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Veröffentlicht am 27.05.2021

Die Summe der Gemeinsamkeiten ist kleiner geworden

Der tiefe Graben
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Wie konnte es möglich sein, dass ein Mann wie Donald Trump Präsident der USA werden konnte? Der Machtwechsel im Weißen Haus lässt zwar wieder mit etwas mehr Hoffnung über den Atlantik blicken, doch schon ...

Wie konnte es möglich sein, dass ein Mann wie Donald Trump Präsident der USA werden konnte? Der Machtwechsel im Weißen Haus lässt zwar wieder mit etwas mehr Hoffnung über den Atlantik blicken, doch schon allein die Zahl der Menschen, die Trump die Stimmen für eine Wiederwahl gaben, muss nachdenklich stimmen. In seinem Buch "Der tiefe Graben" versucht der Journalist Ezra Klein eine Erklärung und liefert dabei zugleich eine Analyse des Parteiensystems, der jeweiligen politischen Blasen und des Grabens. der nicht nur innergesellschaftlich immer tiefer wird, sondern auch zwischen den politischen Eliten oder den Bevölkerungen an den Küsten und in der Weite des Landes.

Eine interessante Erkenntnis: Die Unterschiede zwischen den Parteien sind in einer ganzen Reihe von Punkten gar nicht so groß wie die zwischen den Anhängern der Parteien. Die Bereitschaft, den anderen mit seinen Ansichten nicht nur abzulehnen, sondern einen geradezu persönlichen Groll zu spüren, habe dagegen zugenommen. Themen wie Waffenbesitz, Abtreibung, Schwulenehe und Umgang mit Rassismus führen zu Diskussionen, die so emotional geführt werden, dass Konsens immer schwieriger zu erreichen ist. Kurz: Die Summe der Gemeinsamkeiten ist kleiner geworden, die Sprachlosigkeit über die politischen Gräben hinweg größer. Die Entscheidung an der Wahlurne ist weniger eine für eine Partei, sondern gegen das, was man selbst ablehnt.

Und auch die Parteien fokussieren sich auf bestimmte Gruppen, bei denen sie von sicheren Stimmgewinnen ausgehen können. Klein zitiert Sozialwissenschaftler zur Herausbildung sogenannter Mega-Identitäten. Ob jemand religiös ist oder nicht, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, Großstadt- oder Landbewohner, Lebensstil usw prägen die Wahrscheinlichkeit, für oder gegen eine bestimmte Partei zu stimmen - was wiederum eine zunehmende Polarisierung der Gruppen untereinander bedeutet.

Auch wenn "Der tiefe Graben" manchmal stark theorielastig daher kommt, überzeugt diese Analyse. Das Buch ist sicher nicht nur interessant für alle, die sich mit den USA beschäftigen. Schließlich sind politische Filterblasen auch hierzulande zu finden, gibt es Menschen, die sich von "denen da oben" abgehängt fühlen und ihre Rettung bei denen suchen, die mit vereinfachenden Welt- und klaren Feindbildern aus ihrer Sicht für eine neue Orientierung suchen. Da kann es nur sinnvoll sein, einer weiteren Grabenbildung entgegen zu treten

Veröffentlicht am 26.05.2021

Diebesehre und Anarchie

Die Kobra von Kreuzberg
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Das ist Pulp Fiction vom Feinsten: Beverley Kaczmarek, Spross eines Ganovenclans aus Opole, will es ihrer Familie endlich mal beweisen. Sie hat genug davon, als das angeblich unfähige Nesthäkchen belächelt ...

Das ist Pulp Fiction vom Feinsten: Beverley Kaczmarek, Spross eines Ganovenclans aus Opole, will es ihrer Familie endlich mal beweisen. Sie hat genug davon, als das angeblich unfähige Nesthäkchen belächelt zu werden. Gerade können sich ihre älteren Brüder dank des Diebstahls zweier Fabergé Eier im Ruhm sonnen - da muss Beverley noch eins drauf setzen. Das ist ganz klar eine Frage des Diebesehre! Ihr Coup soll ihr endlich den verdienten Respekt der Familie verschaffen, womöglich gar einen Artikel im internationalen Fachmagazin der Branche, dem Heist Journal! Einfacher Kunstraub ist nichts für Beverley: Sie will die Quadriga vom Brandenburger Tor klauen - und auch mit den logistischen Herausforderungen fertig werden. Immerhin: wie ist so eine Beute wegzuschaffen?

In "Die Kobra von Kreuzberg" bedient sich Michel Decars eines wunderbar schrägen und trashigen Humors und rasanten Tempos. Durch das ganze Buch zieht sich ein wunderbarer Hauch von Anarchie, mit Seitenhieben auf die bürgerliche, man könnte auch sagen spießige Welt der Gesetzestreuen. Klischees werden liebevoll ausgespielt - nicht nur kommen die Kaczmareks aus Polen, es wimmelt nur so von Referenzen an Balkan und Zentralasien, selbst der Kommissar, der sich an Beverleys Spuren heftet, kommt aus Ungarn. Und mit Wetteranarchisten Dragan findet Beverley nicht nur einen Partner in crime, sondern noch viel mehr.

Zwischen Slivovitz und Wodka, illegalen Wettbüros und internationalem Kunstraub wird so ziemlich alles aufgeboten. Dass die Männer des Kaczmarek-Clans allesamt in Trainingsanzügen auftauchen - man hört beim Lesen förmlich das Rascheln von Nylonstoff, sieht lange Koteletten und hört das Rattern von Ladas - gehört da nur zum Spiel mit den Klischees. Bandwurmsätze voller bildhafter Ausschmückungen a la Raymond Chandler mögen an die Serie noir erinnern, hier aber ist alles bevorzugt neongrell mit einer Note Berliner Schmuddelecke. Beverley erinnert an eine kriminelle Pippi Langstrumpf, die Autoritäten in Frage stellt, ihr Ding durchzieht und sich nichts gefallen lässt.

Schon allein der witzigen Dialoge und Beverleys Gedankengängen wegen lohnt sich die Lektüre der "Kobra von Kreuzberg". Bis zu den kleinsten Nebenfiguren wird genüsslich alles auf die Spitze getrieben. Ziemlich klar, dass Michel Decar beim Schreiben eine Menge Spaß hatte. Mir ging es beim Lesen ebenso.

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Veröffentlicht am 26.05.2021

Väter, Söhne, Schuhe und ein China im Wandel

Im Reich der Schuhe
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Die Rolle als Kronprinz des "Kaisers der Schuhe" hat nicht nur Vorteile: Alex Cohen, Sohn eines Schuhfabrikanten in China, muss es erst noch schaffen, sich aus dem Schatten seines Übervaters hervorzuarbeiten. ...

Die Rolle als Kronprinz des "Kaisers der Schuhe" hat nicht nur Vorteile: Alex Cohen, Sohn eines Schuhfabrikanten in China, muss es erst noch schaffen, sich aus dem Schatten seines Übervaters hervorzuarbeiten. Wie sehr er als verkleinerte Fortsetzung des Macher-Menschen gesehen wird, zeigt sich schon an der Tatsache, dass sowohl die Angestellten des Hotels, in dem die Cohens wie all die anderen Expats leben, als auch die Mitarbeiter der Schuhfabrik ihn als "Mr Younger Cohen" anreden.

In Spencer Wises Roman "Im Reich der Schuhe" geht es aber nicht nur um eine Vater-Sohn-Geschichte, sondern auch um Identität und Herkunft, um eine Liebe über soziale und kulturelle Schranken hinweg, um ein China, dessen wirtschaftlicher Erfolg von Wanderarbeiten bezahlt wird, die der Perspektivlosigkeit des Dorfes entkommen wollen, in den Städten aber nicht ankommen dürfen.

Als Cohen Senior Alex zum Teilhaber befördert, könnte das eine Krönung der bisherigen Laufbahn des 26-jährigen sein - oder doch die totale Vereinnahmung? Dem Schuhgeschäft kann Alex nicht entkommen, schon der Urgroßvater, damals noch im litauischen Stetls, fertigte Schuhe an. Der Familientradition lässt sich nicht entkommen. Alex zeigt Interesse an den Chinesen, muss aber erkennen, dass er für sie stets der "Gweilo" bleibt - der Geistermensch, der Fremde. Und ist damit die jüdische Diaspora-Erfahrung wieder gerade gerückt, das Gefühl, überall ein Außenseiter zu sein und nicht, wie in den USA, gewissermaßen in der weißen Masse unterzugehen?

Die Näherin Ivy ermöglicht Alex einen Blick in das China, das den Fremden verschlossen ist - die Traditionen der engen Verbindung zu den Ahnen, das Trauma des blutig niedergeschlagenen Protests auf dem Tiananmen-Platz, den sie als junge Frau erlebte, die Hoffnungen auf Wandel. Alex verliebt sich in Ivy und wird von ihr für eine Protestbewegung rekrutiert. Doch der örtliche Parteichef will ihn ebenfalls als Spitzel. Ähnelt die Erfahrung der niedergewalzten Demokratiebewegung nicht dem Leid seiner Litvak-Vorfahren, die Opfer von Pogromen wurden?

Nur sehr vordergründig erzählt "Im Reich der Schuhe" eine Liebesgeschichte. Sehr viel mehr geht es um die Konflikte, die Alex beschäftigen - das Verhältnis zum übermächtigen Vater, das Vermächtnis von Generationen Schuhe herstellender Cohens, der Wunsch, Teil einer Veränderung zu sein - sowohl wenn es um die Lebensbedingungen der Arbeiter geht als auch um unternehmerische Neuausrichtung. Für eine Coming of Age-Geschichte mag Alex schon ein wenig alt sein, aber auch hier geht es um Entscheidungen und Weichenstellungen. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse sind dabei ein Katalysator, denn reflektiert wird immer auch Alex´s eigener Hintergrund als junger, jüdischer Amerikaner.

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Veröffentlicht am 25.05.2021

Ermittlungen am Traumstrand

Tropische Gefahr
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Ermitteln, wo andere (Traum-)Urlaub machen - so könnte man die Arbeit von Josefa Horseman, Kriminalbeamter der Polizei der Fidschi-Inseln und obendrein Rugby-Held seiner Inselnation, beschreiben. Dabei ...

Ermitteln, wo andere (Traum-)Urlaub machen - so könnte man die Arbeit von Josefa Horseman, Kriminalbeamter der Polizei der Fidschi-Inseln und obendrein Rugby-Held seiner Inselnation, beschreiben. Dabei kommt er nach einem Jahr gesundheitlich bedingter Auszeit - eine Knieverletzung musste in den USA behandelt werden und erforderte lange Reha-Maßnahmen - zu Beginn von B.M. Allsopps Fidschi-Krimi "Tropische Gefahr" gerade erst wieder zurück in die Heimat.

Die weitverzweigte Verwandtschaft und insbesondere seine Mutter, die ihn eigentlich mit einem traditionellen Fest und sehr viel Leckereien begrüßen wollen, sind enttäuscht. Doch die Leiche eines Zimmermädchen, am Korallenriff vor einem Urlaubsresort gefunden, lässt ihm keine Wahl. Mit einer kleinen und unter allerhand technischen und logistischen Mängel leidenden Gruppe muss er ermitteln, und auch anfängliche Sorgen zerstreuen. Susi Singh etwa, die junge und ehrgeizige Kriminalbeamtin, fürchtet zunächst, das Sportas lasse andere arbeiten und wolle sich nur auf seinen Lorbeeren ausruhen. Als ethnische Inderin sieht sie sich nicht nur innerhalb der Polizei in einer Außenseiterrolle.

Zunächst deutet vieles darauf hin, dass das tote Zimmermädchen ertrunken ist - doch eine ausgezeichnete Schwimmerin? Erschwert werden die Ermittlungen dadurch, dass die Familie der Toten die Leiche bereits für die Beerdigung vorbereitet hat - viele Spuren sind unwiederbringlich zerstört. Die hübsche junge Frau hat offenbar gerne geflirtet und von der weiten Welt geträumt - spielte Eifersucht eine Rolle? Und warum wurde sie kurz vor ihrem Tod eine Woche krank geschrieben? Der Arzt, der das Personal des Ressorts betreut, reagiert nicht auf Anfragen der Polizei - hat er etwas zu verbergen? Oder könnte ein Konflikt zwischen Fischern und Meeresschützern eine Rolle spielen, die mit Hilfe eine örtlichen Häuptling erreichen konnten, dass am Riff nicht mehr gefischt werden darf?

Der Reiz dieses Buches liegt nicht nur in der Spannung und der exotischen Umgebung - auch wenn es natürlich eine tolle Sache ist, beim Lesen von weißem Korallensand, dem türkisblauen Wasser des Südpazifik und einer Ozeanbrise in den Kokospalmen zu träumen. Die Autorin thematisiert auch die Schattenseiten der Trauminseln - Armut und Unterentwicklung, Rückständigkeit, ein Wertesystem, das streng konservativ ist und zwischenmenschliche Beziehungen reglementiert, Rassismus. Gleichzeitig ist der Familiensinn, die Liebe zum Essen und die Freundlichkeit der Menschen sehr sympathisch. Mit eingewobenen Fidschi-Ausdrücken wird Ortskolorit geschaffen - am Ende des Buches werden die Worte noch einmal erklärt.

Insgesamt ein liebenswertes Ermittlerteam und ein wunderbares Setting. Gibt es weitere Fidschi-Fälle? Ich kann es nur hoffen.

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Veröffentlicht am 22.05.2021

Zwischen Schwarzmarkt und Wirtschaftswunder

Die im Dunkeln sieht man nicht
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wiggestrige und Vorwärtsblickende, Menschen, die die Vergangenheit verdrängen und solche, die von ihrer Last weiter geprägt sind - mit "die im Dunkeln sieht man nicht" hat Andreas Götz einen historischen ...

wiggestrige und Vorwärtsblickende, Menschen, die die Vergangenheit verdrängen und solche, die von ihrer Last weiter geprägt sind - mit "die im Dunkeln sieht man nicht" hat Andreas Götz einen historischen Kriminalroman geschrieben, der im München des Jahres 1950 spielt und damit in einer Zeit voller Schnittpunkte: Die Bundesrepublik ist noch ganz jung, die Nachkriegszeit neigt sich dem Ende entgegen und werden nicht nur vom absehbaren Wirtschaftswunder, sondern auch vom kalten Krieg abgelöst. Noch gibt es den Schwarzmarkt, doch außer den Trümmern gibt es Neubauten, Moderne, Aufbruch,

Die einen wollen alles vergessen, die anderen können es nicht - so wie Karl Wieners, der im Krieg Frau und Kinder verloren hat und aus Berlin in seine Heimatstadt München zurückkehrt. Ein alter Schulfreund will ihn für eine neue Zeitschrift rekrutieren und hat auch gleich einen Reportageauftrag: Karl soll einen Kunstdiebstahl aus den letzten Tagen recherchieren, damals verschwand aus dem Münchner Führerbunker jede Menge zuvor von den Nationalsozialisten gestohlene Raubkunst.

In München leben nicht nur Karls Mutter und jüngerer Bruder, zu denen er ein eher entfremdetes Verhältnis hat, sondern auch Nichte Magda, die Tochter seines ältesten Bruders, die ihn als Kind regelrecht angeschwärmt hat. Mittlerweile ist sie eine attraktive und selbstbewusste junge Frau, die mehr als nur das Interesse der kleinen Nichte an ihm zeigt und ihm auf eine Art gefällt, die Karl selbst erschreckt. Magda ist die vielleicht interessanteste Figur des Romans, eine Frau, die sich geradezu aggressiv nimmt, was sie will, die gelernt hat, mit Schwarzmarktgeschäften zu überleben, die so gar nicht dem Frauenbild der 50-er Jahre entspricht, knallhart sein kann und ihren Sex-Appeal überall einsetzt, wo sie darin einen Vorteil sieht.

Um gestohlene Kunst geht es auch Karls Schulfreund Ludwig, der bei der Münchner Kriminalpolizei ist und einen Mordfall untersucht. Ein Beamter aus dem Raubdezernat soll die Ermittlungen unterstützen. Da dieser Ermittler im Wirtshaus von Karls Familie lebt, könnte auch er eine Informationsquelle für die Recherchen sein, zeigt aber vor allem Interesse an Magda.

Persönliches und Dienstliches vermischen sich bei Recherchen und Ermittlungen und angesichts des Personenkarussels dieses Romans muss der Leser erst einmal sortieren - wer ist wichtig, wer ist eine Randfigur, wer dient nur dazu, den Plot voranzubringen? Das erotische Knistern ausgerechnet zwischen Onkel und Nichte ist nicht nur für Karl eher verstörend. Die Atmosphäre der Zeit ist allemal interessant und der Wendepunkt zwischen reinem Überleben und Aufbruch in eine bessere Zeit gut gezeichnet, etwa in der Figur des Großschiebers Blohm, der von der Schwarzmarkgröße zum Wirtschaftskapitän umsatteln will.

Spätestens seit dem Fall Gurlitt dürfte das Thema Raubkunst auch bei historisch weniger beschlagenen Lesern angekommen sein. Die Gier nach dem schnellen Geld, vergangenes Unrecht, aber auch Verdrängung und Rache spielen in "Die im Dunkeln sieht man nicht" eine Rolle. Spannendes Setting - und da im Nachwort eine Fortsetzung in Aussicht gestellt wird, kann man gespannt sein, wie die weitere Entwicklung aussieht.

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