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Veröffentlicht am 16.07.2024

Die Schattenseite Kaliforniens Lew Archer 5

Wer findet das Opfer
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Vor ungefähr 10 Jahren bin ich auf einem Bücherflohmarkt über die schönen alten schwarz-gelben Diogenesausgaben von Ross Macdonald gestolpert und hab sie alle verschlungen. Vor allem seine Lew-Archer-Krimis. ...

Vor ungefähr 10 Jahren bin ich auf einem Bücherflohmarkt über die schönen alten schwarz-gelben Diogenesausgaben von Ross Macdonald gestolpert und hab sie alle verschlungen. Vor allem seine Lew-Archer-Krimis. Nun wurden einige bei Diogenes neu übersetzt und wie ich feststellte, hat mir Band fünf tatsächlich gefehlt. Wer Macdonald liest, sollte wissen, dass der Originaltitel »Find a Victim«, (1954) bereits unter »Opfer gesucht« und »Anderer Leute Leichen« erschien.

»Er war der gruseligste Tramper, den ich je mitgenommen habe.«

Eigentlich ist Archer unterwegs nach Sacramento, als er im staubigen Nirgendwo der kalifornischen Wüste einen angeschossenen, blutüberströmten Mann am Straßenrand findet und mitnimmt. Nach ewigen Kilometern stößt er auf ein Motel und dessen feindseligen Besitzer Kerrigan, dem das Opfer kein Unbekannter zu sein scheint. Tony Aquista verstirbt kurz darauf im Krankenhaus und verzögert Archers Weiterreise.
Las Cruces ist ein Ort, wo jeder mit jedem verbandelt ist und eine Menge zu verbergen hat. Archer findet heraus, dass Aquista einen Lastwagen voller Hochprozentigem gefahren hat, doch der Truck ist verschwunden. Seine Suche führt ihn unter anderem zu einem alten Bankraub, ner Menge Korruption, und natürlich zu einer weiteren Leiche.
Es geht hart zu in den 50ern, Frauen werden geschlagen und vergewaltigt und auch Archer muss sich (ausführlich in einer fast filmisch dargestellten 2 Seiten langen Szene) ordentlich prügeln. Doch er folgt seinem Instinkt und lässt sich von niemanden mundtot machen.

Hier fliegen ordentlich die Fäuste und auch ein paar Kugeln. Dass es so gewalttätig zugeht, war mir gar nicht mehr in Erinnerung. Die Männer sind wenig sympathisch, die Frauen schwach und in ihrer Rolle als Gattin gefangen. Im Gegensatz zu manch anderen Büchern aus der Reihe fehlen mir hier die starken und toughen Frauenfiguren, für die Archer nicht nur eine Schwäche hat, sondern für die er auch immer Partei ergreift.

Doch genau das ist es, was Macdonalds Kimis widerspiegeln, die Korruption des gar nicht so sonnigen Kaliforniens, in dem die Männer ihre Überlegenheit oft mit roher Gewalt demonstrieren, dysfunktionale Familien, deren Konflikten Archer auf den Grund geht.
Ich denke, es ist nicht Macdonalds bester Krimi, aber durchaus lesenswert, wenn man die alten Detektivromane mag. Mit Archer hat er eine Figur geschaffen, die Chandlers Philip Marlowe nachempfunden und doch anders ist. Auch wenn wir privat so gut wie nichts über ihn erfahren, beweist er, dass er einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit hat und sich dafür einsetzt, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Auch wenn das heißt, ordentlich was einzustecken. Was wiederum typisch für das damalige Krimigenre war. Zum Glück entwickelt sich Archer in den Folgebänden weiter.

Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Macdonald werden von den Kritikern gern als „Heiligen Dreifaltigkeit“ des Hardboiled-Krimis bezeichnet. Wer also die beiden anderen mag, sollte sich die Lew Archer Reihe nicht entgehen lassen. Ich für meinen Teil bin nun komplett durch Macdonalds Werk durch.
Unterm Strich war es wieder ein rasantes Leseerlebnis, das mich gut unterhalten hat.

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Veröffentlicht am 25.06.2024

Nachdenkliches Gedankenexperiment

Das Spiel des Tauchers
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Ich lese äußerst selten Dystopien, weil allen gemeinsam ist, dass die Antwort auf die Frage »Was wäre wenn …?« mich jedes Mal auf Neue erschaudern lässt. Jesse Ball beleuchtet in seinem Buch eine fiktive ...

Ich lese äußerst selten Dystopien, weil allen gemeinsam ist, dass die Antwort auf die Frage »Was wäre wenn …?« mich jedes Mal auf Neue erschaudern lässt. Jesse Ball beleuchtet in seinem Buch eine fiktive Zukunft, die nach unermesslichen Flüchtlingsströmen eine neue Form des Zusammenlebens angenommen hat.

Es gibt nur noch zwei Gruppen von Menschen – Pats und Quads. Pats sind die eigentlichen Staatsbürger, die befugt sind Gasmasken und Gaskartuschen zu tragen. Die das Recht haben, Quads – wann und wo immer sie ihnen begegnen – zu töten, ohne Konsequenzen. Als Gefängnisse nicht mehr ausreichten, schuf man bewachte Quadranten, in denen die Quads – die Geflüchteten – frei leben dürfen. Allerdings sind das rechtsfreie Räume – für jeden, der sich dort aufhält. Quads werden nach ihrer Ankunft markiert, ihnen wird eine rote Mütze auf die Wange tätowiert und der rechte Daumen abgeschlagen. Irgendwie muss man sie ja auseinanderhalten. Wie diese Welt funktioniert, erfahren wir von einem Lehrer, zu dessen Schülerinnen auch Lethe und Lois gehören. Mit ihnen wird er später noch einen Zoo besuchen. Allerdings gibt es dort nur noch einen altersschwachen Hasen, denn in der zukünftigen Welt sind bis auf Insekten alle Tiere ausgestorben.

Das Buch gliedert sich in 3 Abschnitte, die eigentlich 4 Kurzgeschichten sind, an losen Fäden miteinander verbunden. Während sich die erste Geschichte »Ogias-Tag« wirklich verstörend liest, bricht sie vor dem eigentlichen Ereignis ab, dem Tag, an dem alle Schulden verfallen, aber auch Verbindlichkeiten wie ein Arbeitsverhältnis oder eine Ehe. Jesse lässt auch die beiden folgenden Geschichten in der Luft hängen. Was mich zunächst unbefriedigt zurückgelassen hat, entwickelte sich in den folgenden Tagen zu interessanten Gedankenspielen.

Balls Idee fußt auf den Auswüchsen der aktuellen Flüchtlingspolitik der USA, dem Abhandenkommen von Empathie und Moral; auf Ausgrenzung und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft.
Der Verfall der Moral gipfelt im Buch in einer neuen Definition von Gewalt, die genau betrachtet nun keine Gewalt mehr ist. Wie sehr sich die indoktrinierten Moralvorstellungen und Gleichgültigkeit bereits in den Kindern etabliert haben, zeigt Ball in drei der Geschichten. Lethe (ein Synonym der griechischen Mythologie für den Fluss des Vergessens der Vergangenheit?) ist schon fast gelangweilt von dem Vortrag ihres Lehrers und interessiert sich nicht für die ausgestorbenen Tiere. Oder das Spektakel einer Kinder-Infantin, die über Schuld und Unschuld entscheiden darf. Es symbolisiert quasi die Rechtlosigkeit der Quads, die als wiederkehrendes kulturelles Ereignis öffentlich ad absurdem zur Schau gestellt wird.
Oder auch in der titelgebenden Geschichte, die einem Initiationsritual gleicht und durch die Gleichgültigkeit der Kinder mit dem Tod eines Jungen endet.
Ball inszeniert hier an drei Charakteren die Entmenschlichung durch die fehlende Moral. Das ist nicht nur brutal, sondern auch wirklich traurig und schmerzhaft zugleich.
Erst die letzte Geschichte, der Brief einer Frau, die einen Quad getötet hat, beginnt die vorherrschende Gesinnung infrage zu stellen.

»Ein solcher Mann ist nicht wegen etwas gestorben, das er tat, sondern weil er war, wer er ist.« S.233

»Entweder ist es falsch, dass es sich nur um Gewalt handelt, wenn sich gleich gegen gleich wendet, oder es ist falsch anzunehmen, dass sie uns nicht gleichen. Es ist mir egal, was es ist; ich bin davon überzeugt, das eines von beiden wahr ist.« S. 242

Ein absolut unbequemes, radikales Buch, das aber von Seite 1 an von einer enormen unterschwelligen Spannung profitiert, dass man förmlich mitgerissen wird. Nicht zuletzt auch von dem Kniff, dass der auktoriale Erzähler uns hin und wieder direkt anspricht und uns somit an unsere Verantwortung, unseren Egoismus, unsere Gier erinnert.
Im Literarischen vielleicht etwas experimentell, auf das man sich einlassen muss, das aber einen tiefen Nachhall hinterlässt. Trotzdem hätte mich sehr interessiert, was an diesem ominösen Ogia-Tag passiert ist.

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Veröffentlicht am 13.05.2024

Familienbande und das emotionale Erbe

Martha und die Ihren
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In diesem autofiktionalen Buch hat Hartmann (Jahrgang 1944) seiner Familiengeschichte über drei Generationen nachgespürt. Er beginnt mit Martha, seiner Großmutter, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts ...

In diesem autofiktionalen Buch hat Hartmann (Jahrgang 1944) seiner Familiengeschichte über drei Generationen nachgespürt. Er beginnt mit Martha, seiner Großmutter, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts in prekärer Armut aufwächst. Eine von der Nachbarin vor die Haustür gestellte Schüssel Haferbrei wird für die Kinder zum Festessen. Auch wenn Martha, abgezählt nach Altersjahren, nur sieben gestrichene Löffel voll davon bekommt. Nach dem frühen Tod des Vaters weiß die Mutter nicht mehr, wie sie die sechs Kinder satt bekommen soll. Und so kommt Martha, wie auch ihre Geschwister, als Verdingkind zu einer anderen Familie.

»Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.« S.17

Dort ist sie als zusätzliche Arbeitskraft willkommen, aber nicht als zusätzlicher Esser. Die Schüssel mit den Kartoffeln ist oft schon leer, wenn sie bei ihr am Ende des Tischs ankommt. Doch Martha ist tapfer, kann zupacken und ist intelligent. Sie schafft es, eine Stelle in einer Strickerei in Bern zu ergattern und damit einen Weg aus der Armut zu finden. Doch das Erlebte hat längst einen Weg tief in ihr Inneres gefunden, und sich dort festgesetzt. Und es wird nicht nur ihr Leben beeinflussen, sondern auch das ihrer Söhne.
Toni, der Älteste, kennt kein anderes Ziel, als den Makel, Sohn eines Verdingkinds zu sein, durch eigene Anstrengungen auszulöschen. Wenn er von der Mutter etwas gelernt hat, dann das hart verdiente Geld zu sparen und mit Zuneigung zu geizen.
Erst Tonis ältester Sohn Bastian, der sich nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt, geht dem Gefühlsdefizit seiner Familie auf den Grund, rebelliert und versucht die Auswirkungen seiner Familiengeschichte zu verstehen.

Basis des Romans sind Hartmanns Gespräche mit seiner Großmutter, als sie schon alt ist, sich ein Leben lang verschlossen hat und nur bruchstückhaft über ihr Leben spricht. Diese Leerstellen füllt er mit einer hochemotionalen Geschichte, die so oder so ähnlich viele Familien ereilt hat. Armut war in der Schweiz nicht nur ein Makel, sondern ein Fehlverhalten und eine Gefahr für das Gemeinwohl, weshalb die Behörden bis in die 70er Jahre den Eltern die Kinder entzogen, sie auf Bauernhöfe schickte, in Armenhäuser und Heime. Und man kann Marthas ganzen Stolz, es aus diesem Milieu herausgeschafft zu haben, nachvollziehen.

»Sie ist für mich die prägende Figur der Familie geworden«, sagt der Autor im Nachwort und als Leser*in versteht man es im Laufe der Geschichte, wie sehr dieser Makel zur Triebkraft von Marthas Kindern wurde, quasi als Trauma vererbt wurde.

Obwohl es nur wenige Schnittstellen mit meiner eigenen Familiengeschichte hat, kamen mir doch vieles bekannt vor. Eine Generation, die schweigt, die sich Emotionen versagt. Bloß keine Schwäche zeigen, keine Nähe zulassen. Die sich auf der Karriereleiter nach oben abmüht, ständig mit der Angst im Nacken, zu versagen und trotzdem das Gleiche von den Kindern einfordert. Doch die Kinder träumen von einem freieren Leben und sehnen sich nach Liebe um ihrer selbst willen.

Die Essenz des Romans ist für mich, wenn wir das Leben der Vorgeneration verstehen, können wir begreifen, warum sie sind, wie sie sind – warum wir sind, wie wir sind. Und warum wir heute noch an diesem seelischen Erbe zu knabbern haben. Dass aufeinander zugehen, miteinander reden und verzeihen wichtige Schritte sind, um sich von den transgenerationalen Traumata zu befreien.

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Veröffentlicht am 29.04.2024

Vom Scheitern guter Absichten

Die goldene Stunde
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Seid ihr schon mal aus ganzen Herzen überzeugt gewesen, das Richtige zu tun, und musstest hinterher feststellen, das es falsch war? Oder wolltet einem Menschen helfen, doch die Hilfe war nicht das, was ...

Seid ihr schon mal aus ganzen Herzen überzeugt gewesen, das Richtige zu tun, und musstest hinterher feststellen, das es falsch war? Oder wolltet einem Menschen helfen, doch die Hilfe war nicht das, was dieser Mensch in dem Moment brauchte? Diesen und ähnlichen Fragen geht Wytske Versteeg in ihrem Debütroman nach.

Mari, die eigentlich Archäologin ist, wollte es anders machen und engagierte sich für ein Projekt, das Geflüchteten helfen soll, in den Niederlanden anzukommen. In einer spießigen Kleingartenanlage namens Paradies. Einer von ihnen ist Ahmad, ein arabischer Flüchtling, mit dem sie eine kurze Beziehung hat und der just an dem Tag verschwindet, als das Gartenhaus abbrennt. Mari, zutiefst enttäuscht, verlässt ihr Zuhause und begibt sich auf die Suche nach Felsmalereien in Ahmads Heimatland. Wieder mit guten Absichten, denn sie denkt, mit ihrer Arbeit den Tourismus ankurbeln zu können. Doch das Land hat ganz andere Problem, wie schnell deutlich wird. Dort begegnet sie Tarik, der vor seiner Vergangenheit in ein kleines Dorf geflüchtet ist. Niemand in dem Dorf weiß, dass er als Aufseher in einem Lager gearbeitet hat, aus dem Menschen verschwanden, die gegen die Regierung rebelliert haben. Immer wieder werden Leichen vom Fluss angeschwemmt, die er wortlos beerdigt. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein, denn Mari bittet ihn, Ahmads Aufzeichnungen vorzulesen, die er ihr hinterlassen und in seiner Muttersprache verfasst hat. Er schrieb sich alles von der Seele, worüber er geschwiegen oder gelogen hat. Nicht nur über die Gründe seiner Flucht, die lange Odyssee durch Flüchtlingslager mit katastrophalen Verhältnissen. Er findet auch harsche Worte für ihre erdrückend guten Absichten, seine Verachtung für sie und ihre sensationslüsternen Landsleute.

»Ich bin nicht die Geschichte, die du aus mir machst und anderen gegenüber im immer selben Wortlaut wiederholst, ich bin keine Puppe, die du verbiegen, verrenken, hinsetzen kannst, wie es dir gefällt, das Rot, das du siehst, ist eine blutende Wunde.« S.147

Versteegs Buch lässt sich nicht leicht in Worte fassen, auch hatte ich so meine Startschwierigkeiten, und sicherlich lässt es sich auf verschiedene Weise lesen, denn sie wirft viele Fragen auf. Eine davon ist, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Sachbearbeiter, die ausgelaugt, müde sind, immer wieder die gleichen Fragen stellen, sich aber nicht wirklich für die Schicksale der Menschen interessieren. Flüchtlinge, die schnell lernen, dass die Wahrheit einen nicht weiterbringt, es besser ist, zu lügen und sich zu verbiegen.

»So freundlich sie hier auch alle waren: Alles schien darauf ausgelegt zu sein, mich nicht zu hören.« S.150

Versteeg schreibt von einer katastrophalen europäischen Flüchtlingspolitik, von gescheiterten guten Absichten und dennoch heißt der letzte Satz im Buch:

»Und da ist so viel Hoffnung.«

Sie widmet allen drei Figuren eine eigene Perspektive, verwebt sie miteinander. Jeder der drei ist auf der Suche nach sich selbst und gleichzeitig auf der Flucht, fühlt, was Fremdsein bedeutet. Immer wieder kreist sie um richtig und falsch, kurbelt mein Gedankenkarussell an, hält mir den Spiegel vor, stellt Fragen, gibt mir aber keine Antworten, die muss ich schon selbst finden. Am Ende liegt sehr viel darin, was nicht gesagt wird.

Sie schreibt zärtlich, fast schon leise, an anderer Stelle wird sie laut. Ihr Text ist oft schmerzhaft, wenn sich beim Lesen eine Erkenntnis einstellt, dass unser Leben oft aus vielen Missverständnissen besteht, aus Ängsten, Schweigen und falschen Erwartungen. Herausragend war für mich, wie sie sich in die einzelnen Charaktere hineinversetzen konnte. Ein großartiges Stück Literatur von brisanter Aktualität, das sehr lange nachhallt.

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Veröffentlicht am 20.04.2024

Die Tragödie der "Black Titanic"

Bevor wir sterben, tanzen wir
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Paris 1958. Wenn man die ersten Seiten liest, könnte man fast einen Krimi vermuten, denn wir erleben live, wie der Kellner Jean-Jacques Henri zwei Gäste tötet. Doch war es wirklich Mord? Der Journalist ...

Paris 1958. Wenn man die ersten Seiten liest, könnte man fast einen Krimi vermuten, denn wir erleben live, wie der Kellner Jean-Jacques Henri zwei Gäste tötet. Doch war es wirklich Mord? Der Journalist Thierry trifft bei seiner Recherche auf einen Freund Jean-Jacques’, der uns eine Geschichte erzählt, die bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Südafrika zurückreicht.
Sie bildet gleichzeitig die Rahmenhandlung um den historisch belegten Untergang der SS Mendi, einem Truppentransportschiff, auf dem sich über 800 südafrikanische Rekruten für die britische Armee befanden. Jean-Jacques ist einer der wenigen Überlebenden und nicht der, den alle in Paris zu kennen glauben. Sein eigentlicher Name ist Pitso Motaung, Sohn eines weißen Afrikaners und einer Schwarzen Mutter. Nachdem sein Vater früh aus der Familie verschwunden war und seine Mutter starb, wächst Pitso als Coloured in einer Mission auf, ist künstlerisch und sprachbegabt und seht sich danach zu reisen.
Als Pitso erwachsen wird, wird ihm mehr und mehr bewusst, dass seine Identität davon bestimmt wird, wie andere ihn sehen. Obwohl er sich zum Bataung-Stamm seiner Mutter zugehörig fühlt, muss er sowohl von Schwarzen als auch Weißen rassistische Erfahrungen durchleben, die ihn lebenslang in eine Identitätskrise stürzen. Denn wie wir eingangs lesen, gibt er sich aufgrund seiner sehr hellen Hautfarbe als Algerier aus. Als die Briten 1917 aus allen südafrikanischen Landesteilen unter fadenscheinigen Versprechungen Männer als Soldaten für den 1. Weltkrieg rekrutieren, sieht Pitso seine Chance, und besteigt die SS Mendi nach Frankreich.

Dieses Buch ist wirklich eine rasante, spannende und lehrreiche Lektüre für mich gewesen und liest sich streckenweise wie ein Krimi, der immer wieder Tempo aufnimmt.
Wie Khumalo im Nachwort schreibt, hat ihn das Unglück der SS Mendi seit seiner Kindheit beschäftigt. Ihm war es wichtig, den Menschen auf dem Schiff ein Gesicht zu geben, was ihm überzeugend gelungen ist. Es zog damals einen langen Gerichtsprozess nach sich und in der Presse war sogar die Rede von der »Black Titanic«. Und dennoch wurde es vergessen.

Neben dem fiktiven Soldaten Pitso lernen wir einige Nebendarsteller kennen, die Khumalo mit samt deren ethnischer Herkunft sehr lebendig agieren lässt. Um die Authentizität zu unterstreichen, bedient er sich oft Ausdrücken verschiedener Sprachen wie Zulu oder Sesotho, zeigt typische Lebensweisen und die rassistischen Spannungen sowohl im damaligen Südafrika als auch in Europa.

Khumalo macht einen wichtigen Aspekt des 1. Weltkriegs wieder sichtbar. Nicht nur Großbritannien hat in seinen Kolonien Menschen unter falschen Versprechen rekrutiert, nach Europa verschifft und gegen Deutschland eingesetzt. Damit wird Khumalos historischer Roman auch ein Lehrstück für die Gegenwart. Es erinnert an den Einsatz von Menschen aus den damaligen Kolonien, die einen Krieg kämpften, der nicht ihrer war, Menschen denen u.a. Land und das Wahlrecht in ihrer Heimat versprochen wurde, aber nichts davon erhielten. Es sind die Vorfahren vieler heute in Europa lebender Afrikaner, Inder und Maghrebiner. Historisch belegte Details sind fast fließend in die Geschichte eingebunden und machen die Tragödie sehr anschaulich. Von den 823 südafrikanischen Männern an Bord ertranken mehr als 600 bei dieser Kollision. Auch dass einige Männer kurz vor dem Untergang getanzt haben, ist von Zeugen ausgesagt worden.

»Mit seiner donnernden Predigerstimme rief Reverend Dyobha: „Seid ruhig und gefasst, meine Landsleute, denn nun geschieht das, wozu ihr hergekommen seid … Ihr werdet sterben … Brüder wir tanzen den Tanz des Todes.„« S.206

Ein wichtiger Roman, der sich zu lesen lohnt, den ich allen empfehle, die sich für die europäisch-afrikanische Geschichte, die Spuren der Kolonisation und die afrikanische Kultur interessieren.

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