Profilbild von dj79

dj79

Lesejury Star
offline

dj79 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit dj79 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.04.2021

Politthriller vom Feinsten

Der Fall des Präsidenten
0

Jahrelange Ermittlungsarbeit eröffnet dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) die Möglichkeit, den Ex-Präsidenten der USA, Douglas Turner, wegen seiner Kriegsverbrechen anzuklagen. Die Verhaftung des ...

Jahrelange Ermittlungsarbeit eröffnet dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) die Möglichkeit, den Ex-Präsidenten der USA, Douglas Turner, wegen seiner Kriegsverbrechen anzuklagen. Die Verhaftung des Ex-Präsidenten erfolgt während dessen Einreise nach Griechenland für einen Vortrags-Besuch in Athen. Die Protagonistin Dana Marin soll als Mitarbeiterin des ICC die Rechtmäßigkeit der Verhaftung bezeugen.

Direkt nach Bekanntwerden der Verhaftung bricht diplomatisches Chaos aus. Der im Wahlkampf befindliche amtierende US-Präsident kann keinen Skandal gebrauchen. Drohgebärden und Säbelrasseln folgen. Das Bestreben aller Beteiligter eine Klärung zu eigenen Gunsten ohne die Öffentlichkeit herbeizuführen, wird allerdings durch ein Video im Netz, das ebendiese Verhaftung zeigt, zunichte gemacht.

Die unterschätzte Öffentlichkeit schlachtet aus, was sie hat, recherchiert Hintergrundinformationen zu den Beteiligten. Schnell sind Wahrheit und FakeNews nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Eine Verleumdungskampagne gegen Dana und den ICC pusht zusätzlich die massenhaft geteilten Falschmeldungen. Unerwartet steht Dana im Fokus, von der beobachtenden Statistin wird sie fremdbestimmt zur Hauptfigur. All das mündet in einer unübersichtlichen Gefahrensituation für die ICC-Mitarbeiterin. Den beteiligten Staaten droht ein Teufelskreis aus Sanktionen und Gegenmaßnahmen.

In diesem Rahmen entwirft Marc Elsberg einen rasanten Politthriller. Nachdem im ersten Drittel die Situation und der umfängliche Kreis der Figuren vorgestellt wurden, beginnt ein Wettlauf um Informationsvorteil und Informationshoheit. In kurzen Kapiteln wechselt der Autor zwischen den einzelnen Gruppierungen, lässt die Leserschaft vorübergehend mit einem Cliffhanger zurück, um dann wenige Kapitel später wieder anzuknüpfen. So wird der Thriller mit jedem Kapitel spannender und schließt erwartungsgerecht mit einem Showdown ab. Alles dreht sich um die Frage: Hat Dana Marin in diesem Machtspiel David gegen Goliath, also gegen den Machtapparat der USA, überhaupt eine Chance?

Besonders gefallen hat mir Elsbergs die in die Handlung eingeflochtene Auseinandersetzung mit den Sozialen Medien. Deren Geschwindigkeit ist bahnbrechend, deren Wahrheitsgehalt kaum nachprüfbar. Dadurch lassen sich Meinungen beeinflussen, Menschen oder ganze Gruppierungen in eine bestimmte Ecke drängen. Entsprechende Mittel und ein paar Experten vorausgesetzt, ließen sich mit Sozialen Medien eigentlich funktionierende Demokratien auf die Probe stellen.

Abgerundet wird das Leseerlebnis durch ein einstündiges Streaming-Event, also ein Interview mit dem Autor, geführt von Dietmar Wunder, der auch das zugehörige Hörbuch eingesprochen hat. Es werden einige Details aus dem Buch genauer betrachtet, noch einmal bewusst hervorgehoben. Auch wenn hier nicht allzu viel verraten wird, sollte das Interview erst nachdem Lektüre angesehen werden, damit möglichst wenig Spannungspotential verloren geht.

Den Thriller fand ich sensationell, das Interview nochmal vertiefend interessant. Beides möchte ich allen Spannung-Liebenden ans Herz legen. Es lohnt sich.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.04.2021

Eine Affäre in der Nachbetrachtung

Roman d’amour
0

Charlotte ist Autorin und ehemalige Geliebte von Ludo. Ihr aktuelles Buch heißt genauso wie das hier bewertete, nämlich „Roman d’amour“ und beschreibt eine in der Vergangenheit liegende Affäre. Die Protagonisten ...

Charlotte ist Autorin und ehemalige Geliebte von Ludo. Ihr aktuelles Buch heißt genauso wie das hier bewertete, nämlich „Roman d’amour“ und beschreibt eine in der Vergangenheit liegende Affäre. Die Protagonisten in Charlotte’s Roman sind Klara und Lew, machen Ähnliches durch wie sie selbst damals mit Ludo. Nun ist Charlotte auf dem Weg zu einer Lesung mit anschließender Preisverleihung. Vorher lässt sie sich nur noch kurz von der Journalistin, Frau Sittich, interviewen. Aus den Interviewszenen sowie den rückblickenden Sequenzen auf die verflossene Liebe konstruiert Sylvie Schenk einen ungewöhnlichen Liebesroman ohne schnulzigen Kitsch.

Der Clou des vorliegenden Werkes ist der Roman im Roman. Diese zusätzliche Dimension lässt die Wahrheit massiv verschwimmen. Die Namensgleichheit im Romantitel wie auch die starke Ähnlichkeit der Namen der Figuren, Charlotte und Klara sowie Ludo und Lew, lies mich immer wieder den Überblick verlieren, wer jeweils genau gemeint war. Die Figuren sind im Verlauf immer mehr miteinander verschmolzen. Obwohl mich fehlender Überblick sonst nervt, weil ich mich als Leser*in dann nicht richtig geführt fühle, mochte ich das Vage hier sehr gern. Es war auch gar nicht notwendig, alles ganz genau zu wissen. Im Vordergrund des Leseerlebnisses stand für mich die Atmosphäre und das Gefühlschaos der zurück gebliebenen Geliebten.

Neben der interessanten Konstruktion der Geschichte gefiel mir auch das Sprachniveau der französisch-deutschen Autorin. Das Überbordende der französischen Sprache, wenn es um Emotionen geht, kommt hier optimal zur Geltung, wunderschön, niemals hohl. Sätze wie, „Manchmal sind Worte wie Laternen, sie beleuchten das Gesicht des Sprechenden. (S. 26)“ sind Belege für die Verwandtschaft mit dem typischen Liebesroman, allerdings auf einer anderen Ebene.

Mir hat dieser Roman im Roman sehr gut gefallen. Die Interviewszenen hatten zeitweise ein paar Längen. Dennoch empfehle ich den „Roman d‘amour“ gern weiter.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.04.2021

Roadtrip zur Wahrheit

Die lustlosen Touristen
0

Ulia ist Musikwissenschaftlerin, schreibt ihre Doktorarbeit über Benjamin Britten und dessen Pazifismus. Gustavo ist spanischer Jurist und Professor an einer Hochschule. Das Paar ist auf Sightseeingtour ...

Ulia ist Musikwissenschaftlerin, schreibt ihre Doktorarbeit über Benjamin Britten und dessen Pazifismus. Gustavo ist spanischer Jurist und Professor an einer Hochschule. Das Paar ist auf Sightseeingtour mit Gustavo‘s neuem Auto durch Ulias Heimat, das Baskenland. Solch ein Urlaub sollte eigentlich eine Freude sein. Doch man merkt schnell, dass viel Unausgesprochenes zwischen den beiden schwelt. Ulia hat immer wieder wenig respektvolle Gedanken zu ihrem Mann. Zudem scheinen sie vollständig unterschiedliche Herangehensweisen an eine Reise zu haben. Während Gustavo minutiös plant, wäre Ulia eigentlich lieber spontan. Sie behält ihr Ansinnen für sich, fügt sich seinen Vorstellungen. Bald nach Antritt der Reise gesellt sich weiteres Konfliktpotenzial in Person der Journalistin Sarah zu den Beiden.

In dieser Grundstimmung bewegte ich mich durch diesen vielschichtigen Bericht. In meiner Wahrnehmung gab es drei Erzählebenen, die Reise an sich, die Rückblicke auf Erlebnisse von Ulias Mutter Mariluz und die Auseinandersetzung mit Benjamin Britten.
Die Ausrichtung der Sprache ist in jeder Ebene etwas anders, wodurch das Lesen ein durchaus anspruchsvolles Vergnügen wird. Die Geschichte der Mutter in der Hochphase des „ETA-Terrors“ wird aus beobachtender Perspektive erzählt, Britten’s Pazifismus dokumentarisch aufbereitet. Die Reise selbst ist als Reflexion an Gustavo gerichtet, so als ob Ulia darin alles aufschreibt, was sie nicht imstande ist, Gustavo direkt zu sagen. Diese Ansprache mit Du empfand ich etwas ungewöhnlich, weil nicht die Leser innen an sich gemeint sind, sondern eben nur Gustavo.

Lange hatte ich den Eindruck, dass Ulia mit den Konflikten ihrer Vergangenheit einseitig die Beziehung toxisch beeinträchtigt. Doch auch Gustavo hat seine Geheimnisse. Nach und nach gewährt uns die Autorin wie auch dem Paar weitere Einblicke und lässt schließlich ein Gesamteindruck entstehen. Das Ende lässt sie offen. Die Leser innen werden mit der Wahrheit konfrontiert, sozusagen eingeweiht in all die Probleme. Welche Konsequenzen Ulia und Gustavo daraus ziehen, übergibt sie den weiterdenkenden Leser innen.

Für mich war der Roman eine kluge Auseinandersetzung mit der baskischen Lebenswirklichkeit. Katixa Agirre ließ mich einen neuen Blickwinkel einnehmen im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Spanien und dem Baskenland. Es war wie das Anhören der anderen Seite, ein wichtiger Schritt, wenn man sich zu einer Kontroverse ein Urteil erlauben möchte.

Da der Roman durch seine Komplexität mit drei Ebenen in Zeit und Raum nicht mal eben weg zu lesen ist, beschränke ich meine Leseempfehlung auf Liebhaber des gehobenen Lesegenusses.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.03.2021

Bewundernswertes Pflegekind

Das achte Kind
0

Alem ist ein Junge mit drei Vätern und einer Mutter mit traditionellem Familienbild. Seine Mutter Smilja, träumte schon immer von einem besseren Leben, weswegen sie ihre Heimat Jugoslawien verlässt, um ...

Alem ist ein Junge mit drei Vätern und einer Mutter mit traditionellem Familienbild. Seine Mutter Smilja, träumte schon immer von einem besseren Leben, weswegen sie ihre Heimat Jugoslawien verlässt, um in Deutschland zu arbeiten. Dort lernt sie Emir, Alems Vater, kennen. Emir denkt gar nicht daran, einem geregelten Job nachzugehen, als Kleinkrimineller besorgt er sich das Geld, das er zum Feiern braucht. Damit sie Alem nicht mit dem unfähigen Vater allein lassen muss, gibt Smilja ihren Sohn in die Obhut einer deutschen Pflegefamilie.

Bei den Behrens, Marianne und Robert, wächst Alem gemeinsam mit den jüngeren Behrens-Kindern und weiteren Pflegekindern recht behütet auf. Die Pflegefamilie wohnt in einem schönen großen Haus mit Garten, warme Mahlzeiten gibt es mittags und abends. Jedes zweite Wochenende fährt er zur Mutter, die bald schon einen neuen Partner hat. Dort spielt sich fast das ganze Leben in einem einzigen Zimmer ab. Süßigkeiten und Fernsehen bestimmen jeweils den Aufenthalt. Jeden Sommer fährt Alem mit seiner Mutter zu den Großeltern nach Jugoslawien.

In der direkten Gegenüberstellung der unterschiedlichen Kulturen wird deutlich, wie stark verwachsen wir jeweils mit den traditionellen Ansichten unserer Vorfahren bzw. unserer eigenen Vergangenheit sind. Die Deutschen, Marianne und vor allem Robert, hängen noch immer dem Nationalsozialismus nach und verharmlosen den Holocaust. Sie sehen vordergründig das positive dieser Zeit, die eigene Jugend. Smilja emigriert zwar nach Deutschland, um sich ein besseres Leben zu erarbeiten, bleibt aber durch die Partnerwahl in ihrer jugoslawischen Blase hängen. Zudem scheint Smiljas Erziehung eine ihrerseitige Auflösung einer eingegangenen Beziehung nicht zuzulassen. Nach dem Tod Titos kommen auch unterdrückte Feindseligkeiten zwischen den jugoslawischen Volksgruppen zurück, spontan können Freundschaften nichtig werden. Alem hat diese Unzulänglichkeiten der verschiedenen Kulturen schon als Kind, später noch deutlicher als Jugendlicher spüren und wahrnehmen können. Durch seine Geschichte werden diese Denk- und Verhaltensweisen ins Bewusstsein der Leser*innen übertragen, die ihrerseits vielleicht einen Anstoß zur Reflexion ihrer eigenen Haltung erfahren.

Am Stil des Autors hat mir die Aufteilung in drei Bücher gefallen. Er lenkt den Fokus dadurch auf die jeweils im Vordergrund stehende Person. Gut war für diese Geschichte darüber hinaus, dass sie kontinuierlich im Zeitverlauf erzählt wurde. Das stilistisch Beste war für mich allerdings die gefühlvolle Sprache, die gleichzeitig frei von Schnulzigkeit war.

Da mich sowohl die Geschichte selbst als auch die Sprache fasziniert haben, empfehle ich den Roman gern weiter.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.03.2021

Vielleicht ein Impulsgeber

Kim Jiyoung, geboren 1982
0

Der Roman beginnt mit der Vorstellung einer Frau, Mutter und Schwiegertochter, die merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt. Von einem Moment auf den anderen schlüpft sie, Kim Jiyoung, wohnhaft am ...

Der Roman beginnt mit der Vorstellung einer Frau, Mutter und Schwiegertochter, die merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt. Von einem Moment auf den anderen schlüpft sie, Kim Jiyoung, wohnhaft am Rande der Metropole Seoul, im hoch technisierten Südkorea, ohne erkennbaren Grund in die Rolle von Frauenfiguren aus ihrem familiären Umfeld und ahmt diese nach. Der Jiyoung betreuende Psychologe erzählt ihre Geschichte.

Chronologisch, vom Kleinkindalter bis ins heute, berichtet er protokollartig, extrem präzise, ohne jegliche Schnörkel von Schlüsselsituationen aus Kim Jiyoungs Leben. Der reduzierte Schreibstil bewirkt eine gewisse Distanz zur Protagonistin, lenkt gleichzeitig höchste Konzentration auf die Situation.

Zugegeben, ich wurde im ersten Drittel des Romans komplett von der Unterdrückung der Frauen in Südkorea überrollt. Naiver Weise hätte ich ein derart antiquiertes Frauenbild eher einem totalitären Regime zugeschrieben. Südkorea hatte ich mir, beeinflusst durch die Technisierung des Landes, auch in dieser Hinsicht modern und die Frauen emanzipiert vorgestellt. Deshalb war gerade der Einstieg in den Roman überraschend, spannend und sehr aufregend für mich. Ein bisschen schade ist, dass nach der ersten Hälfte des Romans nicht mehr wirklich etwas Neues kommt. So entstehen Längen, die durch weitere Aneinanderreihung von alltäglicher Diskriminierung gekennzeichnet sind. Natürlich erzeugt Cho Nam-Joo durch die schiere Anzahl von Negativbeispielen eine gewisse Steigerung in der Erkenntnis der Thematik, was ich auch als wichtig empfinde, weil erst dadurch die Situation der Frauen tatsächlich transparent wird. Trotzdem schmälert diese Art der Aufbereitung das Lesevergnügen.

Schön herausgearbeitet finde ich die Doppelmoral. Menschen, die bereits die Einsicht zu den Folgen der herrschenden Selbstverständlichkeit einer unbegrenzten Selbstaufgabe von Frauen nach Heirat haben, handeln trotzdem unter wirtschaftlichem Druck entgegen der eigenen menschlichen Überzeugung. So kann der Teufelskreis nicht durchbrochen werden.

Ich spreche dem Buch eine wichtige Rolle im Sinne der Aufklärung und Bewusstmachung von Zuständen in der modernen Welt zu. Ich sehe durchaus Parallelen bei uns in Europa. Daher empfehle ich den Roman insbesondere Müttern und Vätern, vielleicht hilft die Lektüre aus vererbten Verhaltensmustern auszubrechen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere