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Veröffentlicht am 12.10.2020

Das große Schweigen

Ada
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Sie ist zwar in Deutschland geboren, doch viele Erinnerungen hat Ada nicht, als sie mit ihrer Mutter aus Argentinien nach Berlin zurückkehrt. Der ihr als ihr Vater vorgestellte Mann ist für sie ein Fremder, ...

Sie ist zwar in Deutschland geboren, doch viele Erinnerungen hat Ada nicht, als sie mit ihrer Mutter aus Argentinien nach Berlin zurückkehrt. Der ihr als ihr Vater vorgestellte Mann ist für sie ein Fremder, fremd ist auch die Sprache, die Mentalität, der ganze Alltag. Auf diese Nachkriegskindheit blickt die Titelfigur von Christian Berkels Roman "Ada" als erwachsene Frau zurück, die Mauer ist gerade gefallen, doch sie selbst steckt gerade in einer Sinn- und Lebenskrise, erzählt einem Psychiater aus ihrem Leben.

Als kleines Kind wollte Ada lange nicht sprechen, in Deutschland ist sie von Schweigen umgeben, wie viele ihrer Generation, die lange nicht einmal wissen, welche Fragen sie eigentlich stellen sollen. Es ist das Leben, die Generation "nach der Sintflut". Die jüngste Vergangenheit ist tabu, als Ada zum ersten Mal von einer Mitschülerin den Namen Hitler hört, kann sie sich nichts darunter vorstellen. Dabei geht es in ihrer Familie nicht einmal um verdrängte Schuld, die man am liebsten vergessen will: Adas Mutter Sala ist Jüdin, auch wenn sie nichts von ihrem Glauben und ihrer Identität an Ada und deren Bruder weitervermittelt. Die unbekannte Großmutter kämpfte als Anarchistin gegen Franco, saß in der Todeszelle, der bisexuelle geliebte Großvater Jean war wegen Homosexualität im Konzentrationslager.

Ada erfährt vieles davon erst spät - von einer Tante in Paris, die sie mit zu ihrer ersten Bar Mizwah nimmt, von der Freundin ihrer Mutter, die bei allen Familienkrisen tatkräftig hilft. Nicht nur bei den Täterfamilien wird geschwiegen. Diese Zeit der Verdrängens und Schweigens, der Prüderie und der vielen Tabus zeichnet Berkel in einer oft bedrückenden Atmosphäre. Hinzu kommt bei Ada, aber auch bei ihrer Mutter, das Gefühl der Entwurzelung. Ada weiß lange nicht, in welchem Land sie sich zu Hause fühlen soll, fühlt sich zudem als Kuckuckskind - ist ihr Vater gar nicht ihr biologischer Vater? Sala hingegen ist ruhelos, getrieben, muss aufbrechen. Geht sie wirklich zu einem letzten Abschied nach Buenas Aires, oder geht sie zu dem anderen Mann nach Paris? Darüber grübelt nicht nur Ada.

Erste seuxelle Erfahrungen ohne jeglicheAufklärung, festgefahrene Geschlechterverhältnisse und schließlich die Aufbruchsstimmung der 60-er Jahre prägen die zweite Hälfte des Romans. Das Rolling Stones-Konzert im Waldstadion, erste Drogenerfahrungen, ein Hauch von Revolution, und Ada ist mittendrin. Dass aber auch in den angeblich progressiven Wohngemeinschaften das Kloputzen Frauensache sein soll, will sie aber nicht einsehen. Der Tod von Benno Ohnesorg ist ein einschneidendes Erlebnis, in Paris erlebt Ada die Eleganz des Modeateliers ihrer Tante, die jüdische Welt des Marais, die dortige Revolte, doch letztlich bleibt sie eine Suchende, Aufbrechende.

Als Zeitgemälde ist "Ada" stimmig,. Bemerkenswert gut kann Berkel seine innere Frau aktivieren und mit Ada eine glaubwürdige Frauenfigur schaffen. Nur am Ende, beim Sprung von den 60-erm in die Gegenwart, verliert das Buch an Stringenz - die Entfremdung Adas und ihrer Familie, die sich einmal mehr in jahrelangem Schweigen ausdrückt, ist schwer nachvollziehbar, die Entwicklung der erwachsenen Frau zu schnell abgehakt, die Auslöser ihrer Lebenskrise bleiben offen - da fehlt die verbindende Klammer zwischen den 50-er und 60-er Jahren und der Zeit nach 1989, hier hätte ich gerne noch einige Lücken aus der Biografie von Ada gefüllt gesehen. Als Familien- und Gesellschaftspsychogramm der frühen Bundesrepublik zwischen Wirtschaftswunder, 68-erGeneration und dem großen Schweigen statt einer echten Vergangenheitsbewältigung spannend zu lesen

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Veröffentlicht am 11.10.2020

Schmelzende Eisberge und Klimakrise

Das Eis schmilzt
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Als Polarforscher hat Arved Fuchs im Laufe der Jahrzehnte Einblicke in die Auswirkungen der Erdregionen erhalten, zu denen die meisten Menschen niemals Zugang haben werden. Zwar ist das Foto des verhungernden ...

Als Polarforscher hat Arved Fuchs im Laufe der Jahrzehnte Einblicke in die Auswirkungen der Erdregionen erhalten, zu denen die meisten Menschen niemals Zugang haben werden. Zwar ist das Foto des verhungernden Eisbären auf einer abgebrochenen Eisscholle viral als Symbol für die Erwärmung der Polargebiete geworden - doch wenn Forschungsschiffe plötzlich problemlos Gebiete durchschiffen können, in denen noch wenige Jahre zuvor noch dichtes Packeis einen Wettlauf mit der Zeit zur Durchquerung der Passage machte, dann zeigt sich der Klimawandel mit einer noch ganz anderen Deutlichkeit als in den Extremwetterereignissen in unseren Breitengraden, den immer heißeren Sommern.

Mit seinem Buch "Das Eis schmilzt" hat Arved Fuchs seine Forderungen nach neuem Denken bei Klimaschutz und Wirtschaft in eine auch für Nicht-Wissenschaftler leicht verständliche Form gebracht, die auch Menschen ohne viel Hintergrundwissen nicht überfrachtet. Mit zahlreichen Bildern sowohl von seinen Forschungsreisen und den großartigen Natureindrücken wie auch von den schockierenden Eingriffen der Menschen - als Beispiel seien die teils giftigen Müllhalden ehemaliger amerikanischer Militärbasen auf Grönland genannt - beeindruckt das Buch auch optisch.

Dabei beschränkt sich Fuchs nicht auf die Entwicklung in den Polar- oder Permafrostregionen, sondern er schildert den globalen Zusammenhang der Klimakrise - die Rolle der Industriestaaten bei den Emissionen von Kohlendioxid oder bei der Überfischung der Meere, die Zerstörung der Lebensgrundlagen bei Menschen im gloalen Süden, die zu immer mehr Klimaflüchtlingen führen, die auch in Europa eine Perspektive suchen - nicht aus Abenteuerlust, sondern aus schierer Not. Und er kritisiert die Gleichgültigkeit angesichts des Sterbens im Mittelmeer, erinnert an die Aufmerksamkeit und Ressourcen, die etwa das in Seenot geratene norwegische Kreuzfahrtschiff "Viking Sky" im vergangenen Jahr erhielt. Aber da waren ja auch finanzstarke europäische Passagiere an Bord, die es zu retten galt.

Ob Plastik in den Meeren oder Energiekrise, Zaudern der Industriestaaten und die Forderungen der Fridays for Future-Bewegung, Artensterben und Nahrungsketten - Fuchs erinnert, dass es viele Zusammenhänge zu berücksichtigen gilt. Und er stellt aktuelle Zusammenhänge beim Glauben an die angebliche Beherrschbarkeit der Klimakrise her: "Die Coronakrise lehrt uns, dass wir nicht so unverwundbar und omnipotent sind, wie wir glauben". Oder: "Die Coronakrise wird irgendwann vorbei sein - der Klimawandel hingegen ist irreversibel."

In seinem Buch plädiert Fuchs für eine wirkliche Energiewende, nennt Beispiele und verweist auf best practice-Erfahrungen. Und vielleicht, so hofft er, könnte gerade die Coronakrise einen positiven Impuls liefern - nämlich, wenn die Konjunkturprogramme nach der Pandemie in Deutschland und Europa dazu dienen, der Wirtschaft eine Neuausrichtung zu ermöglichen und Zukunftstechnologien den benötigten Anschub zu geben.

Veröffentlicht am 10.10.2020

Vielseitiges kulinarisches Erbe - Kochen wie in Israel

Kochen wie in Israel
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Auch wenn beim Gedanken an die Restaurants von Tel Aviv sicherlich erst einmal Shakshuka, Hummus und Falafel auf der mentalen Speisekarte auftauchen - DIE israelische Küche ist schwet abzustecken angesichts ...

Auch wenn beim Gedanken an die Restaurants von Tel Aviv sicherlich erst einmal Shakshuka, Hummus und Falafel auf der mentalen Speisekarte auftauchen - DIE israelische Küche ist schwet abzustecken angesichts der Vielzahl kulinarischer Traditionen. Denn Israel liegt zwar am Mittelmeer und teilt so manche kulinarische Vorliebe mit den Nachbarn - Hummus und Falafel mögen eines der einigenden Elemente über alle Teilungen undFeindschaften des Nahost-Konflikts hinweg sein - aber 2000 Jahre jüdischen Lebens in der Diaspora haben ihre Spuren hinterlassen, auch wenn es um die überlieferten Rezepte geht.

Klar, die sephardische Tradition aus Nordafrika und der spanischen Halbinsel hat viele Gemeinsamkeiten mit der Mittelmeerküche und den Rezepten der Levante. Aber die aschkenasische Kochtraditon - Rugelach! Babka! Latkes! - ist geprägt vom Leben in Mittel- und Osteuropa, mit seinem anderen Klima, seinen anderen Lebensmitteln. Und auch wenn bei weitem nicht jeder Israeli koscher lebt und sich an die religiösen Speisege- und verbote hält, dürfte die Trennung von "milchig" und "fleischig" in der Kochtradition weiter eine gewisse Rolle spielen - und sei es nur mit vegetarischen Gerichten, die ja jenseits aller Religion voll im Trend liegen.

Mit "Kochen wie in Israel" hat die in Berlin lebende Israelin Stav Cohen einen Teil der Rezepte ihrer Oma aufgegriffen, stellt aber -zusammen mit Besuchtipps und mus-see-Orten in Israel die Trends der Food-Szene zwischen Tel Aviv und Jerusalem vor.

Gleich am Anfang kommt das, was für mich zum besten der Küche in der Region gehört, nämlich Mezze. Hummus darf da natürlich nicht fehlen, Gurke-Minze-Yoghurt, wie man ihn auch aus der türkisch-griechischen Küche kennt, Harissa wie aus Tunesien, Paprikacreme und Muhammara. All die leckern Dips und kleinen Salate eben, die sich mit einem Stück Pita-Brot (für das es ebenfalls ein Rezept gibt) so gut stippen lassen.

Und auch bei den Hauptgerichten muss Hummus nicht fehlen - etwa warmer Hummus mit Lamm. Dass es nicht immer nur Taboule sein muss, beweisen der Thunfisch mit Quinoa-Salat oder der Röst-Couscous mit Garnelen. Und auch die vegetarischen Gerichte können sich sehen lassen, das satt machende Soul Food Mejadra oder die Latkes-Variante mit Petersilienwurzel - es muss eben nicht immer (nur) Kartoffel sein. Auch der Ofenkürbis mit Koriandersoße als herbstliche Bereicherung des Küchenplans klingt vielversprechend..

Abgerundet wird "Kochen wie in Israel" mit Desserts, bei denen mich vor allem die Mohn-Babka lockt. Das klingt doch wie von einer Galitzyaner oder Litvak-Bubbe übernommen und erinnert mich an ähnlich liebevoll gehütete polnische Familienrezept.

Veröffentlicht am 10.10.2020

Das Geschäft mit Waisen und "weißen Rettern"

Das Gegenteil von Gut... ist gut gemeint
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Acht Monate arbeitete Daniel Rössler für eine österreichische Hilfsorganisation als Projektmanager in einer ländlichen Region im Norden Ghanas. Eine seiner Aufgaben: Die Abwicklung eines Waisenhauses. ...

Acht Monate arbeitete Daniel Rössler für eine österreichische Hilfsorganisation als Projektmanager in einer ländlichen Region im Norden Ghanas. Eine seiner Aufgaben: Die Abwicklung eines Waisenhauses. Klingt vielleicht erst einmal hart, doch Rössler fand heraus: Bei den Kindern, die in dem Heim untergebracht waren, handelte es sich gar nicht um Waisenkinder. Sie hatten mindestens einen Elternteil. Und das Waisenhaus in seiner Projektregion, so hörte er damals, sei nicht das einzige dieser Art. Zwei Jahre nach seinem Projekteinsatz war Rössler wieder in Ghana - diesmal, um zu recherchieren, was es mit der implodierenden Zahl von Waisenhäusern in dem westafrikanischen Land auf sich habe.Das Ergebnis ist sein Buch "Das Gegenteil von gut....", das zwar schon vor einigen Jahren veröffentlicht wurde, aber - das zeigt ein Blick in einschlägige soziale Medien - weiterhin höchst aktuell ist.

In dem Buch geht es um das Geschäft mit der Armut um "weiße Retter" und Voluntourism, die Verbindung von ein bißchen Abenteuerurlaub mit einem Freiwilligeneinsatz - sehr beliebt bei jungen Menschen aus meist gutsituierten Verhältnissen, denn billig ist ein solcher Einsatz nicht - die Vermittlungsorganisationen lassen sich da ordentlich was zahlen. Bei manchen ist (nur) Idealismus im Spiel, bei anderen auch das Wissen, dass sich soziales Engagement und internationake Erfahrung gut im Lebenslauf machen. Und was lässt sich bei den Freunden in der Heimat, auf Instagramm und anderen sozialen Medien besser "verkaufen" als lachende und "dankbare" Waisenkinder?

Gerade die Arbeit mit Waisen ist bei den jungen Freiwilligen beliebt - dabei ist es nicht nur in Ghana so, dass traditionell Kinder ohne Eltern von Angehörigen ihrer Großfamilie aufgenommen werden. In den meisten afrikanischen Ländern waren sie unbekannt abgesehen von Situationen, in denen durch Krieg oder Bürgerkrieg, durch Hungerkatastrophen und ähnlichen Situatione, die die Familien- und Gesellschaftsstrukturen in hohem Maß zerstörten.. Bis die Touristen auf Wohltätigkeittour kamen, die Freiwilligen und die Menschen auf der Suche nach einem afrikanischen Adoptivkind - Madonna lässt grüßen.

Ghana ist kein Eintelfall. Auch an der kenianischen Küste - und auch nur dort, im Touristengebiet - findet man etwa Straßenschilder, die auf Waisenhäuser hinweisen. Und in vielen Facebook-Gruppen und Internetforen fragen Erstbesucher nach Adressen für den Besuch eines Waisenhauses und was man denn so an Geschenken mitbringen sollte.

Gut gemeint, sicher. Aber wie das Sprichwort sagt: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Denn anders als Fachkräfte, die bei seriösen Hilfsorganisationen in Projekten arbeiten und Positionen füllen, für die es (noch) nicht genügend einheimische Experten gibt, handelt es sich bei vielen der Freiwilligen um junge Leute, die gerade mit der Schule fertig sind, allenfalls Studenten. Die in ihrem Gap Year etwas erleben wollen. Von Voluntourism ist mittlerweile die Rede. Und die Organisationen, die so einen Aufenthalt etwa in Waisenhäusern organisieren, vermitteln auch ein- oder zweiwöchige Aufenthalte. Dass das nicht nachhaltig und gut für die Kinder sein kann, sollte eigentlich jedem pädagogischen Laien klar sein - zumal die Freiwilligen ja Kontakt zu den Kindern haben sollen/wollen, nicht etwa für Putz- und Küchenarbeiten ihren Einsatz "buchen".

"Unqualifizierte weiße Jugendliche mit der Fürsorge verletzbarer afrikanischer Kleinkinder zu betrauen, ist weder lokal gewollt noch pädagogisch legitim oder entwicklungspolitisch relevant. Es ist sogar das Gegenteil davon. ", schreibt Rössler. "Diese "Hilfe" schadet mehr als sie nützt, setzt eine gehörige Portion Überheblichkeit der "Helfer" voraus und orientiert sich in erster Linie und viel mehr an ihren Bedürfnissen als an jenen der Menschen vor Ort - und hat damit nichts mit seriöser Freiwilligenarbeit gemein" Wenn die Helfer glaubten, sie könnten vor Ort wirklich etwas bewirken - unqualifiziert, ohne sprachliche oder kulturelle Kompetenz, und das besser als Einheimische - dann offenbare sich hier eine "falsche Selbsteinschätzung und ein bedenkliches Maß an Überheblichkeit."

Denn für die Freiwilligeneinsätze gelte ja: "Ein wenig Spaß machen müsste es, es sollte schöne Bilder ermöglichen und im Idealfall auch für den Lebenslauf was hermachen. Die Arbeit im nächstgelegenen Altersheim oder in der städtischen Behindertenwerkstatt eignet sich hierzu nicht besonders gut ... während diese Tätigkeiten hauptberuflichen, meist schlecht bezahlten Fachkräften überlassen bleiben, zieht es die jungen Helfer bevorzugt in exotische Gefilde."

Das Ziel der seriösen Helfer ist letztendlich, überflüssig zu werden, die Verantwortung an Menschen vor Ort weiter zu geben und sich zurückziehen zu können. Bei den Waisenhäusern in Ghana, so recherchierte Rössler, sei es ganz anders - die würden immer mehr. Angebot und Nachfrage eben, und wo es keine Waisen gibt, müssen welche "gemacht" werden. Nicht nur in seinem Projektgebiet wurden Kinder in einem Waisenhaus untergebracht, die Eltern hatten. Eltern, die von den Betreibern überredet wurden, dass es das Beste für die Kleinen sei - dass sie drei Mahlzeiten am Tag erhielten, Kleiderspenden und Geschenke, die die Helfer oder Besucher mitbrächten.

Zunächst seien die Kinder immer wieder in ihre Familien zurückgekehrt, wenn die Freiwilligen abgereist waren - doch mehr Freiwillige, rund ums Jahr, das hieß mehr Geld für den Direktor, den Vermittler, die Organisation. Plötzlich wurde das Waisenhaus trotz eigener Familie die Normalität der Kinder.

Rössler sprach mit ghanaischen Sozialpolitikerinnen und Pädagoginnen, die darauf verwiesen, dass der ständige Abbruch von Beziehungen durch die rotierende Helferschar den Kindern und ihrer Entwicklung schadeten. Und er erkannte den Schaden auch in der Dorfgesellschaft - denn die "Waisen" wurden ihrer eigenen community entfremdet, als "white kids" gehänselt, die vielleicht Turnschuhe oder ein Handy besäßen, aber nicht mehr auf dem Feld oder mit dem Vieh arbeiten könnten oder wollten. Spätestens wenn sie mit 18 Jahren das Waisenhaus verließen, rächte sich das bitter. Denn zukunftsfähig seien diese jungen Leute dann nicht mehr in den Augen ihrer Gemeinschaft.

Das "weiße Helfer Syndrom" ist in den vergangenen Jahren zunehmend kritisiert worden, nicht zuletzt durch die "Geholfenen" Rössler stellt auch einen Zusammenhang zu kolonialem Blick auf Afrika her: "Im Business um hilfsbedürftige Schwarze und hilfeleistende Weiße spiegeln sich Zuschreibungs- und Handlungslogiken wider, die im Zuge jahrhundertelanger europäischer Vorherrschaft am afrikanischen Kontinent hervorgebracht, systematisch aufrechterhalten und global verbreitet wurden, und die von findigen Personen mit Geschäftssinn genutzt und kommerzialisiert werden."
Abgesehen von der manchmal etwas blumigen Sprache und den Stellen des Buches, in denen er sich nicht auf Fakten konzentriert sondern Ereignisse fiktionalisiert, hat Rössler meiner Meinung nach ein wichtiges Buch geschrieben - auch mit Blick auf die letztlich ausgenutzten Helfer, die es ja oft nur gut meinten.

Doch findet er damit auch Gehör? Ich fürchte, nur bei denjenigen, die seine Haltung teilen. Das Internet ist nach wie vor voll mit denjenigen, die voller Stolz das präsentieren, das eine andere Kritikerin als "MONGOS" bezeichnete (My own NGO), mit Bildern und stolzen Berichten ihrer Geschenkübergabe, mit Bildern und Verweis auf die ach so dankbaren armen Menschen, denen sie zu einem besseren Leben zu verhelfen meinen - und die dabei nur allzu oft von dem ausgehen, was sie für richtig und nötig halten.

Veröffentlicht am 08.10.2020

Suche nach den Wurzeln

Das weite Herz des Landes
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Eins mit der Natur und trotzdem unvertraut mit den eigenen Wurzeln - das ist für Franklin Starlight, den Protagonisten von Richard Wagameses Roman "Das weite Herz des Landes" kein Widerspruch. Denn der ...

Eins mit der Natur und trotzdem unvertraut mit den eigenen Wurzeln - das ist für Franklin Starlight, den Protagonisten von Richard Wagameses Roman "Das weite Herz des Landes" kein Widerspruch. Denn der 16-jährige Ich-Erzähler, der bei einem Ziehvater auf einer entlegenen Farm aufwächst und schon als Kind selbständig jagte, tagelang allein in der Wildnis unterwegs war, weiß kaum etwas über seine Familie. Seine Mutter kennt er überhaupt nicht, seinen alkoholkranken Vater hat er nur selten gesehen und dann nicht in bester Erinnerung erhalten. Doch nun bittet der ihn um einen buchstäblich letzten Wunsch: Zum Sterben will er in die Berge, ein Tal überblicken und dann im Sitzen mit dem Gesicht nach Osten begraben werden, so wie einst die Krieger seines Volkes, von denen er eigentlich nichts weiß.

Auch Richard Wagamese fand laut Klappentext erst als Erwachsener zu seinen indigenen kulturellen Wurzeln. Die Starlights sind "McJibs" - Nachkommen von Ojibwe-Indianern und Schotten, und als einziges nicht-weisses Kind in der Klasse hat Franklin oft die Frage umgetrieben, was er eigentlich sei. Sein Ziehvater, fast durchgehend im Buch nur "der Alte" genannt, ist weiß, hat aber sein Bestes getan, ihm "Indianersachen" nahe zu bringen, allen voran das Eins sein mit der Natur, den Respekt vor ihr, vor den gejagten Tieren, die man zwar tötet, bei denen man sich aber auch bedankt. Der Alte ist kein Mann vieler Worte, eher so ein knorriger Rancher, wie man sie auch aus klassischen Western kennt.

Wagameses ruhige Erzählweise lässt den Leser eintauchen in die kanadischen Wälder, in die Begegnung mit einem Grizzly, die Jagd, die Weite der Landschaft und der Menschen, die mit, nicht gegen die Natur leben. Die Vater-Sohn-Geschichte ist zugleich eine Coming of Age-Erzählung, wobei Franklin reifer wirkt als mancher doppelt so alte Mann. Die Tage mit dem unsentimental beschriebenen Vater, der immer weiter abbaut, sind buchstäblich die letzte Gelegenheit für beide, eine Vergangenheit aufzuarbeiten, von der Franklin nichts weiß. Das letzte Kapitel im Leben des Einen wird so auch zu einem neuen für den Anderen.

Manchmal ist Wagamese so lakonisch wie der "Alte", mal sind seine Beschreibungen von spröder Poesie. Die Enwurzelungvon Franklins Vater Elrond, der in einer schmutzigen Fabrikstadt Gelegenheitsarbeiten nachgeht, steht im starken Kontrast zu dem naturverbundenen Leben auf der Farm. Doch über ihr kulturelles Erbe müssen Vater und Sohn gleichermaßen rätseln. Auch wenn die Geschichte der "first nations" nicht die Hauptrolle spielt, ist der Verlust dieser Identität unter den Nachfahren der indianischen Ureinwohner ein roter Faden, der sich durch das Buch zieht. Anders als etwa in W.P. Kinsellas "Dance me outside"-Kurzgeschichten geht es hier nicht um das oft depremierende, von Alkohol- und Drogenmissbrauch und hohen Selbstmordraten geprägte Leben in den Reservationen, sondern um die entfremdet jenseits alter Gemeinschaften aufgewachsenen indigenen Menschen.

Fern von jeglicher Indianerromantik und Naturkitsch ist "Das weite Herz des Landes" unsentimental, aber nicht ohne Optimismus. Der Ausspruch "In der Stille liegt die Kraft" hat für dieses Buch und seinen jungen Protagonisten allemal Gültigkeit.

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