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Veröffentlicht am 09.09.2024

Brandaktuelles Thema literarisch sehr gut ausgearbeitet

Im Land der Wölfe
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Und in was für einen Osten! Diese Balken, diese dicken blauen Balken. Jeden Tag wachsen sie drüben in Sachsen, länger als alle anderen blauen Balken der Republik.«

Inmitten dieser Spielwiese der Blauen ...

Und in was für einen Osten! Diese Balken, diese dicken blauen Balken. Jeden Tag wachsen sie drüben in Sachsen, länger als alle anderen blauen Balken der Republik.«

Inmitten dieser Spielwiese der Blauen gibt es ein kleines grünes Fleckchen Hoffnung, das es zu unterstützen gilt, denkt sich Nana und fährt Hals über Kopf aus Berlin nach Grenzlitz, um die dortige Oberbürgermeisterkandidatin der Zukunftsgrünen zu coachen. Denn Katjas Chancen, die Blauen um Paul Witte zu schlagen, stehen nicht schlecht, hier in der Kleinstadt an der polnischen Grenze. Doch man hält Nana auf Abstand und so macht sie sich auf, die Menschen dort kennenzulernen, die Dagebliebenen, die Zurückgekehrten, die Migranten und Falk Schloßer, eine aus Wittes Truppe. Ausgerechnet von ihm erfährt sie von den Sorgen der Menschen von Ort und fühlt sich auch noch zu ihm hingezogen.
In der B-Story erfahren wir von Nanas eigenen Problemen und warum sie Berlin verlassen hat. Nachdem ihr Bruder Noah ihr offeriert hat, kein Mann mehr sein zu wollen und von ihr Verständnis und Begeisterung erwartet hat, kam es zum Zerwürfnis. In vielen E-Mails zeichnet Noah die Kindheit der beiden nach, ein kaputtes Elternhaus, Nanas Weg zur Antifa. Auch hier lauern viele Missverständnisse, die Nana erst jetzt allmählich versteht.

Elsa Koester, die stellvertretende Chefredakteurin des Magazins ›Der Freitag‹, hat einen vielschichtigeren Roman geschrieben, als es der Klappentext verspricht. Es wäre blauäugig zu erwarten, dass er Lösungen für das politische Desaster im Osten liefern könnte. Aber er zeigt viele Alltagsszenen, die durchaus schlüssig die aktuelle Stimmung widerspiegeln, macht auf einige Probleme aufmerksam, die typisch für die neuen Bundesländer sind. Von der »Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht« Mentalität bis zu »Wir-lassen-uns-nicht-unterkriegen«. Und wer hört schon auf eine aus Berlin. Ausgerechnet Berlin, da wo man Politik für die anderen macht, aber nicht für Menschen wie in Grenzlitz. Menschen, die sich alleingelassen fühlen, die sich nicht nur wie am Rand von Sachsen fühlen, sondern wie am Rand der Welt. Wirtschaftlich abgehängt, verlassene Innenstädte, Verrat nicht erst zu Zeiten der Wende. Vergangenheit und Gegenwart werden hier aufgespürt und verbunden. Aber gibt dieser Roman nun eine Antwort auf die Frage, wie Faschismus im Osten Deutschlands entsteht? So zumindest die Behauptung im Klappentext. Meines Erachtens nein. Dazu ist das Problem viel zu vielschichtig. Was ich aber durchaus gespürt habe, sind die stetigen Bedrohungen, die Machtdemonstrationen, die Einschüchterungsversuche.
Gerade mit Schloßer ist Koester eine interessante, streitbare Figur gelungen, der treusorgende Familienvater, der sein eigens Päckchen zu tragen hat, und sich um die Gemeinschaft kümmert. Wenn es aber darum geht, Angst und Hass zu verbreiten, ist er in vorderster Reihe dabei. Nun gut, wir kennen die verdrehte Argumentation.
Auch Noahs Geschichte, die die Kindheit der Geschwister beleuchtet, hat mich durchaus gefesselt. Allerdings drängt sie sich in der zweiten Hälfte des Buches immer mehr in den Vordergrund, so dass die heiße Phase des Wahlkampfes in den Hintergrund rückte. Zwar verbindet sich alles, weil letztlich auch alles zusammenhängt, aber der Fokus geht von der laut Klappentext zu erwartenden Geschichte verloren.
Ein heißes, brandaktuelles Thema, dem sich die Autorin hier gewidmet hat. Ich habe in vielen Szenen die momentane Stimmung gespürt, die auch mir tagtäglich entgegenschlägt. Auch sprachlich hat mich Koester absolut begeistert.

Wie schon gesagt, Lösungen zu erwarten, wäre zu vermessen, aber es gibt Möglichkeiten und Wege, die Koester auch anspricht. Nicht zuletzt geht es darum, miteinander zu reden, zuzuhören, die Menschen mit ihren Sorgen und ihrer Vergangenheit zu verstehen, das Richtige für sie zu tun. Unsere persönlichen Probleme werden sich immer in den Vordergrund drängen, genau wie im Buch, allzu gern möchten wir davonlaufen, die Augen davor verschließen, »die anderen« die anderen sein lassen, doch genau das hat uns dahin geführt, wo wir jetzt in diesem Land stehen. Wenn auf die Politik kein Verlass mehr ist, sind wir Menschen gefragt.
Großer Lesetipp, vor allem für die »Wessis«, um die Gräber nicht noch größer werden zu lassen.

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Veröffentlicht am 25.08.2024

Gut beobachtet

Café Royal
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Seit seinem Roman »Das Leben wartet nicht« gehört Balzano zu meinen italienischen Lieblingsautoren. Welch feine Beobachtungsgabe er hat, beweist er nun mit seinem Kurzgeschichtenband, der in seiner Heimatstadt ...

Seit seinem Roman »Das Leben wartet nicht« gehört Balzano zu meinen italienischen Lieblingsautoren. Welch feine Beobachtungsgabe er hat, beweist er nun mit seinem Kurzgeschichtenband, der in seiner Heimatstadt Mailand spielt. Sommer 2020, langsam erwacht die Stadt wieder aus dem letzten Lockdown und wenn Italiener sich begegnen, dann in einer Bar. Hier im Café Royal in der Via Marghera, sucht man sich, trifft sich oder verpasst sich. Doch alles ist noch sehr verhalten, die Pandemie hat die Menschen verändert, die Einsamkeit hängt ihnen noch nach.

In 18 kurzen Geschichten, die sich in einem feinen Faden rund um das Café spinnen, das nur die zentrale Kulisse bildet, lernen wir einige Menschen kennen – mit ihren Sehnsüchten, ihren Geheimnissen, ihren Problemen. Da ist Gabriele, der sich in seinen Nachbarn gegenüber verliebt und heimlich beobachtet (was tut man nicht alles, wenn man das Haus nicht verlassen darf); Noemi, der ihre Mutter unendlich peinlich ist mit ihrem Facebook-Auftritt und sich schwört, nie so zu werden wie sie (wie herrlich doch Teenies mit den Augen rollen können); oder Betti, deren erwachsene Kinder sie kaum besuchen, ihr dafür eine Videokamera installieren, um im Notfall vorbeizukommen.
Kurz bleiben alle Geschichten in der Luft hängen, lassen Raum für eigene Gedanken. War es in der Pandemie nicht genauso? Plötzlich hielt die Welt für einen Augenblick an, wir haben unser Leben überdacht. War das noch der Mensch, mit dem wir leben wollten? Warum habe ich damals der Frau nicht gesagt, wie toll ich sie finde? Was, wenn ich jetzt einfach rüber gehe zu dem Nachbarn, und ihm sage, dass ich mich in ihn verliebt habe? Doch dann nimmt Balzano die meisten Geschichten wieder auf, zeigt sie aus der Sicht des anderen. Denkt er oder sie genauso?

Wir sind stille Zuschauer, die ein paar Momente im Leben anderer beobachten, die uns bekannt vorkommen oder befremdlich wirken. Momente, die das Leben verändern könnten. Oder bleibt letztlich alles beim Alten?
Ich schätze es sehr, dass Balzano die Pandemie nicht direkt erwähnen muss, aber wir spüren die Auswirkungen der Isolation in fast jeder Geschichte, mal mehr mal weniger. Bei Lesen fühlte ich mich an eigene Momente erinnert, jedoch nie unangenehm.

Wie immer bei Kurzgeschichten haben mich manche Geschichten mehr berührt als andere, das ist völlig okay. Manchmal musste ich schmunzeln, manchmal hab ich mit dem Kopf geschüttelt. Tja, so sind sie, die Leben der anderen, nicht alles müssen wir verstehen oder gutheißen. Manchmal nutzt man die Chancen, die das Leben bietet, manchmal lässt man den Moment verstreichen, hin und wieder funkt das Schicksal dazwischen. Momente des Haderns, des Zweifelns, der Tatenlosigkeit, menschliche Schwächen eben.
Ein kleines, feines Buch, wunderbar erzählt, das noch eine Weile nachhallt, wenn man sich drauf einlässt. Als Einstieg würde ich auf jeden Fall Balzanos Romane empfehlen, da er dort sein ganzes Können zeigt. Nicht umsonst zählt er zu den beliebtesten Autoren in Italien.

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Veröffentlicht am 23.08.2024

Die Macht der Worte

Bei Licht ist alles zerbrechlich
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»Mein erstes Lesebuch war ein Zettel, auf dem die Prinzipien der Rassengesetze abgedruckt waren, deren Bedeutung mir ein jüdischer Lehrer erklärte … Während ich sie las, wurde mir klar, dass es keine guten ...

»Mein erstes Lesebuch war ein Zettel, auf dem die Prinzipien der Rassengesetze abgedruckt waren, deren Bedeutung mir ein jüdischer Lehrer erklärte … Während ich sie las, wurde mir klar, dass es keine guten und schlechten Wörter gab. Alles hing von den Taten ab.« S.127

Das Leben in Tora e Piccilli scheint für alle vorbestimmt, so auch für Davide, Sohn eines Schweinehirten und Faschisten. Davide wäre gern wie die anderen Kinder, doch er wird von ihnen ausgeschlossen und verspottet, weil er den Gestank der Schweine nicht loswird und einen Gehfehler hat. Teresa, die Tochter eines Seilers, ist die Einzige, die zu ihm hält, ihn verteidigt und ihm das geben kann, wonach er sich am meisten sehnt – schreiben zu lernen. Sie ist ein willenstarkes Mädchen, sie weiß, dass sie die Enge des Dorfes eines Tages verlassen wird. Je mehr Zeit Davide mit ihr verbringt, umso deutlicher spürt er die Magie der Worte, die er lernt, die er heimlich in gestohlene Hefte schreibt. Schreiben wird für ihn zum Akt der Rebellion gegen seinen despotischen Vater, denn er fühlt, dass in den Worten eine andere Zukunft für ihn liegt.
Im Sommer 1942 wird sich das Leben im Dorf verändern, als 36 Juden aus Neapel auf Anordnung des Duce zur Zwangsarbeit umgesiedelt werden. Davide ist von dem gleichaltrigen Nicolas sofort angetan und weiß, dass er einmal werden will wie er. Davide sieht in ihm, was er nicht ist: Nicolas ist gebildet, sauber, gutaussehend. Nicolas’ Vater wird ihn heimlich unterrichten. Die drei verbringen den Sommer zusammen, der sie alle verändern wird. Bis die Ereignisse sie zwingen, sich zu trennen und erwachsen zu werden. Doch die verwirrende Freundschaft wird Davide immer begleiten und ihn Jahre später motivieren, sich auf die Suche nach den beiden zu machen.

Das Buch strotz vor Lebendigkeit und Authentizität, vor meinem inneren Auge entstehen Bilder von der unendlich Feldern und Wäldern, ich rieche den Schweinegestank an Davides Kleidung, fühle aber auch der Engstirnigkeit und Hörigkeit der Dorfbewohner, die Solla so treffend in knappen Sätzen zu skizzieren weiß.

»…(die) sonntags schwatzend auf dem Kirchplatz am Podestà standen, um allen zu zeigen, an was sie glaubten: an die Kirche und an den Faschismus, einen Gott im Himmel und einen auf Erden.« S.29

Es ist berührend, wenn Davide dem Klang der neuen Worte nachspürt, die ihm neue Horizonte eröffnen, ihm erlauben zu träumen, ein anderer zu werden, ein Mensch mit eigenem Willen. Wenn er über die Nachahmung hinauskommt, wenn aus unbeholfenen Kringeln und Kreisen Worte in seinen Heften, in seinem Kopf entstehen, die Ordnung und Verständnis in seine Welt bringen.

»Schweine. Ich versuchte es. Ich schob das Sch zwischen den Zähnen hervor und schürzte die Unterlippe, um das w auszusprechen. Es klang wie ein neues Wort. Das war nicht mehr das Viehzeug, das ich kannte. Ich sah die Tiere in einem neuen Licht, den Unterschied zwischen ihnen und uns.« S.61

Solla ist ein sehr einfühlsamer, tiefgründiger Entwicklungsroman gelungen, der mich direkt ins Herz des Protagonisten geführt hat. Er schreibt sehr eindrucksvoll von der Kraft der Worte, die die Macht haben, sich zu finden, über sich selbst hinauszuwachsen, den gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen ohne die Verbindung zu seiner Herkunft zu verlieren. Eine berührende Geschichte über Freundschaft, über die Verwirrung der Liebe, über Mut und Rebellion. Sollas Sprache ist klar, jeder Satz hat seine Bedeutung für den Fortgang der Geschichte. Vielleicht ist auch deshalb der Mittelteil des Buches deutlich geraffter, denn alles führt auf das Ende hin, bei dem sich Kreise schließen werden und das mich zutiefst berührt hat.

Ein großartiges Stück italienische Literatur, dessen Worte man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte, wie es Davide getan hat.

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Veröffentlicht am 21.08.2024

Düstere, fesselnde Atmosphäre

Vom Krähenjungen
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Es war einmal …

… ein See, der nie zufriert, in dem nichts lebt, in dem nie jemand schwimmt. Dort draußen in dem toten Wald, in dem ein toter Wolf vor einer einsamen Hütte wacht.

»Geh nicht hin, sagen ...

Es war einmal …

… ein See, der nie zufriert, in dem nichts lebt, in dem nie jemand schwimmt. Dort draußen in dem toten Wald, in dem ein toter Wolf vor einer einsamen Hütte wacht.

»Geh nicht hin, sagen sie, aber hier bist du und wirst wiederkommen, du weißt es. Der See hat seine Fäden um dich gesponnen, du bist ihm ins Netz gegangen.« S.14

Doch Karoline wird magisch davon angezogen und von Sam, der zurückgekehrt ist. Sam, der Krähenjunge, der gar kein Junge ist und nie einer war, den eine seltsame Stille umgibt. Von dem alle in der Bäckerei reden und doch schweigen. Der Enkel von der Anna, die vor vielen Jahren von einem reichen Münchner im Cabrio mitgenommen wurde. Märchen, denkt sich Karolina, sie erzählen nichts als Märchen. Doch dann spürt sie Sams unheimliche Aura, der sie sich nicht entziehen kann.

Auch wir Leser*innen können uns nicht dem unheimlichen, schaurigen Sog entziehen, der entsteht, wenn die Autorin viele Stimmen zu Wort kommen lässt. Menschen, die Sam kannten oder auch nur die Gerüchte über ihn, dem scheinbar alles gelingt, der auftaucht und verschwindet, der die Gabe hat, Menschen anzuziehen.

»Und dann hat er mich angesehen, mit diesem ganz speziellen Sam-Blick, bei dem du automatisch die Arme hochreißen willst zur Abwehr. Aber es hilft ja nichts, du kommst nicht von ihm los, nicht weiter als die Motten vom Licht. Nur das Sam kein Licht gibt, nicht die kleinste Spur davon.« S.127

Menschen sterben und die Leute wissen, dass Sam der Schuldige ist, allein, weil er in ihrer Nähe war. Oder wollen sie es nur wissen? Sie legen die Fährte, der die Polizei folgen soll, nur damit alles wieder so wird, wie es war, bevor das Gewitter den See erschaffen hat, von dem es heißt, gefrorene Blitze lägen noch immer auf dessen Grund.

Es ist ein atmosphärisches Debüt, dass hier die Autorin auf unkonventionelle, poetische Weise erzählt. In vielen Perspektiven versucht sie Sams Geschichte und seinem Wesen auf den Grund zu gehen. Spinnt viele Fäden, die sich verknüpfen oder auch nicht, hebt die Chronologie der Ereignisse auf und lüftet doch nie den Nebelschleier ganz. Etwas Mystisches, Dunkles schwebt beim Lesen ständig über einem, greift nach einem und irgendwann lässt man sich einfach treiben.
Alte Familiengeschichten, wabernde Gerüchte, Tod, Verlust und Leid – um all das dreht sich die Geschichte und lässt sich doch nicht greifen. Ebenso wenig lässt es sich in irgendein Genre einordnen – muss es auch gar nicht. Ob nun Schauergeschichte, modernes Märchen oder Krimi, man muss sich nur drauf einlassen.

Wer die Atmosphäre von Tannöd mochte, oder Geschichten, die die Grenzen zur Wirklichkeit aufheben, mit der Wahrnehmung spielen, findet im Krähenjungen eine sehr lesenswerte Geschichte. Mich hat sie absolut gefesselt.

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Veröffentlicht am 21.08.2024

Kann leider mit Teil 1 nicht mithalten

Haus des Vergessens
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Der Kinderflüsterer Pietro Gerber wird zu einem neuen Fall hinzugezogen. Wie schon in »Haus der Stimmen« soll der Psychologe mittels Hypnose ein Kind, das Schreckliches erlebt hat, zum Sprechen bringen. ...

Der Kinderflüsterer Pietro Gerber wird zu einem neuen Fall hinzugezogen. Wie schon in »Haus der Stimmen« soll der Psychologe mittels Hypnose ein Kind, das Schreckliches erlebt hat, zum Sprechen bringen. Mitte in einem Wald des Valle dell’ Inferno wird der 12-jährige Nico gefunden, der vor einigen Monaten mit seiner Mutter verschwunden ist. Von ihr jedoch fehlt jede Spur. Nico ist verstört, zeigt aber keine Anzeichen von Verwahrlosung. Allerdings spricht er kein Wort. Was hat ihm so zugesetzt, das er nicht reden kann oder will? Gerber gelingt es, Nico in Trance zu versetzen, und das Geständnis des Jungen ist schockierend. Doch Gerber glaubt nicht, dass es der Wahrheit entspricht. Jemand hat Nico in einen hypnotischen Zustand versetzt und will nun seine eigene schreckliche Geschichte loswerden. Gerber geht auf die Bedingungen des »Geschichtenerzählers«, wie er ihn nennt, ein und muss schnell feststellen, dass auch er und sein Umfeld manipuliert werden. Doch er hat die Tür des vergessenen Zimmers längst aufgestoßen und ihm bleibt nicht viel Zeit, Nico zu retten.

Wie immer überzeugt Carrisi zu Beginn mit einem spannenden, vielversprechenden Plot. Es ist bereits der 2. Fall, in dem wir mit dem Gerber in die traumatisierte Psyche eines Kindes eintauchen. Inzwischen haben wir eine Ahnung davon, wie seine Arbeit funktioniert. Carrisi hat sich dafür tief in die Materie der Hypnose eingearbeitet und er ist ein Meister darin, mit unserer Wahrnehmung zu spielen, was mitunter einigen Schauer beim Lesen aufkommen lässt. Hier im 2. Teil gibt es etliche Anspielung zum Vorgänger, den man zwar nicht unbedingt gelesen haben muss, aber es ist durchaus von Vorteil, denn der Cliffhanger zu Teil 3 hat es in sich.

Carrisi ist einer der letzten Thillerautoren, der mich in den letzten 2 Jahren noch völlig überzeugt hat. Er liefert außergewöhnliche Plots, spielt mit unseren Ängsten, weil er Unmögliches wahr erscheinen lässt. Wenn ich es in einem Gefühl beschreiben soll, was ich beim Lesen seiner Bücher erlebe, dann ist das eine schleichende Dunkelheit, die nach mir greift. Er lässt uns am Abgrund balancieren und dann zieht er uns hinab. Zumindest ging es mir bei allen seinen vorigen Büchern so.
Carrisi setzt auch hier auf die psychologische Komponente, lässt uns nicht vom Haken, bis wir selbst nicht mehr wissen, was wir glauben sollen, was wahr ist oder Einbildung. Allerdings hat er sich so tief in das Thema Hypnose und Gedankenmanipulation eingearbeitet, dass es gerade im Mittelteil vieler Erklärungen bedarf, die zu einigen Längen führen. (Meinerseits auch zu Verwirrung, da ich nicht wirklich alles nachvollziehen konnte.) Andere Schritte des Kinderflüsterers erscheinen mir wie zufällig und konstruiert, es fehlt an glaubhaften Herleitungen. Im letzten Drittel gewinnt die Geschichte aber wieder an Stärke, was mich zumindest etwas versöhnt hat.

Etwas, das ich auch noch anmerken muss, ist die Tatsache, dass es für Carrisis Bücher keinen festen Übersetzer (oder Übersetzerin) gibt. Das führt in meinen Augen dazu, dass ihm eine eigene, deutsche Stimme fehlt. Und leider hat es in dieser Übersetzung streckenweise sehr geholpert, was mir das Lesen zusätzlich verleidet hat. Ein Blick in seine älteren Bücher hat gezeigt, dass die wesentlich flüssiger geschrieben sind.
Fazit: Sollte euch die Theorie der Gedankenmanipulation interessieren und nicht verwirren, dann ist er sicher interessant, mir war das leider an vielen Stellen zu abstrus.

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