ergeben, was diesen zuvor beschriebenen Eindruck von Verwirrung und Entrückung verstärkt und das Chaos in Juliettes Kopf auf sehr eindringliche Art und Weise widerspiegelt. Einige Abschnitte haben in mir etwas ausgelöst und das Bedürfnis geweckt, nochmal zurückzuspulen, nur um nochmal in den Genuss des Klangs der Worte zu kommen. Andere Abschnitte wiederum haben mich ratlos zurückgelassen und besonders bei der 50. lyrischen Beschreibung von Adams Augen wollte ich nichts anderes tun, als das Buch gegen die Wand zu werfen. Ich verstehe also die Personen, die sich Hals über Kopf in Tahereh Mafis Schreibstil verliebt haben, ich kann aber auch alle nachvollziehen, die ihre Art zu schreiben aufgebauscht substanzlos und nervtötend verwirrend finden. Ein paar Beispiele für diesen ambivalenten Schreibstil, der mich ein bisschen ratlos und entschlossen zurückgelassen hat, findet Ihr am Ende meiner Rezension.

Figuren:
Anders als die Handlung und der Schreibstil konnte ich mir zu den Charakterzeichnungen gleich eine klare Meinung bilden: sie haben mich überhaupt nicht überzeugen können. Juliette wird durch den Schreibstil und ihre Darstellung zu Beginn als fragile Persönlichkeit am Rande des Nervenzusammenbruchs beschrieben. Nach einer lieblosen Kindheit, traumatischer Schuld und nicht zuletzt einem Jahr ohne menschlichen Kontakt in dunkler Isolationshaft ist es kein Wunder, dass ihre Gedanken ein wenig wirr klingen und ihr dringendes Bedürfnis nach menschlicher Nähe sie ab und zu auf Abwege führt. Dass sie sich nach wenigen Tagen in Freiheit nicht nur in Windeseile unsterblich in den ersten Mann zu verlieben, den sie sieht, sondern auch plötzlich zur mental gesunden Kämpferin in einem Konflikt wird, von dem sie zuvor noch nichts wusste, finde ich einfach von Grund auf unrealistisch. Auch die Insta-Love-Liebesgeschichte zu Adam und vor allem dessen Figurenzeichnung wirkte für mich bestenfalls auf Wattpad-Niveau. Etwas verwirrend fand ich auch, dass der von der Bookcommunity hochgehypte Aaron Warner, der ein Grund für mich war, das Buch überhaupt zur Hand zu nehmen, hier als psychopathischer Bösewicht auftaucht. Wie er zum besten Bookboyfriend aller Zeiten werden soll, ist mir zwar noch schleierhaft, aber wir haben ja immerhin noch fünf Bände vor uns...


Die Zitate:


"I always wonder about raindrops. I wonder about how they're always falling down, tripping over their own feet, breaking their legs and forgetting their parachutes as they tumble right out of the sky toward an uncertain end. It's like someone is emptying their pockets over the earth and doesn't seem to care where the contents fall, doesn't seem to care that the raindrops burst when they hit the ground, that they shatter when they fall to the floor, that people curse the days the drops dare to tap on their doors.
I am a raindrop.
My parents emptied their pockets of me and left me to evaporate on a concrete slab.”

"His eyes scan the silhouette of my structure and the slow motion makes my heart race. I catch the rose petals as they fall from my cheeks, as they float around the frame of my body, as they cover me in something that feels like the absence of courage."

"I spent my life folded between the pages of books. In the absence of human relationships I formed bonds with paper characters. I lived love and loss through stories threaded in history; I experienced adolescence by association. My world is one interwoven web of words, stringing limb to limb, bone to sinew, thoughts and images all together. I am a being comprised of letters, a character created by sentences, a figment of imagination formed through fiction."

"All I ever wanted was to reach out and touch another human being not just with my hands but with my heart."


Das Urteil:


"Shatter Me" konnte mich inhaltlich leider gar nicht überzeugen, hat mich aber dennoch so gefangen genommen, dass ich das Buch in einem Tag verschlungen habe. Ich fand die Figuren unglaubwürdig, den Schreibstil außergewöhnlich/gewöhnungsbedürftig(?), das Worldbuilding klischeehaft und die Storyline verwirrend - dennoch bin ich nicht losgekommen und habe mir gleich Band 2 heruntergeladen... Potential ist definitiv da, ob es sich entfaltet wird der nächste Band zeigen.

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  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.03.2023

Potential ist definitiv da, ob es sich entfaltet wird der nächste Band zeigen.

Ich fürchte mich nicht
0

Handlung: Um die "Shatter Me"-Reihe und insbesondere ein gewisser Aaron Warner kommt man als Mitglied der Bookcommunity auf Bookstagram oder Booktok einfach nicht herum. Mit geringen Erwartungen aber durchaus ...

Handlung: Um die "Shatter Me"-Reihe und insbesondere ein gewisser Aaron Warner kommt man als Mitglied der Bookcommunity auf Bookstagram oder Booktok einfach nicht herum. Mit geringen Erwartungen aber durchaus viel Neugierde habe ich mich gestern deshalb endlich mal mit der Reihe angefangen. Mein erster Eindruck war: völlige Verwirrung. Besonders während der ersten Kapitel hatte ich das Gefühl, in einem späteren Band einer Reihe einzusteigen, deren Auftakt ich verpasst habe, aber auch im weiteren Verlauf der Geschichte meinte ich ständig, wichtige Informationen verpasst zu haben.

Dieses bleibende Gefühl von Verwirrung sorgt auf der einen Seite für Spannung, da man die Geheimnisse der Geschichte ergründen möchte, ist aber mit der Zeit sehr unbefriedigend beim Lesen, da schon bald klar wird, dass das Worldbuilding beinahe nicht vorhanden ist. Bis auf wenige kurze Infodumps und ausgewählte Handlungsorte bekommen wir hier keinen Eindruck von dem dystopischen Setting der Reihe. Statt wie üblich im Alltag der Protagonisten in die Geschichte einzusteigen und anhand dessen, den Zustand und die Rahmenbedingungen der dystopischen Gesellschaft zu erklären, werden wir unvorbereitet in die Erlebniswelt eines 17jährigen Mädchens mit rätselhaften Superkräften in Einzelhaft in einem Irrenhaus am Rande des Nervenzusammenbruchs geworfen. Die 338 Seiten fühlen sich demnach ein bisschen wie ein entrückter, verlängerter Prolog an. Um dieses Gefühl, dass die Geschichte noch nicht so richtig durchgestartet ist, zu zerstreuen, lässt die Autorin immer mal wieder eine spannende Action-Szene einfließen, die aber auch für viel Verwirrung bei mir gesorgt haben.

Neben der verwirrenden Entfaltung der Storyline erscheint auch die grundlegende Idee der Geschichte für mich bisher nicht überzeugend oder besonders originell. Eine Menschheit am Rande des Ruins, ein böses diktatorisches Regime, eine rebellische Untergrundbewegung, ein Mädchen mit Superkräften, das alle als Waffe einsetzen möchten und zwei Männer, die die jeweiligen Seiten des Konflikts verkörpern - das ist der Prototyp des typischen, klischeehaften Dystopie-Plots, was nicht verwunderlich ist, da die Geschichte ursprünglich mitten in der 2010er-Dystopienphase erschienen ist. Inhaltlich überzeugt bin ich also nicht worden, dennoch hat "Shatter Me" bei mir durchaus funktioniert, denn ich habe das englische Hörbuch an einem Tag weggebinged und mir im Anschluss direkt Band 2 heruntergeladen.

Schreibstil:
Dies mag vielleicht an Tahereh Mafis besonderer, experimenteller, außergewöhnlicher und ja, damit auch durchaus gewöhnungsbedürftiger, Art zu schreiben liegen. Sie schreibt beinahe lyrisch, mit einem unwiderstehlichen Rhythmus, vielen Wiederholungen, sehr vielen Metaphern und Wortbildern, sodass manche Stellen ein wenig wie Poetry Slam klingen. Dazu passt auch die sanfte, träumerische Stimme des Originalhörbuchs, die die im Print-Buch als tagebuchartige Notizen festgehaltenen Szenen als Gedankenstrom zum Leben erweckt. Etwas befremdlich ist dabei, dass viele Worte oder ganze Sätze durchgestrichen sind (im Hörbuch durch ein Geräusch eines Stifts auf Papier verwirklicht) und die meisten Wortbilder keinen Sinn ergeben, was diesen zuvor beschriebenen Eindruck von Verwirrung und Entrückung verstärkt und das Chaos in Juliettes Kopf auf sehr eindringliche Art und Weise widerspiegelt. Einige Abschnitte haben in mir etwas ausgelöst und das Bedürfnis geweckt, nochmal zurückzuspulen, nur um nochmal in den Genuss des Klangs der Worte zu kommen. Andere Abschnitte wiederum haben mich ratlos zurückgelassen und besonders bei der 50. lyrischen Beschreibung von Adams Augen wollte ich nichts anderes tun, als das Buch gegen die Wand zu werfen. Ich verstehe also die Personen, die sich Hals über Kopf in Tahereh Mafis Schreibstil verliebt haben, ich kann aber auch alle nachvollziehen, die ihre Art zu schreiben aufgebauscht substanzlos und nervtötend verwirrend finden. Ein paar Beispiele für diesen ambivalenten Schreibstil, der mich ein bisschen ratlos und entschlossen zurückgelassen hat, findet Ihr am Ende meiner Rezension.

Figuren:
Anders als die Handlung und der Schreibstil konnte ich mir zu den Charakterzeichnungen gleich eine klare Meinung bilden: sie haben mich überhaupt nicht überzeugen können. Juliette wird durch den Schreibstil und ihre Darstellung zu Beginn als fragile Persönlichkeit am Rande des Nervenzusammenbruchs beschrieben. Nach einer lieblosen Kindheit, traumatischer Schuld und nicht zuletzt einem Jahr ohne menschlichen Kontakt in dunkler Isolationshaft ist es kein Wunder, dass ihre Gedanken ein wenig wirr klingen und ihr dringendes Bedürfnis nach menschlicher Nähe sie ab und zu auf Abwege führt. Dass sie sich nach wenigen Tagen in Freiheit nicht nur in Windeseile unsterblich in den ersten Mann zu verlieben, den sie sieht, sondern auch plötzlich zur mental gesunden Kämpferin in einem Konflikt wird, von dem sie zuvor noch nichts wusste, finde ich einfach von Grund auf unrealistisch. Auch die Insta-Love-Liebesgeschichte zu Adam und vor allem dessen Figurenzeichnung wirkte für mich bestenfalls auf Wattpad-Niveau. Etwas verwirrend fand ich auch, dass der von der Bookcommunity hochgehypte Aaron Warner, der ein Grund für mich war, das Buch überhaupt zur Hand zu nehmen, hier als psychopathischer Bösewicht auftaucht. Wie er zum besten Bookboyfriend aller Zeiten werden soll, ist mir zwar noch schleierhaft, aber wir haben ja immerhin noch fünf Bände vor uns...


Die Zitate:


"I always wonder about raindrops. I wonder about how they're always falling down, tripping over their own feet, breaking their legs and forgetting their parachutes as they tumble right out of the sky toward an uncertain end. It's like someone is emptying their pockets over the earth and doesn't seem to care where the contents fall, doesn't seem to care that the raindrops burst when they hit the ground, that they shatter when they fall to the floor, that people curse the days the drops dare to tap on their doors.
I am a raindrop.
My parents emptied their pockets of me and left me to evaporate on a concrete slab.”

"His eyes scan the silhouette of my structure and the slow motion makes my heart race. I catch the rose petals as they fall from my cheeks, as they float around the frame of my body, as they cover me in something that feels like the absence of courage."

"I spent my life folded between the pages of books. In the absence of human relationships I formed bonds with paper characters. I lived love and loss through stories threaded in history; I experienced adolescence by association. My world is one interwoven web of words, stringing limb to limb, bone to sinew, thoughts and images all together. I am a being comprised of letters, a character created by sentences, a figment of imagination formed through fiction."

"All I ever wanted was to reach out and touch another human being not just with my hands but with my heart."


Das Urteil:


"Shatter Me" konnte mich inhaltlich leider gar nicht überzeugen, hat mich aber dennoch so gefangen genommen, dass ich das Buch in einem Tag verschlungen habe. Ich fand die Figuren unglaubwürdig, den Schreibstil außergewöhnlich/gewöhnungsbedürftig(?), das Worldbuilding klischeehaft und die Storyline verwirrend - dennoch bin ich nicht losgekommen und habe mir gleich Band 2 heruntergeladen... Potential ist definitiv da, ob es sich entfaltet wird der nächste Band zeigen.

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