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Veröffentlicht am 12.11.2023

Eine satirische Kulturvermittlerin für das deutsche Amtswesen

Da bin ick nicht zuständig, Mausi
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Mürrisch, faul, unfreundlich… und sicher noch viele weitere Attribute werden bemüht um deutsche Beamte zu bezeichnen. Mit diesen Vorurteilen spielt Conny from the Block und macht daraus eine durchaus unterhaltsame ...

Mürrisch, faul, unfreundlich… und sicher noch viele weitere Attribute werden bemüht um deutsche Beamte zu bezeichnen. Mit diesen Vorurteilen spielt Conny from the Block und macht daraus eine durchaus unterhaltsame Lektüre. Ich kannte Conny from the Block zuvor nicht, und bin auch ohne Vorwissen gut in das Buch gestartet. Im Mittelpunkt steht natürlich Conny, Mitte 40, Sachbearbeiterin in einer Berliner Behörde. Dazu gesellt sich ihr buntes Kollegium, an dem beispielhaft herausgearbeitet wird, welche unterschiedliche Motivation Menschen als Mitarbeitende zum Amt bringt. Und so haben wir Teil an Büroklatsch, lernen den Nutzen von Umlaufmappen als Schutzschilde und den Amtsalltag mit seinen Höhen und Tiefen in überspitzter Form, kennen. Nebenbei erfahren wir auch einiges aus Connys Single Alltag in Neukölln, lernen u.a. ihre Nachbarn Gül kennen, von der sie uns auch ein paar leckere Rezepte verrät.

Hinter all der Comedy stecken jedoch auch ernste und wichtige Themen, wie interkulturelle Kompetenz in Behörden sowie Ost- und Westerfahrungen bei Mitarbeitenden, die geschickt in der Erzählung vermittelt werden.

Der Stil ist durchweg sehr leicht und flüssig, immer wieder mit Berlinerisch, was das Leseerlebnis zusätzlich authentisch wirken lässt. Etwas zu viel und flach war mir, trotzt Comedy, manchmal der Stereotype von schmachtenden Frauen, die vermeintlich alles um sie herum vergessen, sobald ein für sie attraktiver Mann vor ihnen steht.

Conny spielt mit Vorurteilen auf beiden Seiten, klärt auf und schafft es so mit ihrer Erzählung Empathie für die spezielle Spezies Beamte zu wecken, und damit zwischen Amt und BürgerInnen zu vermitteln. Insgesamt eine kurzweilige und amüsante Lektüre für zwischendurch, die das Phänomen Amt ein bisschen besser zu verstehen hilft.

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Veröffentlicht am 10.11.2023

Ein literarisches Wimmelbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts zwischen Hanse und Provinz

Unsereins
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Der kleinste Staat im Deutschen Reich, oder doch eher der zweitkleinste, aber das klingt nicht gut… In feiner Sprache entwirft Inger Maria Mahlke ein Sittengemälde der Stadt Manns und der Buddenbrooks ...

Der kleinste Staat im Deutschen Reich, oder doch eher der zweitkleinste, aber das klingt nicht gut… In feiner Sprache entwirft Inger Maria Mahlke ein Sittengemälde der Stadt Manns und der Buddenbrooks im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Stil ist leichtfüßig, detailreich, bildlich hat man Holstentor und Trave vor sich und taucht ein in das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner um die Jahrhundertwende. Etwas mehr als anderthalb Jahrzehnte begleiten wir im Buch Lohndiener, Senatoren, Hausmädchen, Köchinnen, Ratsdiener, Dichter etc. und solche die es werden wollen, die angesehensten Familien der Stadt und die, die so gerne dazugehören würden. Die Themen, die die ProtagonistInnen umtreibt sind dabei mal ganz lebensweltlich, mal pragmatisch, mal politisch. Interessant fand ich besonders die Darstellung der politischen Sphäre, das Repräsentationssystem im deutschen Reich, die Sozialistengesetze etc.

Der Stil ist zwar detailreich jedoch sehr deskriptiv, wenig deutend, was sicher auch durch die 3. Person bedingt ist. Dadurch erscheint zwar Lübeck vor dem inneren Auge realitätsnah auf, die Figuren blieben für mich hingegen leider emotional etwas blass. Wirkliche Nähe konnte ich nicht aufbauen. Am ehesten fühlte sich das Lesen für mich wie ein literarisches Wimmelbild an, auf dem immer Neues, neue Details erkennbar werden. Das hat durchaus seinen Reiz, jedoch auf knapp 500 Seiten auch gewisse Längen.

Bei aller Detailverliebtheit ergeben sich an einigen Stellen leider logische Dissonanzen, so wird beispielsweise ein Mantel, dessen Ausziehen bis ins Detail beschrieben wird, beim Anziehen später plötzlich zur Jacke.

Gewöhnungsbedürftig war für mich die Mischung des Schauplatzes um die Jahrhundertwende, der mit viel Mühe um Authentizität beschrieben wird, mit gelegentlichen Analogien und Bildern aus der Moderne. Da fliegt ein Regentropfen wie eine Drohne, oder es wird ein moderner Algorithmus an anderer Stelle als Vergleichsperspektive bemüht. Das ist sicher Geschmackssache, für mich fühlte es sich jedoch nicht ganz stimmig an.

Insgesamt ein interessanter, detailreicher Einblick in das Lübeck um die Jahrhundertwende und seine Ständegesellschaft mit all ihren Freuden und Sorgen, für mich jedoch mit kleinen Schwächen im Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 06.11.2023

Drei Menschen im 20. Jahrhundert zwischen Kriegen, Ideologien und politischen Systemen

Das Licht zwischen den Schatten
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Konrad, Brigitte, André - drei Menschen die nicht nur in verschiedenen Zeiten des 20. Jahrhunderts aufwachsen, sondern auch in vollkommen anderen politischen Systemen und nicht zuletzt auch familiären ...

Konrad, Brigitte, André - drei Menschen die nicht nur in verschiedenen Zeiten des 20. Jahrhunderts aufwachsen, sondern auch in vollkommen anderen politischen Systemen und nicht zuletzt auch familiären Verhältnissen. Konrads Geschichte beginnt 1919 kurz nach dem ersten Weltkrieg, der Vater als Held im Krieg gefallen, die Mutter froh den Nichtsnutz nicht mehr wiedersehen zu müssen. Brigitte begegnet uns zuerst 1950, sozialisiert im Nationalsozialismus noch immer im tiefen Glauben an diesen und den Führer. Andrés Geschichte beginnt 1976 in Ost-Berlin, adoptiert nach dem Tod seiner Eltern, mit Karrierechancen als DDR Vorzeigeathlet im Turmspringen.

Das sind die Ausgangspunkte aus denen Michaela Beck eine durchdringende Familiengeschichte über fast ein dreiviertel Jahrhundert von 1919 bis 1989 entwirft. Die Kapitel sind alternierend jeweils der Perspektive einer der drei Hauptfiguren gewidmet und ermöglichen so nicht nur in die jeweilige Gedanken- und Lebenswelt der ProtagonistInnen einzutauchen, sondern auch in den historischen Kontext der jeweiligen Zeit. Durch die wechselnde Perspektive ergibt sich aus den zunächst losen Einzelgeschichten von Konrad, André und Brigitte erst nach und nach ein Gesamtbild, wie ein Puzzle, das sich zusammensetzt. Der Schreibstil ist flüssig und einfühlsam. Die historischen Hintergründe sind durchweg gut recherchiert, sodass auch die persönlichen Dilemmata vor diesen authentisch erlebt werden. Trotzdem gab es für mich ein paar Längen, in dem über 800 Seiten umfassenden Werk.

Besonders macht das Buch für mich, dass anhand der drei ProtagonistInnen in verschiedenen Epochen deutlich wird, wie politische Ideologien bis in unser Privatleben vordringen und die Macht haben dieses zu zersetzen, aber auch unser Handeln und Denken machtvoll beeinflussen. Dabei spielt letztlich die politische Coleur eine untergeordnete Rolle. Ideologie als Opium für die Massen aber auch für den oder die Einzelne. Was diese Ideologien im 20. Jahrhundert mit der Welt und auch in Deutschland gemacht haben, ist in Geschichtsbüchern gut dokumentiert. Was sie für den Einzelnen und Familien bedeuten konnten, davon gibt uns das Licht zwischen den Schatten und Michaela Beck mit ihrer wundervollen Sprache ein eindrückliches, emotionales Bild.

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Veröffentlicht am 06.11.2023

Identität, Klasse, Herkunft, Traumata und Machtlosigkeit in Nordirland

Close to Home
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Was bedeutet es im lange konflikt- und gewaltgebeutelten Nordirland als Kind der Arbeiterklasse aufzuwachsen? Michael Magee erzählt von vererbten Traumata, Gewalt, Armut, Drogenmissbrauch, Vorurteilen ...

Was bedeutet es im lange konflikt- und gewaltgebeutelten Nordirland als Kind der Arbeiterklasse aufzuwachsen? Michael Magee erzählt von vererbten Traumata, Gewalt, Armut, Drogenmissbrauch, Vorurteilen und Diskriminierung und immer wieder Machtlosigkeit angesichts einer traumatischen Vergangenheit und einem Gesellschafts- und Sozialsystem, das im Heute dem Individuum beinahe unüberwindbare Grenzen auflegt und ein Entkommen aus der Armuts- und Gewaltspirale damit fast unmöglich macht.

Michael Magee wirft uns direkt in die Geschichte, sein Schreibstil ist flüssig und unmittelbar, erzählt aus der Perspektive von Sean, Anfang 20, aufgewachsen und lebend in einem wirtschaftlich und kulturell benachteiligten Teil von Belfast, in einer republikanischen Familie der Arbeiterklasse. Sean versucht im Laufe des Buchs sich von seiner Herkunft zu emanzipieren, ein gesundes, glückliches, seiner Neigung zur Literatur und zweifelslosen Begabung wie Intelligenz entsprechendes, Leben aufzubauen - und scheitert dabei immer wieder, an seinem Umfeld, seiner Familie, dem Gesellschaftssystem, seiner Herkunft und manchmal auch an sich selbst. Die Ich-Perspektive Seans ist sehr gut gewählt, um den schwierigen Lebensweg und das Milieu nachzuempfinden. Als Leser fühlt man mit Sean, erlebt oft die Ausweglosigkeit seiner Situation, und hofft immer wieder es möge sich irgendwo ein Horizont der Hoffnung auftun, damit Sean sein Potential wirklich leben kann. Ob das gelingen wird?

 Sehr eindrücklich wird immer wieder auch der Nordirland-Konflikt und seine ständige Präsenz im kollektiven Gedächtnis von Seans Familie und Umfeld in die Geschichte eingewoben.

Der liberalen Erzählung vom Aufstieg, in der jeder und jede es schaffen kann, wenn er oder sie sich nur genug anstrengt, setzt Magee ein allzu realistisches Bild einer Gesellschaft entgegen in der selbst härteste Arbeit oft nicht honoriert wird und dem Individuum durch erlebte wie vererbte Traumata, und ein klassenzementierendes Gesellschaftssystem massive Grenzen in seiner Entfaltung gesetzt werden. Damit ist der Roman nicht nur wirklich gute Literatur, sondern auch eine Form von Sozialstudie, die Magee mit Close to Home, hier gelungen ist. Unbedingt lesenswert!

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Veröffentlicht am 03.11.2023

Im Prinzip ist alles okay, abgesehen davon, dass NICHTS okay ist

Im Prinzip ist alles okay
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Miryam, studierte Anthropologin, knapp 30 Jahre alt, Mutter eines Säuglings, seit 1,5 Jahren in einer Beziehung mit Robert, eigentlich könnte alles gut sein, eigentlich sieht von außen alles ganz okay ...

Miryam, studierte Anthropologin, knapp 30 Jahre alt, Mutter eines Säuglings, seit 1,5 Jahren in einer Beziehung mit Robert, eigentlich könnte alles gut sein, eigentlich sieht von außen alles ganz okay aus, mehr als ok, nahezu perfekt - dank Instagramfilter! Doch was kann sich hinter den perfekt anmutenden Stories und lächelnden Frauen verbergen?

Yasmin Polat legt den Finger in die Wunden unserer Gesellschaft, vor denen allzu oft die Augen verschlossen werden, als ob sie dann aufhören würden zu existieren. Wie lebt man gesunde Beziehungen, wenn man selbst als Kind nur Gewalt und Kälte vorgelebt bekommen hat? Wie wird man ein guter Elternteil, wenn man selbst nie Kind sein durfte? Wie findet man zu sich selbst, wenn man nie herausfinden durfte, wer das ist?

Sie thematisiert psychische Erkrankungen, Wochenbettdepressionen, Gewalt in Beziehungen und was sie mit Familien über Generationen machen kann, aber auch ein idealisiertes Mutterbild, das Erwartungen an junge Frauen vermittelt, an der jeder echte Mensch eigentlich nur scheitern kann, potenziert durch die gesellschaftliche Entwicklung einer extrovertierten Bewertungsgesellschaft. Dabei beweist sie ein Gespür für Details und die Tiefen und Untiefen menschlicher Beziehungen.

Der Schreibstil ist oft eher umgangssprachlich, und passt damit gut zur Ich-Perspektive der jungen Erzählerin. Immer wieder entwirft die Autorin jedoch auch sehr starke sprachliche Bilder, die die Emotionen der Protagonistin anschaulich einfangen, einen so fast mitfühlen lassen, was bei diesen Themen auch beim Lesen schmerzhaft sein kann.

Das Thema Depression hat sich durch diese Erzählweise für mich zum ersten Mal unglaublich nah angefühlt. Diese Leere und die Verwirrung und später Verzweiflung darüber, nicht wirklich benennen zu können und erst recht nicht zu verstehen, was mit der Ich-Erzählerin passiert, fand ich sehr eindringlich und nachvollziehbar dargestellt.

Der Roman, er ist ein Freischwimmen der Protagonistin, aus ihrer Vergangenheit, Prägung und gesellschaftlichen Zwängen, hin zu sich selbst, jedoch eines mit einigen schmerzhaften Tauchgängen. Wie leider auch im wahren Leben!

Im Prinzip ist alles Okay, ist ein intensiver, bewegender Roman, der einen Blick dorthin wirft wovor gesellschaftlich nur allzu gern die Augen verschlossen werden, und der damit keinen Moment zu früh kommt!

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