Profilbild von chiaralara36

chiaralara36

Lesejury Star
online

chiaralara36 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit chiaralara36 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.10.2023

Ist Überleben schlimmer als der Tod?

Gebranntes Kind sucht das Feuer
0

Um nicht weniger kreisen die Gedanken von Cordelia Edvardson in ihrem Erinnerungsroman. Die unvorstellbaren Grauen des NS-Regimes, sie werden in diesem Buch deutlich, nüchtern benannt. Und dies nicht als ...

Um nicht weniger kreisen die Gedanken von Cordelia Edvardson in ihrem Erinnerungsroman. Die unvorstellbaren Grauen des NS-Regimes, sie werden in diesem Buch deutlich, nüchtern benannt. Und dies nicht als abstrakter geschichtlicher Abriss, sondern in den Erinnerungen einer Zeitzeugin, die als Jugendliche in Auschwitz inhaftiert war. Edvardson schreibt in einer Eindringlichkeit, die beim Lesen erschaudern lässt. Dabei gelingt ihr sich nicht nur mit dem auszudrücken, was sie schreibt, sondern sagt in manchen Passagen ebenso viel, wenn nicht noch mehr zwischen den Zeilen. Die Sprachlosigkeit und Gefühllosigkeit angesichts des Erlebten, man spürt sie in jeder Zeile, zwischen den Zeilen, sie hängt förmlich bleischwer zwischen den Buchstaben. Es ist als ob ein Teil von ihr sterben musste, um zu überleben, um das Erlebte überhaupt ertragen zu können.

Damit unterscheidet sich die Erinnerung in der Form ihrer Umsetzung, deutlich von Imre Kertész Roman eines Schicksallosen, Kertész wie Edvardson 1929 geboren und auch zeitweise in Auschwitz inhaftiert. Wie beschreibt man, das Unbeschreibliche? Die Altersgenossen eint, eine Antwort darauf gefunden zu haben. Beide suchen in ihrem Ausdruck eine Form der Distanz. Bei Kertész ist dies der unbedarfte Blick eines Kindes, der es ermöglicht das Unvorstellbare niederzuschreiben. Edvardson wählt die dritte Person, schreibt über „das Mädchen“, zu unbegreiflich bleibt, dass dies ihr Leben, ihre Erfahrung ist. Mengele, Magdl, die Tötungsmaschinerie im Lager werden, wie im Anschlag einer Schreibmaschine Wort für Wort dokumentiert, selten nur erlaubt sich das Mädchen wirkliche Emotion, darf sie sich nicht erlauben, wenn sie überleben will.

Das Überleben, es ist für mich das größte Geschenk in der Wiederentdeckung des Erinnerungsromans von Cordelia Edvardson. Denn das „Weiterleben“ ist etwas, was ich bisher in noch keinem Zeitzeugenbericht so eindringlich beschrieben oder überhaupt thematisiert gefunden habe. Wie gehen wir als Gesellschaft mit den Überlebenden um? Cordelia Edvardson begegnet einem gesellschaftlichen Verdrängen, einem Weitermachen, nach vorn blicken. Doch Verdrängen funktioniert nur für die, die nicht gesehen, die nicht erlebt haben - Edvardson nennt sie die Lebenden. Was macht die gesellschaftliche Verdrängung als kollektive Vergangenheitsbewältigung mit denen, die überlebt haben und nun weiterleben müssen? Nimmt man den Überlebenden damit nach der Entmenschlichung des Lagers ein zweites Mal ihre Identität, oder zumindest einen Teil davon, indem man das Erlebte ignoriert, negiert, nicht hören will?

Auch diese Fragen machen den Erinnerungsroman heute noch genauso aktuell wie bei seiner Ersterscheinung.

Die schwierige Beziehung zur Mutter bleibt lange nicht wirklich greifbar. Es schadet sicher nicht vor der Lektüre zu Elisabeth Langgässer einen kurzen Überblick zu haben. Spätestens im Nachwort kann hiermit jedoch auch Daniel Kehlmann dienen.

Es ist sicher kein leichtes und auch kein schönes Buch, im herkömmlichen Sinne, aber dafür um so mehr ein wichtiges Stück Erinnerung und Zeitgeschichte, an dem Cordelia Edvardson uns teilhaben lässt.

Die Zeilen von Cordelia Edvardson werden mich noch lange beschäftigen. Und das ist das Beste, was man von einem Buch erwarten kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.10.2023

Im freien Fall

Die Farbe der Sprachlosigkeit
0

Als Dana eine auffällige Stelle an ihrem Hals entdeckt, beginnt für sie ein Teufelskreis aus dem sie verzweifelt einen Ausweg sucht. Dana, erfolglose Drehbuchautorin, in einer unglücklichen Beziehung mit ...

Als Dana eine auffällige Stelle an ihrem Hals entdeckt, beginnt für sie ein Teufelskreis aus dem sie verzweifelt einen Ausweg sucht. Dana, erfolglose Drehbuchautorin, in einer unglücklichen Beziehung mit Architekt Jan, findet keine Worte für das was mit ihr nach der Abklärung beim Arzt passiert, obwohl dieser beschwichtigend zur Gelassenheit und weiterer Diagnostik rät. Sprachlosigkeit und Angst übermannen Dana, doch geht es wirklich um den Fleck oder ist ihr Leben schon zuvor aus den Fugen geraten, hat Dana den Anschluss an sich selbst, zu ihrem eigenen Glück verloren?

Das Thema Angsterkrankungen finde ich sehr wichtig und auch im Roman grundsätzlich gut umgesetzt. Ob es dazu jedoch die Verdachtsdiagnose einer derart schweren Erkrankung brauchte, die für sich mit ganz eigenen Ängsten unabhängig von Angsterkrankungen, einhergeht, würde ich offen lassen. Hier fehlt mir die Differenzierung zwischen berechtigten Ängsten als nachvollziehbare Reaktion auf eine schwere Erkrankung auf der einen und vollkommen irrealen Ängsten mit unangemessener und nicht zuletzt ungesunder Reaktion im Rahmen einer Angsterkrankung auf der anderen Seite.

Nach meinem Geschmack hätte zudem der Schwerpunkt mehr auf dem tatsächlich Stellen der Ängste liegen können. Letztlich sind es nur wenige Seiten und Zeilen, die der eigentlichen Konfrontation und gesunden Strategie zum Umgang damit gewidmet sind. Wobei letzteres nur im Ansatz thematisiert wird.

Sprachlich schafft die Autorin immer wieder sehr schöne und ausdrucksstarke Bilder, wie selbst bereits der Titel mit der Farbe der Sprachlosigkeit. Dies hat mir gut gefallen.

Die Ausgabe ist sehr schön und liebevoll gebunden, mit Lesebändchen.

Insgesamt ein thematisch sehr wichtiges Buch, mit teilweise schönen sprachlichen Bildern, dass mich in der Konstruktion und dem Aufbau der Geschichte jedoch nicht ganz überzeugen konnte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.10.2023

Im Herzen der Gewalt

NOVA
0

Ruht die Fähigkeit zur Gewalt, gar der Wille dazu, in uns allen? Und was bedeutet dies für die Gesellschaft? Diese spannenden Fragen stehen im Mittelpunkt von Nova.

Die Kleinstadt Lucca, der Neurochirurg ...

Ruht die Fähigkeit zur Gewalt, gar der Wille dazu, in uns allen? Und was bedeutet dies für die Gesellschaft? Diese spannenden Fragen stehen im Mittelpunkt von Nova.

Die Kleinstadt Lucca, der Neurochirurg Davide, seine Frau Barbara, Logopädin, der jugendliche Sohn Tommaso, ein Übergriff auf Barbara in einem Restaurant, der von einem zunächst Fremden für sie gelöst wird. Das sind die Eckdaten und Ausgangssituation von Nova.

Davide beginnt nicht weniger als eine Transformation im Laufe des Romans, sein Denken und Handeln in Bezug auf Gewalt verändern sich und damit wird auch er ein anderer. Doch zu welchem Preis?

Der Roman ist wirklich hervorragend geschrieben und übersetzt, man meint eine echte Liebe zur Sprache zu erkennen und was diese ausdrücken kann. Umso bedauerlicher ist daher, dass die Figuren seltsam blass bleiben, man erfährt kaum etwas über echte Emotionen dieser. Stattdessen gibt es einige Längen, die weder dem Hauptplot noch einer echten Charakterverdichtung der Protagonisten und Protagonistinnen dienen. Thematisch entsteht der Eindruck, dass der Autor mit viel Raffinesse und Talent mit den Ausdrucksformen der Sprache spielt, darüber jedoch Substanz und Inhalt aus dem Fokus geraten. Gewalt als Mittel und Form, obwohl Hauptthema des Buches, wird letztlich auch ideengeschichtlich nur oberflächlich und einseitig betrachtet, auch die Komplexität sozialer Beziehungen wird nur unzureichend erfasst, und ausschließlich im Kontext Gewalt und Männlichkeit, dargestellt.

Der Roman ist gespickt mit medizinischen Fachbegriffen, die die Geschichte zwar authentisch machen, schließlich ist Davide Neurochirurg, jedoch das Lesen zuweilen beschweren, wenn man mit dem Vokabular nicht vertraut ist und gleichzeitig den Anspruch hat, das Gelesene zu verstehen. Da ich mir tatsächlich oft das Gelesene bildlich vorstelle, brauchte ich hier „Übersetzungen“. Es wäre schön, wenn zumindest sehr spezielles Vokabular vielleicht im Anhang oder einer Fußnote erläutert würde.

Das Cover finde ich sehr passend, es hat etwas Eruptives, das sich auch im Roman, im positiven Sinne widerspiegelt.

Ich hatte mich sehr auf den Roman gefreut, da ich Thema und Beschreibung sehr interessant fand. Sprachlich wurde ich nicht enttäuscht, inhaltlich hat der Autor das Potential, sowohl sein eigenes als auch des Themas, nach meinem Empfinden jedoch leider nicht ausgeschöpft.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.10.2023

Hat ein Kind das Recht darauf mit Liebe aufzuwachsen?

Das dritte Licht
0

Hat ein Kind das Recht darauf mit Liebe aufzuwachsen? Und was ist, wenn es diese in seiner Ursprungsfamilie nicht erhalten kann? Diese Fragen stellt man sich zwangsläufig bei der Lektüre der wundervollen, ...

Hat ein Kind das Recht darauf mit Liebe aufzuwachsen? Und was ist, wenn es diese in seiner Ursprungsfamilie nicht erhalten kann? Diese Fragen stellt man sich zwangsläufig bei der Lektüre der wundervollen, nur knapp 100 Seiten umfassenden, Erzählung „Das dritte Licht“.

In der dritten Person wird aus der Perspektive eines nicht näher benannten Mädchens kurz vor der Einschulung beschrieben, wie sie die Zeit erlebt, die sie bei kinderlosen Verwandten verbringt. Vor dem Hintergrund der erneuten Schwangerschaft ihrer Mutter und den daraus resultierenden finanziellen Sorgen wurde sie von ihrem Vater bei dem verwandten Paar temporär in Obhut gegeben. In ihren Beschreibungen und Reflexionen denkt das Mädchen auch immer wieder an ihre Ursprungsfamilie, nicht zuletzt wegen des großen Kontrasts im Familienleben bei dem verwandten Paar (die Kinsellas) und in ihrem eigentlichen Zuhause.

Dieser Kontrast wird von Claire Keegan in einer wundervollen Sprache eingefangen. Mit wenigen Worten erzeugt die Autorin eine unglaublich dichte Atmosphäre, sagt genauso viel mit dem was sie schreibt, wie mit dem was ausgelassen wird. Die Landschaft im ländlichen Irland, das Leben und Arbeiten auf der Farm, das unausgesprochene Geheimnis aus der Vergangenheit, und nicht zuletzt die Liebe und Fürsorge verschmelzen sprachlich zu einem Kunstwerk für sich. Das Ergebnis ist wunderschön, traurig und rührend zugleich.

Eine Erzählung die literarisch, aber auch unter sozial(kritischen) Aspekten vollkommen überzeugt und man einfach gelesen haben muss!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.10.2023

Der Brief einer mutigen Rebellin, Frauenrechtlerin und Mutter an ihren Sohn und die Welt

Dich zu verlieren oder mich
0

In was für einer Welt leben wir, in der 16-Jährige mal eben, wie eine Sklavin oder ein Stück Vieh an einen Kommandanten verheiratet und Frauen gegen Kampfhunde eingetauscht werden? Und das alles im Jahr ...

In was für einer Welt leben wir, in der 16-Jährige mal eben, wie eine Sklavin oder ein Stück Vieh an einen Kommandanten verheiratet und Frauen gegen Kampfhunde eingetauscht werden? Und das alles im Jahr 1996, nicht im Mittelalter? Und auch jetzt und heute, im Jahr 2023 während ich diese Rezension schreibe, können abermals afghanische Mädchen nicht zur Schule gehen, wachsen in einem repressiven, frauenverachtenden System auf, und ein ganzes Land versinkt abermals in Terror und Repression mit allen Folgen, die dies für die Bewohnerinnen und Bewohner hat. Was dies für die und den Einzelne*n bedeutet, davon haben wir dank der mutigen autobiographischen Zeilen von Homeira Qaderi nun ein weiteres konkretes, furchtbares Bild vor Augen.

„Dich zu verlieren oder mich“ ist als Brief an Homeira Quaderis Sohn verfasst. Die einzelnen Kapitel im Erzählstil, in denen Homeira Qaderi ihren Lebens- und viel zu oft Leidensweg als Mädchen und Frau in einem repressiven, patriarchalischen System beschreibt, enden jeweils mit sehr persönlichen Worten in denen sie ihren Sohn Siawash direkt adressiert. Diese Passagen sind sehr emotional und lassen uns an Qaderis tiefsten Empfindungen teilhaben. Der Autorin gelingt es in Worte zu fassen, was eigentlich kaum zu beschreiben ist, die innere Zerrissenheit zwischen ihrer Mutterrolle und tiefen Liebe zu ihrem Sohn und dem Bewahren ihrer Identität als Mensch und als Frau in einem repressiven frauenverachtenden System. Es ist dieser große Schmerz einer Mutter und Frau, der aus jeder Zeile an ihren Sohn spricht und fühlbar wird.

Erschreckend ist mit welcher fast Normalisierung die kindliche Homeira Krieg und Gräuel wahrnimmt, einfach weil sie nicht viel anderes kennt und es zu ihrem Aufwachsen dazu gehört. Umso beeindruckender ist wie bereits die junge Homeira bestehende Normen in Frage stellt, ihr Gerechtigkeitsgefühl schon als kleines Mädchen und ihr unglaublicher Mut für ihre Überzeugung einzustehen, für sich, später für ihren Sohn, jedoch letztlich nicht weniger als für alle Mädchen und Frauen, die auch im Hier und Jetzt noch immer unterdrückt werden, zu kämpfen.

Ich mag die junge Homeira sehr, mit all ihren Flausen im Kopf, ihren emanzipierten Gedanken bereits in jungen Jahren, und ihrem klugen Hinterfragen der bestehenden Ordnung. Gleichzeitig wäre auch ohne das vorweg genommene Exil, aus dem sie die Zeilen schreibt, zu erwarten, dass sie mit ihrem Mut, ihrer Klugheit und mit ihrem Charakter in dieser Gesellschaft gegen Wände laufen wird. Es ist ein Kampf, der allein nicht zu gewinnen ist, eine Frau gegen ein Heer von Männern in einem patriarchalischen, repressiven System, das auch alle Regeln und Gesetze setzt. Die Unterdrückung manifestiert sich dabei in viel mehr als aktuellen Gesetzen, denn auch das zeigt Quaderi auf: eine Kultur internalisierter Misogynie über Generationen, in denen bereits kleinsten Mädchen gelehrt wird, dass sie in diesem System nichts zu erwarten haben und sich besser diesem beugen, wenn sie nicht sich und ihre Familie in große Schwierigkeiten bringen wollen. Selbst an sich progressiven Angehörigen bleibt angesichts der übermächtigen Trias von Gesetz, Kultur und Tradition letztlich nur ein Gefühl der Ohnmacht.

Qaderis Zeilen machen sehr deutlich, dass echte Fortschritte in der Gleichberechtigung, die Abschaffung von Misogynie nur gemeinsam erreicht werden können, wenn Frauen untereinander (und auch Männer) sich verbünden und gemeinsam gegen Repression und für eine gleichberechtigte Gesellschaft kämpfen.

„Dich zu verlieren oder mich“ ist ein Buch über eine Kindheit und ein Aufwachsen mitten im Krieg, Frausein, Muttersein und den couragierten Kampf für Gleichberechtigung und gegen Unterdrückung einer in jeder Hinsicht beeindruckenden Frau. Für die erwachsene Homeira bleibt mir tiefste Bewunderung und ein großer Dank für dieses wichtige Buch!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere