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Veröffentlicht am 04.11.2022

Wie eine literarisch gelungene "Royals"-Sonderbeilage

Sisi
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Zum Frühstück eine Brühe aus Rindfleisch, Huhn, Reh und Rebhuhn – ohne einen einzigen Fetzen Fleisch, nur die klare Brühe! – und danach zwei Gläser Wein. Zum Diner, wenn es sich denn partout nicht vermeiden ...

Zum Frühstück eine Brühe aus Rindfleisch, Huhn, Reh und Rebhuhn – ohne einen einzigen Fetzen Fleisch, nur die klare Brühe! – und danach zwei Gläser Wein. Zum Diner, wenn es sich denn partout nicht vermeiden lässt, etwas kleine Blutiges, etwas knirschendes Grünes, nicht mehr, als auf zwei Gabeln passt. Wenn während der Coiffure auch nur ein einziges Haar zu viel ausgekämmt wird, setzt es Ohrfeigen. Für die Friseurmeisterin, verabreicht von Ihro Majestät höchstpersönlich. Ansonsten: reisen, Geld ausgeben, sich huldigen lassen und immer wieder jagen, jagen, jagen, je wilder, desto besser.

Nein, diese Sisi hat wahrlich nichts von der Zuckrigkeit eines Ernst-Marischka-Films und dem Liebreiz einer Romy Schneider. Stattdessen wird hier eine einzig um sich selbst kreisende, von ihrem Haar und ihrer Schönheit besessene Egomanin porträtiert, in deren Herz allenfalls ihre Lieblingstochter Valerie noch einen Platz findet. Oder …? Oder präsentiert Karen Duve einen rebellischen Freigeist, eine Libertine, die das lähmende Korsett des rigorosen spanischen Hofzeremoniells am Wiener Hof abwirft (wenngleich nicht jenes, das ihre Taille zu legendärer Schmalheit zusammenschnürt) und tut, was ihr beliebt? Eine Frau, die unbeirrt ihren Weg geht und sich nimmt, was sie will und was sie braucht?

Wie auch immer man diese Sisi nach der Lektüre betrachtet, es ist mit großer Sicherheit ein neuer Blick, den man auf dieses ätherisch anmutende Geschöpf von einer Monarchin gewinnt. Ich habe das Buch mit großem – und ein wenig schuldbewusstem – Genuss gelesen (auch wenn die zahlreichen und ausführlichen Jagdpassagen nach meinem Geschmack gerne hätten gekürzt werden dürfen): als läse man eine umfangreiche, ausführliche Sonderbeilage eines Boulevardmagazins –gleichwohl eine sprachlich elegante und penibel recherchierte. Ein literarisch überzeugendes und gleichzeitig unterhaltsames guilty pleasure.

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Veröffentlicht am 27.10.2022

Ein wahrer und wahrhaftiger Ausnahmeroman

Die Königin von Troisdorf
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„Oma Lena ist kleiner als die meisten Menschen, doch sie schafft es, selbst auf Menschen herabzusehen, die drei Köpfe größer sind als sie.“

Troisdorf in den 60ern. Die Oma: unangefochtene Herrin im Haus, ...

„Oma Lena ist kleiner als die meisten Menschen, doch sie schafft es, selbst auf Menschen herabzusehen, die drei Köpfe größer sind als sie.“

Troisdorf in den 60ern. Die Oma: unangefochtene Herrin im Haus, Matriarchin, die titelgebende „Königin von Troisdorf“. Die Mutter: stets überarbeitet, stets auf dem Sprung, aufgerieben im familieneigenen Fotoatelier, das ihr und der gesamten Familie einen stetig wachsenden Wohlstand beschert (was sich indes nicht zwangsläufig in komfortablen Lebensumständen niederschlägt). Der Vater: ein ewig Gestriger, der seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unter ungesunden Mengen an Alkohol und Nikotin vergräbt. Die Tante: kinder- und anspruchslos. Der Onkel: nun ja, der ist auch noch da. Und dazwischen der kleine Andreas: einziges Kind, einziger Enkel. Doch das bedeutet keineswegs, dass ihm das in irgendeiner Weise eine Vorzugsstellung in dieser wortkargen und gefühlsarmen Familie einbrächte.

Der damaligen Devise folgend, Kinder solle man sehen, aber nicht hören, betrachtet er mit großen Augen die Erwachsenen um sich herum, beobachtet ihr bisweilen irritierendes Gebaren, versucht, möglichst nichtaufzufallen. Zuwendung, Zuspruch, Zärtlichkeit sind keine Werte, die in dieser Familie – die man zweifelsohne als exemplarisch für jene Zeit betrachten darf – gelebt würden. Dazu ist jede und jeder Einzelne zu sehr damit beschäftigt, die eigene, individuelle Versehrtheit zu leugnen. Und doch erlebt Andreas immer wieder wunderbare Augenblicke in dieser gleichgültigen Welt, Momente unverhoffter Freude, Sonnenstrahlen im Alltagsgrau, die ob ihrer Seltenheit kostbar sind – und unvergesslich.

„Die Königin von Troisdorf“ ist eines meiner diesjährigen Lesehighlights. In seinem Debütroman entfaltet Andreas Fischer nicht nur eine drei Generationen umfassende Familiengeschichte, sondern zugleich ein Gesellschaftspanorama des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Erzählstil ist nicht linear und chronologisch, sondern assoziativ: Erinnerungen eines sieben-, zwölf- oder zehnjährigen Jungen verzahnen sich mit fiktionalisierten Erzählungen über die Familie sowie Abschriften erhaltener Dokumente, Briefe, Ansichtskarten und Feldpost. Dabei gelingt es dem Autor meisterhaft, die einzelnen Passagen zu einem wirkungsvollen Gesamtbild zu montieren: einfühlsam, aber nicht sentimental, melancholisch, aber nicht larmoyant, ungeschönt, aber nicht erbarmungslos. Kurzum: ein wahrer und wahrhaftiger Ausnahmeroman!

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Veröffentlicht am 07.09.2022

Verstörend und zugleich brillant

Die Odyssee
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"Alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi."

Ingrid lebt und arbeitet seit fünf Jahren auf dem Kreuzfahrtschiff „WA“. Mal verkauft sie im Souvenirshop ...

"Alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi."

Ingrid lebt und arbeitet seit fünf Jahren auf dem Kreuzfahrtschiff „WA“. Mal verkauft sie im Souvenirshop irgendwelchen Tinnef, mal hat sie die Aufsicht am Pool, mal lackiert sie den Gästen im Beautysalon die Nägel. Wenn Ingrid zwischendurch Landgang hat, endet der regelmäßig in einem kapitalen Besäufnis. Und wenn sie sich nach Geborgenheit sehnt, spielt sie mit ihren Lieblingskolleg*innen Familie. So weit, so eintönig.

Dann jedoch wird Ingrid von Keith, seines Zeichens nicht nur Kapitän des Schiffs, sondern auch eine Art selbsternannter Guru, für ein befremdliches Mentoringprogramm ausgewählt (um nicht zu sagen: ausERwählt). Seine Bedingung: Ingrid muss sich intensiv mit ihrer Vergangenheit, mit allen Ereignissen, die sie letztlich auf dieses Schiff gespült haben, auseinandersetzen. Und das ist nicht nur überaus bizarr, sondern für Ingrid auch äußerst schmerzhaft (nicht nur in seelischer Hinsicht). Je weiter das fragwürdige Programm fortschreitet, umso mehr bröckelt Ingrids eh nicht besonders stabile Fassade – und merkwürdigerweise auch die des Schiffes.

Selten hat mich ein Roman so fasziniert und zugleich verstört wie dieser, und das aus folgendem Grund:

Natürlich lässt sich „Die Odyssee“ (aus dem Englischen von Eva Bonné) als genau das lesen, was ich beschrieben habe (bzw. was auch der Klappentext in etwa wiedergibt).

Doch mich ließ während der gesamten Lektüre das Gefühl nicht los, dass es so simpel nicht ist bzw. nicht sein kann. Wird hier wirklich nur von einer einsamen, verlorenen Frau, die auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet, erzählt? Ist Keith wirklich nur ein Kapitän mit abwegigen Personalentwicklungsmaßnahmen? Und ist das Kreuzfahrtschiff wirklich nur ein Kreuzfahrschiff und die Reise nur eine Reise? Oder ist all das als Parabel zu sehen, gar als symbolische Verbrämung von – ja, von was eigentlich? (Einer Therapie? Eines Traums? Einer Vision? Eines Drogentrips?)

Für mich ein absoluter Ausnahmeroman und ein Highlight; allerdings könnte ich mir vorstellen, dass das Buch nicht jedermanns Geschmack trifft.

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Veröffentlicht am 05.09.2022

Ein bemerkenswertes Debüt

Das neunte Gemälde
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„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ...

„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ein Abenteuer ihn erwartet. Es geht um ein geheimnisvolles Gemälde, dessen Rückgabe Lomberg belgeiten soll. Doch bevor der Kunsthistoriker sich mit den Einzelheiten vertraut machen kann, liegt Dupret tot in seinem Hotelzimmer und Lomber gerät ins Visier der Ermittlerin Sina Röhm. Lomberg beginnt, auf eigene Faust die rätselhaften Umstände zu ergründen, die ihn immer weiter in die Vergangenheit führen – und immer tiefer in die Geschichte seiner eigenen Familie …

Bonn, Paris, Barcelona, Luxemburg; 1943, 1966, 2016: Das sind nur einige Handlungsorte und -zeiten dieses rasanten Kunstkrimis, der den fulminanten Auftakt einer neuen Reihe um den charismatischen Kunstkenner Lennard Lomberg bildet.

Was mir persönlich besonders gefallen hat: Wenngleich die Handlung fiktiv ist, finden sich doch zahlreiche historische Verweise, die mein Wissen nicht nur während der – überaus spannenden und kurzweiligen – Lektüre bereichert haben. Ich habe mir so viele Stellen markiert, so vieles gegoogelt, nachgeschlagen, weiterrecherchiert wie schon lange nicht mehr (zumindest nicht bei einem fiktiven Roman).

Fazit: Ein nach wie vor aktuelles und brisantes Sujet, verpackt in eine dynamische Story mit charmant-lebendigen Figuren. Große Leseempfehlung an alle, die Krimis oder Kunst mögen, riesengroße Leseempfehlung an alle, die Krimis UND Kunst mögen.

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Veröffentlicht am 07.07.2022

Beklemmend, verstörend, meisterhaft

Sie
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„Wir verkörpern eine Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“

„Wir“ – das sind alle jene, die sich nicht dem Konformismus unterwerfen, die sich ihr eigenständiges ...

„Wir verkörpern eine Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“

„Wir“ – das sind alle jene, die sich nicht dem Konformismus unterwerfen, die sich ihr eigenständiges Denken, ihre Fantasie und Kreativität, ihre Individualität und ihre Erinnerungen bewahren wollen: Künstler, Musiker, Literaten. Aber auch Liebende. Oder Alleinstehende.

„Sie“ – das ist eine namen- und gesichtslose Masse, und es werden immer mehr. Sie kommen lautlos, dringen in die Häuser aller Nonkonformisten ein, zerstören Kunstwerke, entfernen Bücher. Wer trotz dieser Warnungen an seinem künstlerischen Tun und Leben festhält, wird schmerzhaft bestraft. Malerinnen werden geblendet, Musikern wird das Gehör genommen. Wer Emotionen, Gefühle, Sensibilität zeigt, wird „geleert“, eingepfercht in fensterlose Zufluchtsheime, bis auch der letzte Funke Menschlichkeit erloschen ist. „Und wenn ihnen Schmerz und Gefühle restlos entzogen sind?“ – „Dann werden sie entlassen. Geheilt – von ihrer Identität.“

Kay Dicks „Sie“ (aus dem Englischen von Kathrin Razum) ist bereits 1977 erschienen und galt lange als verschollen. Umso erfreulicher ist es, dass der wiederentdeckte Roman nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Kay Dick schildert darin eine Dystopie, deren subtiles Grauen mit jeder Seite, mit jeder Zeile in das eigene Denken und Fühlen einsickert und bei mir geradezu körperliche Symptome ausgelöst hat: Selten habe ich während einer Lektüre ein solches Unbehagen, eine solche Beklemmung verspürt. In lose zusammenhängenden Szenen entfaltet sich eine Welt, in der letztlich alles, was den Menschen zu einem Menschen macht, ebenso gründlich wie unerbittlich ausgemerzt wird: ein Buch, das, wie Eva Menasse in ihrem ebenso lesenswerten Nachwort schreibt, „wie ein spitziger, unbehaglicher Kieselstein, der Stein im Schuh oder Kopf seiner Leser“ drückt und sticht und kneift – und das auf meisterhafte Weise.

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