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Veröffentlicht am 17.09.2019

Wohlfühlroman

Nicht die Bohne!
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„Nicht die Bohne“ ist ein warmherziges und humorvolles Buch über das „Projekt“ Baby, das manchmal mit erschwerten Anfangsvoraussetzungen daherkommt.

Paula ist 32 und erfolgreiche Marketingmanagerin ...

„Nicht die Bohne“ ist ein warmherziges und humorvolles Buch über das „Projekt“ Baby, das manchmal mit erschwerten Anfangsvoraussetzungen daherkommt.

Paula ist 32 und erfolgreiche Marketingmanagerin in einem mittelständischen Unternehmen. Alles läuft gut, bis sie ihren langjährigen Freund Olaf verlässt, weil dieser plötzlich Kinder will und sie so gar nicht, jetzt nicht und eigentlich nie. Ironie des Schicksals: wenige Tage nach Beendigung der Beziehung stellt Paula fest dass sie schwanger ist, von ebendiesem Olaf von dem sie sich aufgrund von dessen drängendem Kinderwunsch getrennt hat. Und jetzt? Zurück zu Olaf will sie nicht mehr, aber die „Bohne“, wie sie ihr zukünftiges Baby schnell nennt, wieder hergeben will sie auch nicht. Deshalb muss es weitergehen: ohne Mann, mit ungewolltem Baby und zunächst heimlich schwanger im herausfordernden Job. Gut dass Paula eine bereits Kindererfahrene Schwester Andrea, einen weniger steten, aber dafür oft vorhandenen (wenn in keiner Beziehung) Bruder Tom und zwei überaus bezaubernde Aussteiger-Öko-Eltern hat, die ihrer Tochter mit Bohne die volle Unterstützung zusichern. Und dann wären da noch die Freundinnen Jutta und Mara, die Paula durch ihre ganz eigenen Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Freundschaftsimpulsen bereichern. Bald wird noch eine ganz neue „Familie“ hinzukommen, denn als Paula durch die Umstände ihrer Schwangerschaft beginnt ihren Job zu vernachlässigen wird sie gekündigt und bewirbt sich neu – bei einer ökologischen Selbsterzeugergemeinschaft. Dass sie dort nicht nur einen tollen Arbeitsplatz mit familiärem Anschluss und warmherzige Unterstützer ihrer „schwierigen persönlichen Verhältnisse“, wie Paula es selbst nennt, findet, sondern auch einen tollen Mann, wird der weitere Verlauf der Handlung zeigen. Als dieser aber nicht so recht mitzieht versucht Paula seinem „Problem“ auf die Schliche zu kommen. Ihr Fazit: es interessiert sie „nicht die Bohne“ (naja, ein kleines bisschen vielleicht doch).

Das Buch ist wirklich wunderbar geschrieben, die Protagonistin ist sympathisch und auch sonst erzeugt die Handlung beim Lesen ein richtiges Wohlfühlerlebnis. Obwohl am Anfang alles mies ist und man Paula die „schwierigen persönlichen Verhältnisse“ wirklich abnimmt wendet sich nach und nach alles zum Guten und man hat am Ende das Gefühl dass sie ihre Situation um 100% verbessert hat und dass ihr nichts besseres als „die Bohne“ passieren konnte, denn ohne sie wäre alles anders gekommen. Ein Buch mit „Happy End“ also, soviel ahnt man und kann man wohl verraten. Paula wird von der absoluten Karrierefrau durch das „Projekt“ Bohne (dass sie es am Anfang so bezeichnet zeigt gut wie absolut verwoben sie mit ihrem Business-Kontext zunächst noch ist) zu einer Person, der ihr Beruf zwar nach wie vor wichtig, aber nicht mehr das zentrale Moment in ihrem Leben ist.

Das einzige, was ich wirklich nicht nachvollziehen kann und was mich etwas irritiert hat: warum wird in Kapitel 8 eine Figur eingeführt, die dann später in der Handlung überhaupt nicht mehr vorkommt? Hannes, die nette schwule Zufallsbekanntschaft aus dem Einkaufszentrum, mit der Paula am Ende des Kapitels sogar sämtliche Kontaktdaten austauscht und mit dem sie eine spontane Seelenverwandtschaft zu verbinden scheint. Wahrscheinlich wurde er nur eingeführt um die richtigen Worte zu sagen, wie es in dem Kapitel heißt, allerdings hätte das auch eine andere Figur übernehmen können. Ein wenig enttäuscht war ich schon dass er danach nicht mehr auftaucht. Er hätte doch wunderbar in Paulas Freundes- und Familienkreis gepasst.

Alles in allem: ein toller Frauenroman, der vielleicht hier und dort seine erzählerischen Prioritäten anders setzen könnte, aber das ist jetzt das berühmte Jammern auf höchstem Niveau.

Veröffentlicht am 17.09.2019

Gute Unterhaltung, aber nicht mehr

Das Orchideenhaus
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Die Story: Julia Forrester, eine bekannte Pianistin, kommt nach einem schweren Schicksalsschlag (was das ist, erfahren wir im Laufe der Geschichte) ins heimatliche England (Norfolk) zurück, um sich dort ...

Die Story: Julia Forrester, eine bekannte Pianistin, kommt nach einem schweren Schicksalsschlag (was das ist, erfahren wir im Laufe der Geschichte) ins heimatliche England (Norfolk) zurück, um sich dort ihrer Trauer und ihren Erinnerungen hinzugeben. Sie trifft auf ihre Schwester Alice, die ganz eingebunden in ihre Familie ist und ihren Vater, einen anerkannten Naturforscher. Man erfährt dass "Wharton Park", das Herrenhaus, auf dessen Grund sie aufgewachsen ist (ihre Großeltern waren Angestellte des Anwesens), verkauft werden soll. Es wird schnell klar dass Julias Mutter, die auch einst dort lebte, vor vielen Jahren verstorben ist. Lord Christopher "Kit" Crawford, der Erbe, kann es sich finanziell nicht leisten das Haus wieder auf Vordermann zu bringen. Die Wiederbegegnung von Julia und Kit, die zusammen aufgewachsen sind, ist spannungsgeladen und lässt den Leser hoffen, dass Julia aus ihrer Depression erwacht...Ihre Großmutter Elsie erzählt Julia schließlich die Geschichte ihrer Familie.

„Das Orchideenhaus“ war in Deutschland ein Bestseller und weil ich diese immer erst ein wenig distanziert betrachte, bevor ich mich letztlich doch auf sie stürze (natürlich nur, wenn mich Genre und Story ansprechen), habe ich das Buch zunächst ignoriert.
Letztes Jahr hat mir eine sehr gute Freundin, die einen ausgezeichneten Lesegeschmack hat und obendrein Journalistin ist, dieses Buch geschenkt und gemeint, dass es mir gefallen würde.

Was soll ich sagen: „Das Orchideenhaus“ ist ein netter, stark psychologisierender Schmöker, der von seinem Handlungsverlauf aber ziemlich vorhersehbar ist. Man fühlt sich an einen Roman von Rosamunde Pilcher erinnert, in dem sich Charaktere, die früher gut waren, als „böse“ entpuppen und vice versa. Manchmal trieft die Sprache vor Pathos und Gesteltztheit. Trotz allem kann man aber sagen dass das Buch gut unterhält, obwohl viele Wendungen unglaubwürdig und wie in einer schlechten Fernsehsendung anmuten.
Was mir grundsätzlich gefallen hat: es geht um ein englisches Herrenhaus im Wandel der Zeit und das entspricht tatsächlich genau meinen Schauplatz-Vorlieben. Ich liebe Bücher, denen dieses Setting zugrundeliegt - einige meiner absoluten Lieblingsbücher (wie „The Shooting Party/Gosford Park“ oder „Was vom Tage übrigblieb“ sowie natürlich viele Agatha Christie-Romane) spielen wie dieses in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (in diesem Fall gesplittet mit der Gegenwart im 21. Jahrhundert) in einem Herrenhaus in England. „Wharton Park“ hat es mir als Schauplatz also angetan. Dass es dann auch noch mit Floristik zu korrespondieren schien hat mich zusätzlich eingenommen für das Buch.
Die Geschichte von Henry Crawford ist voll von typisch kolonialen Motiven: die Reise ins Exotisch-Ungewisse und tief in das eigene Selbst hinein weiß den Leser in den Bann zu ziehen.
Die ineinander verwobenen Liebesgeschichten der Charaktere sind auch Herzschmerz wie man ihn sich – zwar in geringen Dosen – aber dennoch gelegentlich zu Gemüte führen sollte, um nicht abzustumpfen als Leser, der stets mit einem ironisch-kritischen Blick auf alles schaut, was irgendwie konstruiert wirkt und überhaupt lächerlich ist.
Alles in allem also für alle empfehlenswert, die ein wenig der Realität entfliehen möchten, aber trotzdem gerne von Menschen lesen, deren Schicksal einer Achterbahn gleicht. Und natürlich für Blumen-, England- und Thailandfans bestens geeignet!

Veröffentlicht am 17.09.2019

Historischer Krimi vom Feinsten!

Die geheime Braut
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Wittenberg 1528: Die beiden Nonnen Susanna und Binea sind auf der Flucht. Nachdem im Zuge der Reformation immer mehr Klöster geschlossen werden verlieren auch die beiden ehemaligen Nonnen ihr sicheres ...

Wittenberg 1528: Die beiden Nonnen Susanna und Binea sind auf der Flucht. Nachdem im Zuge der Reformation immer mehr Klöster geschlossen werden verlieren auch die beiden ehemaligen Nonnen ihr sicheres Refugium und versuchen gemeinsam eine neue Bleibe, eine neue Aufgabe zu finden bzw. sich überhaupt erstmal durchzubringen. Bei einem versuchten Diebstahl treffen sie auf den jungen Maler Jan Seman aus der Werkstatt von Lucas Cranach, dem berühmten Maler der deutschen Renaissance. Er bringt die beiden nach Wittenberg, wo sie zunächst als Mägde bei der nicht minder berühmten Familie Luther anfangen können. Luthers Frau Katharina von Bora weiß sich als ehemalige Nonne mit dem Schicksal der Frauen zu identifizieren und nimmt sie im "Schwarzen Kloster" auf, das der Kurfürst den Luthers wenige Jahr zuvor überlassen hatte. Auch Lucas Cranach, Ratsherr und viel beschäftigter Maler, bekommt die Reformation zu spüren. Nachdem "Heiligenbilder" kaum noch gefragt sind konzentriert sich der Maler mit seiner Werkstatt vermehrt als Hofmaler auf den Adel und nimmt sonstige Auftragskunst an, auch die griechische Mythologie ist wieder en vogue. Eines Tages ereilt ihn ein besonderer Auftrag von einem maskierten Mann. Er soll die drei Grazien, die Töchter des Zeus (Aglaia, Thalia & Euphrosyne) auf einem Gemälde vereinigen. Zunächst eine einfach erscheinende Aufgabe, die allerdings an eine Bedingung geknüpft ist. Real existierende Frauen müssen ihm nackt Modell stehen, nach und nach soll er erfahren, wer die Frauen sind. Als erstes soll Aglaia portraitiert werden - und Jan Seman, der bei Frauen beliebt ist, bekommt die Aufgabe die Frauen davon zu überzeugen sich nackt malen zu lassen...
Im Wittenberger Frauenhaus bekommt derweil die Hurenwirtin Griet Besuch von ihrem unangenehmen Patron. Außerdem nimmt sie ein junges Mädchen bei sich auf, das ihre Eltern verloren hat. Die kecke Marlein wächst ihr ans Herz - soll sie sie tatsächlich als Hure bei sich arbeiten lassen?

Zunächst muss ich sagen dass dieser Roman einen perfekt symmetrischen, fast schon klassischen Aufbau hat. Form und Inhalt stimmen also perfekt überein und das trägt zum positiven Leseerlebnis absolut bei. Dass das besagte Gemälde auch noch vorn und hinten in sehr guter Qualität abgedruckt ist, ist ebenfalls sehr hilfreich, denn man schaut beim Lesen doch ganz gerne mal nach und hat dann ein Aha-Erlebnis wenn man das Beschriebene im Bild vorfindet.

Die Charaktere und handelnden Figuren sind von der Anzahl genau richtig für die Krimihandlung, die sich nach und nach entwickelt.
Es mischen sich fiktive Figuren (Susanna, Binea, Jan Seman, Griet...) mit historischen Persönlichkeiten (der Kurfürst und seine Frau, Luther, Katharina von Bora, Cranach, Melanchthon...), was den besonderen Reiz des Romans mitunter ausmacht. Dabei ist auf Seiten der historischen Persönlichkeiten nichts "weit hergeholt". Wie die promovierte Historikerin Brigitte Riebe im Nachwort schreibt sind die Schicksale der Nonnen in dieser Zeit oder das Vorhandensein eines Frauenhauses in Wittenberg geschichtliche Realität.

Was mich am meisten begeistert hat war die Atmosphäre, die Brigitte Riebe erzählerisch heraufbeschwört. Das Geheimnisvolle (wie schon im Einstein-Zitat als Motto) schwebt über der Handlung, die überaus realitätsnah, fast schon filmisch, vermittelt wird. Man ist als Leser so mittendrin, dass man sich seber im dunklen Schloss des Kurfürsten, den geheimnisvollen Auftraggeber belauschend, wähnt oder den Geruch wahrnimmt, den die Lebzelterin mit ihren Kerzen und Lebkuchen erzeugt. Auch ist die Reformation überall zu spüren und dass sie es paradoxer Weise nicht geschafft die Welt zu entzaubern (wie es im Nachwort heißt), sondern im Gegenteil bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts ein verstärkter Volksaberglaube zu herrschen schien.
Die Abwesenheit des katholischen Prunks stellt eine Leere her, die umso geheimnisvoller erscheint, man hat ständig das Gefühl: da war doch etwas, hinter all dem neuen, Gottesfürchtigen "Nichts" steht ein riesen Fragezeichen... Das Wittenberg dieser Zeit ist ein wirklich toller Schauplatz, den ich noch nirgends so eindrücklich beschrieben gefunden habe.

Rundherum kann ich sagen dass "Die geheime Braut" ein rundum gelungener historischer Roman mit Krimielementen ist, dem ich nur jedem ans Herz legen kann und der mir immer in Erinnerung bleiben wird.

Veröffentlicht am 17.09.2019

Mozart ist tot!

Mozarts letzte Arie
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Matt Rees hat einen Mozart-Roman ohne Mozart geschrieben. Die Handlung spielt kurze Zeit nach seinem mysteriösen Dahinscheiden mit 35 Jahren.
Mozarts Schwester Nannerl besucht Wien kurze Zeit nach seinem ...

Matt Rees hat einen Mozart-Roman ohne Mozart geschrieben. Die Handlung spielt kurze Zeit nach seinem mysteriösen Dahinscheiden mit 35 Jahren.
Mozarts Schwester Nannerl besucht Wien kurze Zeit nach seinem Tod im Dezember 1791. Aus ihrer Perspektive erfahren wir als Leser die Geschehnisse. Diese sind in Form eines Tagebuchs festgehalten, das ihr Neffe Wolfgang (Mozarts Sohn) vierzig Jahre nach dem Tod seines Vaters 1829 in Händen halten und so erfahren wird, warum er sterben musste (Handlung des Epilogs).
Ich bin von dem Buch ziemlich bewegt, denn es schafft wirklich eine unglaubliche Atmosphäre. Das Wien des späten 18. Jahrhunderts wird dem Leser in einer intimen Weise nahegebracht. Die Welt des Theaters bzw. der Oper zwischen Schein und Sein, die Politik und die harten Realitäten eines Musikerlebens – das alles lebt auf in den Zeilen von Matt Rees.
Nannerl kommt aus der österreichischen Provinz, in der sie aus der Ferne miterlebt hat wie ihr Bruder zum größten Musikgenie aller Zeit „aufgestiegen“ ist und das ohne das gemeinsame Erbe, das der Vater aus Gram nur der Tochter zukommen hat lassen. So plagten den lebhaften Mozart und seine Frau Constanze ständig Geldprobleme, die u.a. durch Mäzene und Musikstunden kompensiert werden mussten.
Seit vielen Jahren haben sich die Geschwister Mozart nicht mehr gesehen als plötzlich die Nachricht vom Tod Mozarts seine Schwester ereilt. Sie macht sich auf den Weg nach Wien um zu recherchieren. Zu wem hatte ihr Bruder Kontakt? Was spielen die Freimaurer für eine Rolle in seinem Leben? Hatte er außereheliche Verhältnisse, die seine Ehe ins Wanken brachten? Und was wollte Mozart in Berlin, am Hof des preußischen Königs?
Auch wenn alles auf Mozart bezogen ist , sein Geist durch ein Wien weht welches nun ohne sein großes Genie weiterexistieren muss und es diesen Roman ohne ihn nicht gäbe: es ist auch ein Buch, das seine Schwester, die Ich-Erzählerin, in den Vordergrund stellt. Über sie, über die man wenig weiß, will Matt Rees berichten. Was mag diese Frau gefühlt haben, die ebenso mit musikalischem Genie gesegnet war, es als Frau aber nicht so weit bringen konnte wie ihr Bruder, der dann doch der Größere war? Die frappierende Ähnlichkeit Nannerls mit ihrem Bruder wird immer wieder thematisiert wird und auch als Handlungselement eingebaut.
Auch Weiblichkeit und Feminismus spielt eine große Rolle im Roman. Wollte sich Mozart für die Gleichberechtigung einsetzen? Wurde ihm seine Begeisterung für die Ideale der Französischen Revolution zum Verhängnis?
Die Wien-Reise Nannerls nach Mozarts Tod ist reine Fiktion, allerdings sind viele Tatsachen im Buch verarbeitet und nachprüfbar. Im Nachwort des Autors erfährt der Leser was belegbar ist und was seiner Phantasie entsprungen. Dieses Nachwort lohnt sich wirklich zu lesen, denn die Poetik dieses Romans ist eine ganz besondere: sie ist musikalisch. Der Autor hat sich beim Aufbau seines Romans die Musik Mozarts zum Vorbild genommen und so ist selbst die Struktur von seinem Genie erfüllt.
Ich sage nur: bravo!

Veröffentlicht am 17.09.2019

History-Mystery

Die Gebeine von Avalon
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Bei diesem Mix aus dem History und Mystery-Genre (mit einer Prise Thriller) handelt es sich um den ambitionierten und, wie ich finde äußerst gelungenen Versuch, ein Geheimnis aus der tiefen Vergangenheit ...

Bei diesem Mix aus dem History und Mystery-Genre (mit einer Prise Thriller) handelt es sich um den ambitionierten und, wie ich finde äußerst gelungenen Versuch, ein Geheimnis aus der tiefen Vergangenheit (in diesem Fall der mystischen Vorzeit Britanniens) durch eine historische Figur aus der ebenfalls tiefen, aber nicht ganz so lange vergangenen Vergangenheit (dem England des 16. Jahrhunderts) zu lösen.
Der Hofwissenschaftler der jungen Königin Elizabeth Tudor (zum Zeitpunkt der Handlung erst 2 Jahre auf dem Thron), Dr. John Dee, wird mit der schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert, die seit der Auflösung der Klöster verschollenen Gebeine ihres „Vorfahren“ König Artus aus Glastonbury nach London zu holen, um ihre Regentschaft gegen ihre Feinde und Gegner abzusichern , aber auch, wegen ihrer Ängste und ihres Aberglaubens. In einer Zeit, in der die neue Religion, der Protestantismus, von Staatswegen wieder durchgesetzt wird und es dennoch unterschwellig im ganzen Volk brodelt, einem Volk, dass sich seine eigenen Götter sucht, dem Aberglauben anhängt und in der Höflinge bereit sind die Religion wie die Kleidung zu wechseln, ist es für den Wissenschaftler Dee ein Canossagang in die einstige Hochburg des britischen Katholizismus und gleichzeitig des vorchristlichen Heidentums zu gehen. Er trifft auf ehemalige Mönche, Kräuterfrauen und Reliquienhändler und muss einen grausamen Ritualmord an einem Diener seiner Königin erleben, um näher zum Geheimnis der „Gebeine von Avalon“ zu gelangen.
Was an diesem Buch so besonders ist und mich absolut anspricht: obwohl es um Altes und Abgelebtes geht, also um Jahrhunderte alte Knochen, um das Zurücklassen des Überholten (sei es um Religion oder den Aberglauben, der sich in Hexenverbrennungen etc. geäußert hat) und schließlich um das ultimative Nicht-Sein, den Tod (zartbesaitete Leser – zu denen ich mich auch zähle – müssen sich hin und wieder auf äußerst morbide und teilweise grausame Szenarien einstellen) und die Angst davor (das „memento mori“-Motiv wird oft anzitiert), atmet dieser Roman auf jeder Seite Lebendigkeit. Rickman schafft es wie kaum ein anderer das Glastonbury des 16. Jahrhunderts so greifbar werden zu lassen, als wäre man selbst ein Teil dieser Stadt, die – durch die zerstörte Abtei repräsentiert – nur noch ein Anachronismus ihrer Selbst ist. Man spürt förmlich die kalte Luft des Februarmorgens, wenn der Schmied seine Pferde beschlägt, man isst mit Dr. John Dee die verschrumpelten Winteräpfel auf dem Markt und spürt schließlich die unwirklich schleierhafte Atmosphäre, den Spirit an diesem Ort, der etwas ganz Besonders ist.
John Dee ist in der Überlieferung eine eher dunkle Gestalt, die sich der Alchemie und Astrologie verschrieben hat. Diese Vorstellung von ihm geht aber ganz und gar nicht mit der sympathisch-menschlichen Charakterisierung von ihm durch Phil Rickman einher. Dr. Dee ist Anfang dreißig und beschreibt sich selbst ganz faustisch als einer, der zwar viel Wissen angesammelt, aber wenig erlebt hat und mit Menschen nicht so gut umzugehen weiß. Sehr bescheiden lebt er trotz seiner (unbezahlten) Eigenschaft als Haus- und Hofwissenschaftler der Königin mit seiner Mutter zusammen auf dem Land, die spärlichen erotischen Kenntnisse hat er bei der heimischen Magd gesammelt. Im ruinenhaften Glastonbury begegnet er nun bewusstseinserweiternden Zuständen und: der Liebe.
Das Gegenteil von Dee ist der großsprecherische Sir Robert Dudley, Geliebter, Höfling und Oberstallmeister der Königin, der Dee auf seiner Reise nach Glastonbury begleitet und unfreiwillig durch Krankheit in die Rolle des Untätigen gelangt. Auch er ist trotz seiner vielen Fehler und inneren Zerrissenheit (er schwankt zwischen der Liebe zu seiner Frau Amy und der zur Königin) sympathisch charakterisiert. Die beiden geben ein fast schon amüsantes neuzeitliches „Ermittler-Duo“ ab, ihre lebendigen Dialoge sind ein sehr schöner Nebenaspekt des Buches.
Außerdem: Rickman schafft es bei aller schwierigen Thematik sowohl Lesbarkeit zu erzeugen als auch den: „Muss-weiterlesen“-Effekt zu kreieren – und das ohne spektakuläre Cliffhanger (wobei die Kapitel sehr gut in sich strukturiert und angenehm kurz sind). Einfach die Story an sich ist so gut, dass man unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht und was Dr. Dee auf die Spuren der Gebeine von Artus bringen wird.
Zum Schluss noch ein Lob für die geniale Covergestaltung mit dem erhabenen haptischen Titel und überhaupt den Softumschlag, der beim Lesen sehr angenehm ist und auch nachher im Regel viel hermacht.
Ich bin froh dieses Buch gelesen zu haben und kann es nur allen empfehlen, die gerne durch das Zwielicht dringen und sich für historische Mysterien interessieren: 5 Sterne!