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Veröffentlicht am 25.05.2020

Klug und unaufgeregt, mit einer interessanten Hauptfigur

Unter Wölfen
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Der Sticker auf dem Buch preist die Autorin Alex Beer als „preisgekrönt und hochgelobt“. Man mag es einer nicht eingestandenen Misanthropie oder der Charakterschwäche eines grundlegenden Misstrauens gegenüber ...

Der Sticker auf dem Buch preist die Autorin Alex Beer als „preisgekrönt und hochgelobt“. Man mag es einer nicht eingestandenen Misanthropie oder der Charakterschwäche eines grundlegenden Misstrauens gegenüber Lobpreisungen zuschreiben, aber solche Ankündigungen machen mich immer ein wenig skeptisch. In diesem Fall ließ ich mich aber von Herzen gern eines Besseren belehren und kann dem Lob nur beipflichten! „Unter Wölfen“ ist ein kluger, im besten Sinne unaufgeregt erzählter, gleichwohl fesselnder Krimi mit einer ausgesprochen interessanten Hauptfigur, die auf angenehme Weise bekannte Settings und Figuren konterkariert. Und darum geht’s:

Nürnberg, 1942: Isaak Rubinstein, ehemaliger Antiquar und nun, nach der „Arisierung“ seines Antiquariats Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik, erhält einen „Evakuierungsbescheid“ für sich und seine Familie, bestehend aus seinen betagten Eltern, der alleinstehenden Schwester und ihren beiden Kindern. Noch sind es nur Gerüchte, die sich um diese „Evakuierungsmaßnahmen“ ranken, doch insgeheim ahnt jede*r, dass es keine Wiederkehr gibt. In seiner Verzweiflung wendet Isaak sich an seine ehemalige Geliebte, der Kontakte zum Widerstand nachgesagt werden. Clara erklärt sich bereit, Isaak zu helfen, allerdings unter einer Bedingung: Er soll sich als der stramm nationalsozialistische Kriminalbeamte Adolf Weissmann ausgeben, der aus Berlin angefordert wurde, um den Mord an einer bekannten und beliebten Schauspielerin aufzuklären. Sie war pikanterweise die Geliebte des Leiters des sog. Judenreferats, in dessen Räumlichkeiten auch ihre Leiche aufgefunden wurde. Isaak soll die Gestapo infiltrieren und jene brisanten Dokumente beschaffen, die „die“ Konferenz am Wannsee protokollieren. Was weder Isaak noch Clara wissen, ist, dass der echte Adolf Weissmann den Anschlag, der auf ihn verübt wurde, überlebt hat …

Krimis, die während der Nazidiktatur spielen, sind kein Novum. Doch das Besondere an Alex Beers Buch ist, dass es ihr gelingt, gängige Klischees zu umgehen und allen Figuren, auch den zweifellos unsympathischen, eine Tiefe zu verleihen, die sie weniger als Typen denn als Charaktere erscheinen lassen. Isaaks moralischer Zwiespalt, seine zunehmende Angst, enttarnt zu werden, seine Versuche, trotz fehlender kriminalistischer Ausbildung den Fall zu lösen und gleichzeitig Menschenleben zu retten, werden so eindringlich skizziert, dass ich förmlich mit ihm mitgefiebert habe. Dabei lässt die Autorin keinen Zweifel an der Unmenschlichkeit und Monstrosität des Nationalsozialismus, verfällt aber nichtsdestotrotz nie ins Reißerische oder in Effekthascherei.

Große Leseempfehlung an alle, die einen klugen historischen Kriminalroman zu schätzen wissen!

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Veröffentlicht am 25.05.2020

Ein dichtes, intensives Leseerlebnis

Max, Mischa und die Tet-Offensive
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„Mensch zu sein, ist ein Vollzeitjob, Max.“

Den Inhalt dieses Romans so zusammenzufassen, dass man ihm gerecht wird, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Es ist ein bisschen Coming-out und ganz viel ...

„Mensch zu sein, ist ein Vollzeitjob, Max.“

Den Inhalt dieses Romans so zusammenzufassen, dass man ihm gerecht wird, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Es ist ein bisschen Coming-out und ganz viel Coming-of-Age, es handelt von Freundschaft und Einsamkeit, von Liebe und Trennung. Es geht um Kunst und Literatur, Theater und Film, um Selbstsuche, Selbstfindung, Selbstausdruck. Und es geht um nationale Traumata und individuelle Bewältigungsversuche, all das dicht beschrieben und geschrieben auf über 1200 Seiten.

Ich habe eine Weile gebraucht, um in das Buch hineinzufinden und mich auf die Geschichte einzulassen. Doch es hat sich mehr als gelohnt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt während einer Romanlektüre so viel nebenher recherchiert habe (was allerdings auch meinen bis dato sehr überschaubaren Kenntnissen über den Vietnam-Krieg geschuldet war).

Johan Harstad schreibt detailliert und ausführlich, ohne dass ich es je als Länge oder Redundanz empfunden hätte. Die Geschichte, die er erzählt, ist durchzogen von Melancholie, dabei doch stets von einer unterschwelligen Hoffnung getragen, denn:

„Es gibt keine Helden; es gibt nur Leute, die sich abmühen, Leute, die versuchen, ihr Bestes zu tun.“

Max, Mischa und die Tet-Offensive (aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein) ist eine intensive, lohnenswerte Lektüre und schon jetzt eines meiner Jahres-Highlights 2020.

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Veröffentlicht am 13.05.2020

Unterhaltsam wie ein Roman - und doch viel mehr als das

Dichterkinder
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Es ist eine sehr spezielle Clique, die sich in den 1920er Jahren zusammenfindet: wild und doch bourgeois, künstlerisch begabt und doch überschattet von den übergroßen Vätern, sexuell freizügig und doch ...

Es ist eine sehr spezielle Clique, die sich in den 1920er Jahren zusammenfindet: wild und doch bourgeois, künstlerisch begabt und doch überschattet von den übergroßen Vätern, sexuell freizügig und doch gefesselt durch gesellschaftliche Zwänge. Sie heißen Erika und Klaus Mann, Pamela Wedekind, Dorothea „Mopsa“ Sternheim, sie sind eng miteinander befreundet (und in unterschiedlichen Konstellationen bisweilen auch mehr als das), sie experimentieren mit der Kunst, der Liebe und mit Drogen, und allesamt sind sie, wie der Titel sagt, „Dichterkinder“. Sie ziehen zeitweise andere in ihren Bann (oder umgekehrt): Gustaf Gründgens, Gottfried Benn, Annemarie Schwarzenbach. Sie erleben ungezügelte Jahre, sind mehr als einmal Gegenstand der Klatschpresse und Verursacher von Skandalen – bis das Jahr 1933 unwiderruflich das Ende einläutet.

Ich habe „Dichterkinder“ ausgesprochen gern gelesen. Zwar war mir vieles, was die Geschwister Mann betrifft, durchaus bekannt, doch durch die im Fokus stehende Freundschaft der beiden zu Mopsa Sternheim und Pamela Wedekind bekamen selbst vertraute Tatsachen für mich eine neue, intimere Qualität. Die Leidenschaft und Begabung, die Zerrissenheit und der Freiheitsdrang, die Suche nach künstlerischer und sexueller Selbstverwirklichung, der unselige, zerstörerische Hang zu Drogen und Schwermut, die alle vier „Dichterkinder“ in sich tragen, ziehen sich als roter Faden durch diese detailreiche und fesselnde Biografie. Einen besonderen Pluspunkt stellt für mich Armin Strohmeyrs ausgeprägtes erzählerisches Talent dar: „Dichterkinder“ liest sich so flüssig wie ein Roman, ohne dabei je ins Voyeuristische oder Sensationsheischende abzugleiten. Strohmeyr erzählt überaus unterhaltsam, bisweilen ein wenig anekdotenhaft, doch gleichzeitig eindringlich und sensibel.

Wer sich bereits ausführlich mit einem oder mehreren der vier Dichterkinder beschäftigt hat (bei den meisten dürften das die Mann-Geschwister sein), wird möglicherweise nicht allzu viele neue Erkenntnisse, aber vielleicht einen neuen Blickwinkel gewinnen. Wer indes einfach gerne Biografien liest und sich vor allem für die 1920er Jahre interessiert, findet in „Dichterkinder“ einen interessanten, informativen und fesselnden Lesestoff.

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Veröffentlicht am 05.05.2020

Nicht ganz, was ich erwartete

Erlöst
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„‚Ich bin in einem Kult aufgewachsen‘, sagte ich. […] Wir trugen Kopftücher. […] Wir durften uns das Haar nicht schneiden. Fernsehen, Zeitungen, Radio, Kino, Ferien, Haustiere, Armbanduhren, das alles ...

„‚Ich bin in einem Kult aufgewachsen‘, sagte ich. […] Wir trugen Kopftücher. […] Wir durften uns das Haar nicht schneiden. Fernsehen, Zeitungen, Radio, Kino, Ferien, Haustiere, Armbanduhren, das alles war verboten.‘“ (S. 24)

Rebecca Stott hat ihre Kindheit und Jugend bei den „Plymouth Brethren“, einer fundamentalistischen christlichen Sekte, der ihre Familie seit Generationen angehört, in Brighton verbracht. Während ihre Altersgenossen die freiheitsliebenden, bunten Sechziger und Siebzigerjahre genossen, war ihr Leben geprägt von strengen Regeln und drakonischen Strafen, von wortführenden, bestimmenden Männern und kuschenden, devoten Frauen. Ihre im Titel genannte „Erlösung“ hat sie ihrem Vater zu verdanken, der der Sekte schließlich den Rücken kehrte und seinen Kindern damit einen Weg in die Normalität ermöglichte. Auf dem Sterbebett bittet er seine Tochter, ihm bei seinen Memoiren zu helfen, um die Geschichte ihrer Familie, die mit der Geschichte der Sekte auf das Engste verbunden ist, festzuhalten.

Ich muss gestehen, dass „Erlöst“ mich nicht so gefesselt hat, wie ich es erwartet hatte. Ich vermutete eine Lebensgeschichte, die Deborah Feldmans „Unorthodox“ ähnelt – doch das ist sie nicht. Rebecca Stott beschreibt ausführlich die Geschichte der Sekte von ihren Anfängen bis zu ihren heutigen Ausprägungen. Und es ist zweifellos wichtig, die Charakteristika dieser Glaubensgemeinschaft ausführlicher zu beleuchten, da sie den wenigsten Leser*innen geläufig sein dürften. Diese chronikartige Abhandlung verquickt sie mit der generationenübergreifenden Geschichte ihrer Familie, ihren eigenen Lebenserfahrungen in der Bruderschaft sowie der Entstehungsgeschichte des Buches. Damit erschafft sie ein umfassendes und zugleich persönliches Panorama – das mich indes gerade aufgrund dieser vielen Facetten, die einander thematisch abwechseln, leider nicht wie erhofft berühren konnte.

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Veröffentlicht am 05.05.2020

Fesselnd und mit einer verblüffenden Auflösung, sprachlich leider nicht ganz überzeugend

In den Fängen des Waldes
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Nein, er hat sich nicht einfach abgesetzt. Auch wenn die Tragödie, die die Familie heimgesucht hat, ein plausibles Motiv ergäbe. Nein, das hätte er nie getan, das hätte er ihr nie angetan. Und schon gar ...

Nein, er hat sich nicht einfach abgesetzt. Auch wenn die Tragödie, die die Familie heimgesucht hat, ein plausibles Motiv ergäbe. Nein, das hätte er nie getan, das hätte er ihr nie angetan. Und schon gar nicht hätte er die gemeinsame kleine Tochter mitgenommen. Ella ist fest überzeugt: Wochenendtrip, den ihr Mann vor einigen Wochen in die undurchdringlichen Wälder Eschheims in Begleitung der kleinen Tochter unternommen hat und von dem beide nicht zurückkehrten, hat ein furchtbares Ende genommen. Auch wenn der Kommissar mit dem gegelten Haar keinerlei Anhaltspunkte für ein Verbrechen findet und Ella mit schwindender Geduld zu beruhigen versucht. Ella macht sich selbst auf den Weg, um auf eigene Faust nach ihrem Mann und ihrer Tochter zu suchen – die nicht die ersten sind, die in den Wäldern spurlos verschwunden sind. Was ist mit der merkwürdigen Kommune, die weltabgeschieden im Wald haust und deren Mitglieder kaum jemand sieht? Könnten sie etwas mit dem Verschwinden ihrer Familie zu tun haben? Und was hat es überhaupt mit diesen Wäldern auf sich, in denen es zu spuken scheint? Schnell hat Ella einen Verdächtigen ausgemacht. Hat sie mit ihrer Vermutung recht? Ist ein Verbrechen geschehen? Und wie könnte sie ihre Vermutung beweisen? Ella erhält Hilfe von unerwarteter Seite – und bringt sich selbst in Gefahr …

„In den Fängen des Waldes“ ist zweifellos ein gelungener Thriller: spannend, lange Zeit undurchsichtig und ein bisschen gruselig. Die sich nach und nach enthüllende zugrundeliegende Geschichte ist überaus originell und bildet eine frische und neue Abwechslung zu den üblichen Thriller-Strickmustern.

Was mich allerdings gestört hat, ist die Sprache. Nein, ein Thriller muss nicht pulitzerpreisverdächtig geschrieben sein. Er soll in erster Linie spannend und unterhaltsam erzählen. Doch die zahlreichen – und bisweilen etwas verrutschten – Sprachbilder, Metaphern und Vergleiche riefen bei mir das eine oder andere unwillige Stirnrunzeln hervor. Da trifft eine Erkenntnis die Protagonistin „wie eine Tracht Prügel in die Magengrube“, in ihrem Kopf „wirbeln Schmerzen und Schwindelgefühle herum wie Wäsche in einer Waschmaschine“, Horrorszenarien „sausen wie Papierflieger“ durch ihren Kopf, jemand „summt ein Lied, so düster wie die schwarzen Tasten am Klavier“. Dazu kommt eine streckenweise recht eigenwillige Kommasetzung und der eine oder andere Schreibfehler. Das ist ausgesprochen schade, denn es hat meinen Lesegenuss doch ein wenig getrübt – und wäre gleichzeitig mit einem etwas sorgfältigeren Lektorat zu vermeiden gewesen. Wer sich indes, anders als ich, an solchen Feinheiten nicht stört, großzügig über sie hinwegliest oder sie nicht bemerkt, wird mit einer ausgesprochen fesselnden Geschichte und einer verblüffenden Auflösung belohnt.

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